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Ein Briefwechsel
"Alles ist noch immer wie es war – doch es ist anders."

Während der Proben zu J-CHOES
Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal

Kurz vor Beginn des Festivals Hans Otte : Sound of Sounds bat die Pianistin Joana Gama die Schriftstellerin Susana Moreira Marques, den Arbeitsprozess zu begleiten und über das Programm zu schreiben. Es war der Beginn eines Dialogs, der mit dieser Reflexion endet: über das, was bleibt, und über die kleinen Wunder, die Kunst vollbringen kann.

Von Susana Moreira Marques und Joana Gama

Lissabon, 29. April 2022

Liebe Joana,

gerade erst bin ich aus Paris zurückgekommen und in ein paar Tagen reise ich nach New York. Manchmal scheint es, als habe die Erde wieder angefangen, sich zu drehen. Wir reisen wieder und treffen Leute am anderen Ende der Welt. Das Leben beginnt wieder.

Ich werde einige Wochen in einer Residenz verbringen, um dort ganz alleine zu schreiben. Allein, aber zusammen mit anderen Schriftstellern von überall her. Diese Abstufung zwischen dem Alleinsein und gemeinsam mit anderen alleine zu sein macht einen riesigen Unterschied aus.

Mir ist es zunehmend wichtig, den kreativen Prozess auch zu teilen. Vielleicht war es mir auch deswegen so wichtig, die Ergebnisse die kuratorische Arbeit zu begleiten, die du für das Festival Hans Otte: Sound of Sounds zusammen mit Ingo Ahmels geleistet hast, die Magie deiner Zusammenarbeit mit Margaret Leng Tan auf der Bühne während des Konzerts Ocidente:Oriente – Cage:Otte und vor allem, worauf ihr drei über Wochen mit der Regisseurin Lou Simard hingearbeitet habt, die Premiere der Aufführung J-CHOES – J’ai Faim Anfang April. Vor allem aber will ich mich bei dir dafür bedanken, dass du glaubst, Worte – Schreiben über diesen Prozess - könnten eurer Arbeit noch etwas hinzufügen.

Beim Film gibt es einen Ausdruck, der bei der Arbeit oft fällt: La terre tourne, „Die Erde dreht sich“. Es soll weitergehen mit den Dreharbeiten, man soll sich beeilen. Beim Filmen muss man natürlich darauf achten, dass das Licht noch gut ist, und natürlich dreht sich die Erde weiter und die Sonne geht unter, aber manchmal kommt es mir so vor, als seien wir alle ein bisschen verzweifelt darüber, dass sich die Erde dreht. Weil wir wissen, dass dadurch die Sonne auch immer zu früh unterzugehen scheint. 

In deinem letzten Brief hast du von diesem Gefühl gesprochen, dass dir die Zeit fehlt, das gerade Geschaffene auch zu genießen (du hast es nicht mit diesen Worten gesagt, aber ich interpretiere es so), es abzuschließen, um wieder Raum für das Nächste zu haben, das, was noch nicht da ist. Konntest du denn nach dem Festival Hans Otte, das über mehrere Monate ging und für dessen Vorbereitung du noch länger brauchtest, die Verwirklichung dieses anspruchsvollen Projekts genießen? Konntest du Zeit finden, Bilanz zu ziehen? Findest du, dass wir mehr lernen, wenn wir uns diese Zeit nehmen und Bilanz ziehen? Was bringt dieser Versuch, wenigstes kurz zu glauben, wir könnten die Erde für einen Augenblick anhalten?

Alles ist noch immer wie es war – doch es ist anders.

Nach dem Buch der Klänge komponierte Hans Otte das Stundenbuch, inspiriert von mittelalterlichen Gebetsbüchern. Das Stück wird begleitet von Aphorismen, und einer davon scheint mir besonders treffend für die heutige Zeit: „Alles ist noch immer wie es war – doch es ist anders.“

Vielleicht ist es das, was wir in allen großen historischen Momenten empfinden, wenn das, was wir kennen, erschüttert wird: das Erstaunen, dass alles gleich bleibt, und trotzdem zu wissen, dass unter der Oberfläche etwas sich verändert haben muss. Ich frage mich, ob dies nicht genau auch das Gefühl ist, das man hat, wenn man etwas geschaffen hat. Geht es dir so, nachdem du diese Konzertreihe und die Bühnenstücke zu Hans Otte abgeschlossen hast? Hat sich etwas in dir verändert, obwohl es noch immer ist, wie es war?

Du hast mir einmal gesagt, dass es dir wichtig ist, dass die gigantische Arbeit, ein Festival auf die Beine zu stellen, das nicht nur Musik, sondern auch Theater, Ausstellungen und Vorträge umfasst, etwas Bleibendes hinterlässt. Und da komme ich ins Spiel mit den Worten, die aufgeschrieben nicht so vergänglich sind wie deren Musik auf der Bühne. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Worte – die ich oder sonst wer über ein Konzert oder eine Aufführung schreiben mag – viel länger Bestand haben, als die Erinnerung daran, was man gesehen oder erlebt hat. Ich denke, es sind die Zuschauer, die eine Aufführung nicht zu etwas Vergänglichem werden lassen.

Sobald ich kann - vermutlich zu spät und mit der erneuten Bitte um Entschuldigung dafür - lasse ich wieder von mir hören. In der Zwischenzeit freue ich mich auf Nachricht von dir.

Herzliche Grüße
Susana



Porto, 8. Mai 2022

Liebe Susana,

genau heute vor einem Monat hatte das Stück J-CHOES im Teatro Viriato Premiere. Ich mag runde Daten, die Vorstellung von Fortschritt, aber mit Bezug zur Vergangenheit.

Als wir auf die Bühne traten, waren wir sehr gelassen: Die Arbeit lag hinter uns, wir waren gut vorbereitet. Es waren sehr intensive Wochen der Arbeit und der Begegnung, alle weit weg von zu Hause - Margaret, Lou und Ingo sogar außerhalb ihrer Länder – mit vier Sprachen auf dem Tisch – Englisch, Französisch, Deutsch, Portugiesisch – bei den Proben zu einem Stück, das sich erst dort, wo es geprobt wurde, allmählich herauskristallisierte: im Auditorium des Goethe-Instituts, dessen Türen zum Garten hinausgehen und von wo das Zwitschern der Vögel zu hören war.

Ich glaube, mir ist immer noch nicht ganz bewusst, dass das Festival tatsächlich stattgefunden hat. Alles begann 2010 aus einem naiven Impuls heraus, dem einfachen Drang, einem Komponisten in einem Land eine Stimme zu geben, in dem über ihn, von dem einen oder anderen aufmerksameren Musikliebhaber abgesehen, kaum etwas bekannt war. Nach Jahren wurde dann plötzlich die Möglichkeit, dies auch umzusetzen, real, mit der entscheidenden Unterstützung durch das Goethe-Institut, dem sich dann andere Institutionen anschlossen, in Lissabon, Évora, Guimarães und Viseu, den Städten, auf die sich das Festival dann zwischen Oktober 2021 und April 2022 ausbreitete.

Ich verbinde mit diesem Festival einen Wirbelsturm der Gefühle, von den zartesten und poetischsten bis zu Momenten großer Befürchtungen. Denn so etwas von dieser Größenordnung zu verwirklichen trägt so viele Aspekte in sich, dass ich wohl Jahre brauchen werde, um zu verarbeiten, was wirklich geschehen ist.

Ich habe nie den Anspruch, etwas Universelles zu tun. Das sage ich in Hinblick auf Erik Satie, dessen Werk ich mich in den letzten Jahren bemüht habe zu verbreiten, und nun auch in Bezug auf Hans Otte: Wenn mir etwas gefällt, will ich es teilen. Ich weiß, die Musik dieser Komponisten klingt in unterschiedlichen Personen unterschiedlich nach, mal mehr oder weniger intensiv. Trotzdem freue ich mich mit einem Lächeln über das Gefühl, etwas geleistet zu haben, wenn ich daran denke, wie viele Personen in den letzten Monaten nun zusätzlich mit dem Werk von Hans Otte in Kontakt gekommen sind, durch die Wanderausstellung, die Konzerte, die akademischen Vorträge oder über das Stück J-CHOES.
Ingo Ahmels, Margaret Leng Tan, Joana Gama und Lou Simard im Garten des Goethe-Instituts an den Tagen der Proben. Ingo Ahmels, Margaret Leng Tan, Joana Gama und Lou Simard im Garten des Goethe-Instituts an den Tagen der Proben. | Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
Das Festival war Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit, und jetzt, wo ich dir schreibe, will ich jeder einzelnen Person, die dem Festival Hans Otte: Sound of Sounds so viel Zeit ihres Lebens gewidmet hat, danken: Ingo Ahmels, enthusiastischer Mitstreiter seitdem ich ihn das erste Mal deswegen unvermittelt anschrieb, Julia Klein, die sich im Goethe-Institut des Projekts angenommen und über die Monate daran unermüdlich gearbeitet hat, Rui Manuel Vieira, der die komplexe Produktion des Festivals in besonderer Weise geleistet hat, Marta Ramos, der das wunderbare, nüchterne Design der Broschüre zu verdanken ist, Maria Luís Neiva vom CAAA, das die Produktion auf entscheidende Weise unterstützt hat, Corinna Lawrenz und Yolanda Schroeder, die der großartigen Website des Festivals innerhalb des Web-Auftritts des Goethe-Instituts so viel ihrer Zeit widmeten, Nadia Sales Grade, deren Pressearbeit das Festival in die wichtigsten Medien Portugals brachte, und dir selbstverständlich, in deren Worten das Festival Spuren hinterlassen hat. Und natürlich Margaret Leng Tan, die zwei Mal von New York angereist ist, um Teil dieses Festivals zu sein: im Oktober 2021 für das Konzert Oriente:Ocidente – Cage:Otte im Culturgest und im März 2022 zur Premiere von J-CHOES, Lou Simard, die mit Ingo Ahmels das Stück J-CHOES schrieb und inszenierte, sowie Silvia Otte, der Tochter des Komponisten, die das Festival aus der Ferne begleitete, stets voller Freude darüber, was dort geschah. Ein besonderer Dank geht auch an Pedro Santos, den musikalischen Programmleiter des Culturgest, der 2019 den entscheidenden Anstoß für die ersten Kontakte im Hinblick auf dieses Festival gab.

Über diesen harten Kern hinaus gab es so viele Menschen, deren Wirken entscheidend war für die Verwirklichung dieses Traums … Also seien an dieser Stelle in großer Dankbarkeit alle genannt, mit denen wir in diesen Monaten das große Vergnügen hatten zusammenzuarbeiten: Brotéria - Francisco Mota SJ, João Sarmento SJ, Madalena Van Zeller, Madalena Tamen, Mané Abreu Peixoto und Paulo Paulo; Culturgest - Mark Deputter, José Rui Silva (damals technischer Leiter) und sein gesamtes Team, das die beiden Konzerte betreute;  CESEM - Manuel Pedro Ferreira, Isabel Pires, Ivan Moody, Vera Cordeniz; Goethe-Institut - Susanne Sporrer, João Basílio; Universität Évora - Benoît Gibson, Ana Telles; Stadt Évora - Luís Garcia, Nuno Figueiredo, Maximiano Mosca; CAAA - Ricardo Bastos Areias, Diogo Costa; Universität Minho - Natacha Antão Moutinho; Teatro Viriato - Patrícia Portela (damals künstlerische Leiterin), Maria João Rochete, Sandra Correia, Carlos Fernandes, Gi da Conceição, Paulo Matos, Nelson Almeida, João Rodrigues, Ana Filipa Rodrigues, Teresa Vale, Gisélia Antunes und schließlich Miguel C. Tavares, der die Premiere von J-CHOES auf Video für die Ewigkeit festgehalten hat.

Die Art und Weise, wie wir die Dinge tun – das ist der wahre Weg.

Während des Festivals kam mir immer wieder einer der Aphorismen aus dem Stundenbuch in den Sinn: „Die Art und Weise, wie wir die Dinge tun – das ist der wahre Weg“. Jetzt, wo die Arbeit getan ist, hätte ich mir nur gewünscht, alles sei etwas gelassener vonstattengegangen, mehr nach dem Bild, das ich von Hans Otte habe, den ich persönlich nie kennenlernte, aber nun nach und nach durch  seine Musik, seine Schriften und Zeichnungen und aus den Erzählungen seiner Freunde Ingo und Lou kennenlernen darf. Entscheidend dafür war auch dieses Interview, das du mit Silvia Otte geführt hast. Es ist nicht nur bewegend, den Text zu lesen, den du geschrieben hast, sondern auch der Gedanke, dass hier die Tochter zum ersten Mal in der Öffentlichkeit über ihren Vater sprach und wir für dieses Festival ein bis dahin unveröffentlichtes Dokument schufen, das nun allen zur Verfügung steht, die es lesen möchten.

Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass wir immer noch in der Pandemie sind und alles, so sehr es uns auch manchmal vorkommt, als sei das Leben schon wieder im Takt, deswegen noch ein bisschen schwieriger und beschwerlicher ist.

Auch deswegen war es ein kleines Wunder, dass wir dieses Festival verwirklichen konnten. Ich glaube, Kunst besitzt diese Fähigkeit, kleine Wunder zu schaffen. Wie schön, dass es in diesem Fall nach der Musik von Hans Otte klingt.

Eine Umarmung auf die andere Seite des Ozeans.
Genieße die Stille.

Joana

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