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Kafka und Lettland
Kafka zwischen dem Musée d‘Orsay und der „livländischen Büste“ am Dom zu Riga

Nepiesārņojiet ūdeni!
"Nepiesārņojiet ūdeni!" von Andris Breže | © Andris Breže

Welche Verbindung besteht zwischen Kafka, der Veranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum Lettlands im Musée d‘Orsay und der „livländischen Büste“ am Dom zu Riga? Wo sind die Spuren des Einflusses Kafkas in Lettland zu suchen?

Von Jānis Taurens

Als beachtliche Veranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum Lettlands wurde 2018 im Musée d‘Orsay in Paris die Kunstausstellung der drei Baltischen Staaten Nepieradinātās dvēseles. Simbolisms Baltijas valstīs („Ungezähmte Seelen. Symbolik in den Baltischen Staaten“) eröffnet. Was könnte dieses Ereignis mit dem Beispiel der Bauplastik aus dem 13. Jahrhundert, der sogenannten „livländischen Büste“ (genauer, dem „Kapitell des Baumeisters“) gemeinsam haben? Und wie steht all dies in Verbindung zu dem deutsch schreibenden, jüdischen Prager Franz Kafka und seinem möglichen Einfluss in der lettischen Kultur?

Es gibt eine Verbindung, doch diese ist nicht leicht zu finden. Die Veranstalter der Symbolik-Ausstellung haben wahrscheinlich nicht an die Geschichte des Musée d‘Orsay zurückgedacht – der Gare d‘Orsay wurde als Bahnhof gebaut und vor dem Umbau zum Museum wurde sein weiter Saal zum Ort der Dreharbeiten für einige Szenen aus Orson Welles‘ Kinofilm „Der Prozeß“ (The Trial, 1962). In dieser Verfilmung von Kafkas Roman ist, wie auch in Michael Hanekes „Das Schloß“ (1997), die visuelle Entsprechung zur Hauptgestalt in Kafkas Prosa zu erkennen, über die Walter Benjamin schrieb: „Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen. Unter den Gebärden Kafkascher Erzählungen begegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt.“ Benjamin weist ebenfalls auf die Entsprechung zu dieser Gestalt hin – das an mittelalterlichen Kirchen anzutreffende Kapitell, von dem die „livländische Büste“ am Dom zu Riga ein leuchtendes Beispiel ist. Benjamins Interpretation von Kafka wurde wiederum in der Vorlesung untersucht, die ich 2013 im Kino „K Suns“ im Rahmen des Zyklus Kino un arhitektūra („Kino und Architektur“) hielt, sowie in der darauf folgenden Publikation Prolegomeni kādam ceļojumam: Benjamina un Kafkas arhitektūras žests („Prolegomena zu einer Reise: Die Architekturgeste Benjamins und Kafkas“, 2014) im Online-Magazin „Punctum“.

Die Spuren des Einflusses Kafkas in Lettland

Diese kurze Erzählung, welche die Kunstausstellung 2018 in Paris, das mittelalterliche Kapitell in Riga und den Prager Schriftsteller vom Anfang des 20. Jahrhunderts verbindet, ist wie ein Paradigma für das Thema dieses Essays – in der lettischen Kultur können wir nur einige schwer zu klassifizierende Spuren des Einflusses Kafkas finden. Es besteht auch ein rein methodologisches Problem, denn die Werke Kafkas, die leuchtendsten Beispiele der Literatur des Modernismus, wurden für die lettischen Leser erst kurz vor (und größtenteils nach) der Wiedererlangung der Unabhängigkeit zugänglich und somit bereits in einer anderen Epoche – der Postmoderne.

Eigentlich ist die Geschichte etwas komplizierter. Im umfassendsten Geschichtsbuch seiner Zeit, der dreitausendseitigen Pasaules rakstniecības vēsture („Geschichte der Weltliteratur“) von Rūdolfs Egle und Andrejs Upītis, die zwischen 1930 und 1934 erschien, also im Jahrzehnt nach Kafkas Tod, ist dieser nur beiläufig erwähnt: „... wählt am liebsten fürchterliche Handlungen und komplizierte psychologische Probleme, die er in relativ ruhiger und sachlicher Form darstellt.“ Doch wollen wir den Verfassern die Nichtwertschätzung Kafkas nicht vorwerfen, denn auch in Frankreich lachten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre zu Beginn der 30er Jahre über diesen komisch klingenden Nachnamen, den sie zum ersten Mal hörten, als sie in einer Zeitung lasen, dass die drei bedeutendsten Romanautoren des Jahrhunderts Proust, Joice und Kafka seien (s. Beauvoirs Erinnerungen in La Force de l’âge, 1960).

Die ersten Übersetzungen

Die ersten Übersetzungen Kafkas in lettischer Sprache erschienen in der Zeitschrift „Avots“ – 1987 zunächst „In der Strafkolonie“, 1990 dann der Roman „Der Process“ mit einer kurzen Reflexion von Guntis Berelis Lasīšanas procesa – “Procesa” lasīšanas – piezīmes („Bemerkungen zum Leseprozess – dem „Process“-Lesen“). In Buchform erschien zuerst „Der Process“ (1999 und 2006), dann „Das Schloss“ (2001 und 2007), zwei Sammlungen kleinerer Werke mit dem gleichen Titel Stāsti („Erzählungen“, bei „Atēna“ 2001 und „Jumava“ 2005 und 2016) sowie ein kleines Büchlein mit dem Titel Aforismi („Aphorismen“, 2007). Den ersten Publikationen folgte auch die Übersetzung von Ritchie Robertsons Werk „Kafka“ aus der englischsprachigen Reihe Very Short Introductions (2008).

Nach der Veröffentlichung des „Process“ schrieb Guntis Berelis in der Zeitung „Diena“: „... man müsste eigentlich Genugtuung verspüren: endlich ist Kafka auch in die lettische Literatur eingezogen. Doch einen überkommt ein Unbehagen oder schwer zu formulierendes, absurdes Gefühl – als sei man jemandem etwas schuldig, fühle sich für diese Schuld aber nicht verantwortlich.“ Natürlich kann einem Kafkas Erscheinen 1990 verspätet vorkommen, doch in Wirklichkeit war Kafka zumindest einer bestimmten intellektuellen Schicht schon zu Zeiten der sowjetischen Besetzung bekannt, denn bereits 1964 erschienen die ersten Übersetzungen in russischer Sprache in der Zeitschrift Иностранная литература („Ausländische Literatur“), denen im nächsten Jahr Ausgaben des „Process“ und einer Auswahl an Erzählungen folgten. Nach den Ereignissen von 1968 und den sowjetischen Panzern in den Straßen von Prag, als Kafka „geistiger Vater des Prager Frühlings“ genannt wurde, wurde erst 1988 der nächste Roman von Kafka auf Russisch veröffentlicht. (Doch 2012 erschien in Moskau ein über 500 Seiten umfassendes Buch mit dem Titel „Franz Kafka in der russischen Kultur“.)

Auf der Suche nach Ähnlichkeiten

1989 konnte man in der Zeitschrift „Avots“ Aivars Tarvids‘ Roman Robežpākāpēji („Grenzüberschreiter“) zu lesen beginnen, dessen Titel zur Bezeichnung der Künstlergeneration der 80er Jahre wurde (die Titelseite der Zeitschrift wurde von namhaften Künstlern wie Andris Breže, Kristaps Ģelzis, Sarmīte Māliņa, Ojārs Pētersons gestaltet); im weiteren Sinne der Generation, die den Kulturwandel in der zweiten Hälfte der 80er Jahre hervorrief. In der lettischen Literatur dieser Zeit, die sich von den aufgezwungenen Einschränkungen der sowjetischen Ideologie befreit hatte, kann man einige direkte und indirekte Bezüge auf Kafka finden. Doch diese sind nur formell, obwohl, wie Berelis über Lauris Gundars‘ ersten Roman Pēdas stikla kalnā („Spuren auf dem Glasberg“, 1994) verallgemeinernd schreibt: „Wenn du einen Hang zum Absurden hast, kommst du auch wollend nicht um die Erwähnung Kafkas Schattens herum – und sei es nur aus Höflichkeit – denn schließlich ist es Kafka, der diese Poetik aus der Peripherie der Kultur in deren Zentrum gerückt hat.“ (Diese Charakterisierung kann man auch auf Berelis‘ eigene Erzählungen in der Sammlung Mitomānija („Mythomanie“), 1989, beziehen.)

Ähnlich kann man auch in Werken des 21. Jahrhunderts eine formelle Ähnlichkeit entdecken, z.B. in Gundars Ignats‘ Erzählung Smēķētāji mirst jauni („Raucher sterben jung“, in der Sammlung Bez jakas („Ohne Jacke“), 2009), in der er „einen undeutlichen Bezug auf Kafka anbietet, indem er einen Freund als Käfer sterben lässt“ (Ilva Skulte), oder in seinem ersten Roman Pārbaudes laiks („Probezeit“, 2013), bei dessen Lesen „einem Franz Kafkas beängstigendes „System“ in den Sinn kommt“ (Ieva Kolmane). Eine ernsthaftere Ähnlichkeit in der Denkweise mit Margarita Perveņeckas Werken, der Erzählsammlung Visi koki aizgājuši („Alle Bäume sind fortgegangen“, 2006) und dem Roman Gaetāno Krematoss, (2011) erwähnte die Schriftstellerin Inga Gaile in einem Gespräch.

Heutige Formen des Kafkaschen Modernismus

Die Bezeichnung „Denkweise“ ist nicht leicht zu verifizieren; da ist es einfacher zu erwähnen, dass 2018 Kafkas „Process“ in der Adaption und unter der Regie von Mārcis Lācis im Theater Jaunais Rīgas teātris uraufgeführt wurde und Dž. Dž. Džilindžers das Stück „Amerika oder Der Verschollene“ (2015) nach Kafkas Motiven im Theater Dailes teātris produzierte. Doch keines dieser Stücke trägt etwas zu Kafkas Interpretationen bei, während die Frage nach der „Denkweise“ oder danach, wie aktuelle gesellschaftliche Probleme in die Formen des Kafkaschen Modernismus einwandern, wie es Adorno ausdrücken würde, einen Verzicht auf das postmoderne Spiel mit Bezügen und Zitaten enthält, in dem Kafka nur Text zwischen unzähligen anderen Texten wäre.

Die Postmoderne ist zu Ende, und es ist möglich (vielleicht gar nötig?) Kafka von neuem zu lesen – und zwar nicht als mögliche Bezugsquelle oder Spielelement, sondern als Interpretationsbrille, mit der man die heutige Kultur, einschließlich der visuellen, betrachtet. Das Erscheinen der ersten Übersetzungen Kafkas in der Zeitschrift „Avots“ verbindet ihn mit der Generation der „Grenzüberschreiter“ – und wenn man sich das dem Umweltschutz gewidmete Plakat mit dem Skelett einer Meerjungfrau von Andris Breže ansieht (Nepiesārņojiet ūdeni! („Verschmutzt das Wasser nicht!“), 1987), das Ende 2018 in der Ausstellung der lettischen Design-Geschichte Tieši laikā („Genau rechtzeitig“) im Museum für dekorative Kunst und Design ausgestellt wurde, so kann man dies sicherlich als „kafkanisches“ Werk bezeichnen. Ähnlich kann man z.B. auch die absurden und an ein Krankenhaus erinnernden Installationsfragmente in der Personale Kad šo lasīsiet, nekas īpašs nebūs noticis („Wenn Sie dies lesen, wird nichts Besonderes geschehen sein“) von Armands Zelčs, die noch im Januar 2019 im Zentrum zeitgenössischer Kunst „kim?“ zu sehen waren, mit Kafka verbinden. Ist vielleicht ein solches oder ähnliches „Aufspüren“ Kafkascher Themen in der Kultur ein Symptom für die Veränderung des Gedankenparadigmas, die es uns erlaubt, die Verbindung zwischen künstlerischer Tätigkeit und einer kritischen Einstellung gegenüber der sozialen Wirklichkeit wieder zu aktualisieren?
 

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