Welterbe-Konzept dekolonisieren
Die Erzählhoheit zurückgewinnen

Latitude – Tänzer*innen zeigen den Gèlèdé masquerada auf dem Lagos Black Heritage Festival im Jahr 2012.
Tänzer*innen zeigen den Gèlèdé masquerada auf dem Lagos Black Heritage Festival im Jahr 2012. | Foto (Detail): Akintunde Akinleye © picture alliance / REUTERS

Werden afrikanische Kulturen durch westliche Konzepte zur Erhaltung von immateriellem Kulturerbe gefördert oder verzerrt? Adebayo Adeniyi spricht sich für mehr Sensibilität und sprachliche Emanzipation aus.

Von Adebayo Moyosore Adeniyi

Immaterielles Kulturerbe bezieht sich auf Bräuche, Praktiken, Fertigkeiten und Kenntnisse, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden und mündliche Traditionen, darstellende Künste, soziales Handeln und Rituale umfassen können. Immaterielles Kulturerbe zu erhalten, sichert die Kontinuität kultureller Praktiken, die für Kulturträger*innen von unschätzbarem Wert sind. Das UNESCO‑Abkommen von 2003 bietet eine Plattform zur Förderung dieser Praktiken, unter anderem, um gute Beziehungen zwischen Nationen zu begünstigen, die nach Maßgabe dieser Konvention als Vertrags- oder Mitgliedsstaaten bezeichnet werden. Einfach gesagt, werden Praktiken, die florieren und Kontinuität oder mehr Anerkennung benötigen, nach ihrer Nominierung und Anerkennung in die Repräsentative Liste für das nominierende Land aufgenommen, während diejenigen, die als gefährdet gelten, in die Liste des dringend erhaltungsbedürftigen Kulturerbes eingetragen werden.

Gemäß der in der Konvention festgelegten Regeln müssen die Nominierungsformulare der UNESCO von den nominierenden Ländern auf Französisch oder Englisch vorgelegt werden. Meines Erachtens weist diese Anforderung im Hinblick auf die Erhaltung von Kulturerbe koloniale Untertöne auf, da sie ein gewisses Maß an Privilegierung, Prominenz und allgemeiner Akzeptanz dieser ausgewählten Sprachen im Vergleich zu anderen unterstellt. Derselbe Grad an Sprachprivilegierung findet sich in den Videodateien für die ersten beiden Eintragungen Nigerias in die Repräsentative Liste des UNESCO‑Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes von 2003.

Krise des Bewusstseins

Die mündliche Erzählung in den YouTube‑Videodateien (UNESCO, 2009), die der Eintragung von Nigerias Kulturformen „Mündliches Erbe von Gèlèdé“ und „Ifá‑Wahrsagesysteme“ beigefügt sind, stammt nicht von einer indigenen Person. Während die Ifá‑Wahrsagesysteme in Nigerias Repräsentative Liste der UNESCO‑Liste mit immateriellem Kulturerbe aufgenommen wurden, handelt es sich beim mündlichen Erbe von Gèlèdé um einen gemeinsamen Beitrag von Nigeria, Togo und der Republik Benin, da dieselbe Praktik in allen drei Ländern existiert.

Nigeria ist ein Land, das reich an mündlichen Traditionen ist, und so empfinde ich es als Ironie, dass für das Voiceover einer aus Nigeria stammenden Praktik jemand aus dem Ausland herangezogen wurde. Gibt es keine qualifizierten Nigerianer*innen, insbesondere Kulturträger*innen aus den Gemeinschaften, aus denen diese Praktiken stammen, die sowohl des Englischen als auch des Yoruba ausreichend mächtig sind, um ein Voiceover aufzunehmen? Die Anforderung, dass die für die Nominierung einzureichenden Texte auf Englisch oder Französisch sein müssen, ist für die Sprachemanzipation ein Schlag ins Gesicht, auch wenn sich durchaus gute Argumente für die Zweckmäßigkeit dieser Entscheidung anführen lassen – nämlich dass die UNESCO womöglich nicht über die Kapazitäten verfügt, um mit Hunderten verschiedener Sprachen aus den nominierenden Ländern umzugehen. Der Großteil des oben erwähnten YouTube‑Videos liegt auf Englisch vor, aber der Sprecher hatte auch bestimmte Yoruba‑Wörter einzufügen, und diese Schlüsselbegriffe wurden in der Tonalität der Yoruba‑Sprache und der Yoruba sprechenden Gemeinschaft nicht ausreichend artikuliert. Wie Chanta‑Martin erklärt, ist „Yoruba, wie viele andere ethnische Sprachen in Afrika und Asien, durch mehrere Tonhöhen und monosyllabische Wörter charakterisiert. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Wort, je nachdem, wie es intoniert wird, unterschiedliche Bedeutungen haben kann.“

Ein Beispiel:

igbá     Kalebasse
ìgbà     Zeit
igba     200
 
Zur weiteren Untermauerung von Chanta‑Martins Aussage möchte ich eine Auswahl an Wörtern hervorheben, die vom Sprecher beider Eintragungen vorgetragen werden. Dessen Aussprache von Wörtern wie „Ifá, Babaláwo, Òrúnmìlà, Odù, Gèlèdé, Ìyà‑nlà“ ist schlicht inkorrekt. Zum besseren Verständnis von nichtmuttersprachlichen Yoruba‑Forscher*innen oder -Leser*innen können die musikalischen Intonationen des Yoruba mithilfe der aus der europäischen Musik stammenden tonalen Solmisation (do, re, mi, fa, so, la, ti, do) erklärt werden, wobei wir uns auf lediglich die ersten drei konzentrieren können (d-r-m/do-re-mi). In Yoruba werden diese auf Vokallauten unterschiedlich symbolisiert, und zwar sowohl für Groß- als auch für Kleinbuchstaben.

d wird symbolisiert als \ [à è ì ò ù]

r hat kein Symbol [a e i o u]

m wird als Gegenstück von d symbolisiert / [á é í ó ú]

Um nichtmuttersprachlichen Leser*innen das Verständnis zu erleichtern, können wir uns unter weiterem Bezug auf Chanta‑Martins Beispiel zusätzliche Beispiele ansehen:  

i-gbá [r-m]      Kalebasse        ì-gbà [d-d]       Zeit                  i-gba [r-r]        200

Die vom Sprecher unzureichend intonierten und inkorrekt ausgesprochenen Wörter sind:

 I-fá     [r-m]               Ba-ba-lá-wo    [r-r-m-r]                     Ò-rún-mì-là    [d-m-d-d]

O-dù   [r-d]                Gè-lè-dé          [d-d-m]                      Ì-yà-nlà          [d-m-m]

Die Betonung auf dem Vokal ist für Muttersprachler*innen äußert wichtig, denn wenn das Wort ifá [r-m] falsch ausgesprochen wird, kann es wie ìfà [d-d] klingen und das auch bedeuten. Die Veränderung der Betonung wirkt sich auf Aussprache und Bedeutung aus, und in diesem Fall ändert sich die Bedeutung von „Wahrsagesystem“ in „glücklicher Zufall“ oder „Glück“. Die Schreibung ist dieselbe, aber die Betonung der Vokale ist anders, und das verändert die Bedeutung. Europäischen, amerikanischen oder anderen nichtmuttersprachlichen Leser*innen mag die Komplexität von Akzenten und Intonation nicht so wichtig erscheinen, aber für afrikanische Kulturträger*innen bedeutet sie einen großen Unterschied. Es ist wichtig, dass Wörter, die kulturelle Praktiken beschreiben, aus dem Blickwinkel der Kulturträger*innen korrekt ausgesprochen werden.
  • Latitude – Angehörige der Yoruba-Religion tragen traditionelle Schwerter. © picture alliance / REUTERS | Akintunde Akinleye

    Angehörige der Yoruba-Religion tragen traditionelle Schwerter, mit denen sie glauben, das Böse abwehren zu können. Aufgenommen während einer Prozession, die im Rahmen eines Festivals zur Feier der Flussgöttin Osun in Osogbo, Südwestnigeria, am 22. August 2014 abgehalten wurde.

  • Latitude – Die Arugba tragen während des jährlichen Festivals zu Ehren der Flussgöttin Osun symbolische Statuen der Göttin, Osogbo, Südwestnigeria, 2020 © picture alliance / NurPhoto | Olukayode Jaiyeola

    Die Arugba tragen während des jährlichen Festivals zu Ehren von Osun symbolische Statuen von ihr in Osogbo, Südwestnigeria, am 14. August 2020. Das jährliche Kulturfestival rund um den heiligen Hain, der seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, zieht Zehntausende von ethnischen Yoruba-Nigerianer*innen und andere an, um die bestehende Verbindung zwischen den Menschen und der Flussgöttin hervorzuheben, von der angenommen wird, dass sie göttliche Gunst und Fruchtbarkeit bringt.

  • Latitude – Helmmaske der Yoruba, Nigeria © picture alliance / akg-images | akg-images

    Afrikanische Helmmaske der Gelede, Yoruba, Nigeria, Holz, Höhe 46 Zentimeter, Sammlung Barbier Mueller Genf

  • Latitude – Ein Brett des Ifá-Wahrsagekults der Yoruba, Nigeria © picture alliance / Heritage Images | Werner Forman Archive

    Ein Brett des Ifá-Wahrsagekults der Yoruba, Nigeria

  • Latitude – Eine geschnitzte Elfenbeinschale aus Nigeria © picture alliance / Heritage Images | Werner Forman Archive

    Eine geschnitzte Elfenbeinschale aus Nigeria, hergestellt von einem Handwerker aus Owo, einem Yoruba Stadtstaat, der zwischen Ife und Benin liegt. Die Kunst zeigt Verbindungen zu diesen beiden Kulturen.

Bewusstsein der Krise

Abgesehen von dem vorhersehbaren Argument der kolonialen Ignoranz, Bewusstseinskrise und missbräuchlichen Aneignung, die die eine Seite der Medaille darstellen, ist es insbesondere in diesem Kontext wichtig zu wissen, dass die andere Seite dieses Arguments die koloniale Haltung afrikanischer Nationen wie Nigeria ist. Afrikanische Staaten sollten sich ebenfalls „der Krise bewusst sein“, ihre Köpfe dekolonisieren und ihre eigenen sprachlichen Rechte verfechten. Wenn jemandem die ethnischen Komplexitäten in Nigeria – oder, was das betrifft, einem beliebigen anderen Land – bewusst sein sollten, dann doch wohl dem Land selbst. Beschreibungen einer Kultur sollten von denjenigen gesprochen werden, die zu dieser Kultur gehören. In den oben genannten Beispielen hätte sich die fehlerhafte Aussprache dieser Wörter vermeiden lassen, wenn die mündliche Erzählung von einer kulturtragenden Person mit Yoruba‑Hintergrund übernommen worden wäre. Diese der Erhaltung von Kulturerbe zugeordneten Herausforderungen lassen sich mit folgendem Zitat zusammenfassen:

„Das Konzept von Kulturerbe, das heute von Organisationen gefördert wird, die von Regierungsstellen über Museen bis hin zu Kulturtourismus‑Organisationen mit der ‚Kulturerbe‑Industrie’ zu tun haben, wurde im Rahmen des westlichen Konsumkapitalismus konstruiert, bei dem ‚Kultur‘ ein Teil der Wirtschaft ist. Kulturerbe wird verpackt, mit einem Preisschild versehen und der Öffentlichkeit verkauft, darunter auch den Erb*innen selbst.“ (Gore und Grau)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version des Originalartikels, die speziell für Latitude erstellt wurde. Den vollständigen Artikel finden Sie hier.


Zitierte Werke:

- Chanta-Martin, N.: „Dance Perspectives on Drum Language: A Yoruba Example“, in: Acta Ethnographica Hungarica, 2015, Seiten 10–11
 
- Gore, G. und Grau, A.: „Dance, cultural heritage, and the training of future heritage “managers”: Anthropological refections“, in: Stranden M. & Fiskvik A. M. (Herausgebende), (Re) Searching the Field, Festschrift zu Ehren von Egil Bakka, Fagbokforleget Vigmostad & Bjorke AS, 2014, Seite 119

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