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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Grammatik

Illustration: zwei Sprechblasen über einem Buch
Ein Verb gibt einer Handlung einen Namen | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Unsere neue Kolumnistin Sharon Dodua Otoo wird sich in ihren Beiträgen der Grammatik widmen – als Loblied auf die Sprache. In ihrem ersten Beitrag befasst sie sich mit Verben und ihrer emanzipatorischen Wirkung.

Von Sharon Dodua Otoo

Einleitung

Grammatik ist das größte Vergnügen im Leben, findet ihr nicht?
(Lemony Snicket)

Wenn ich auf Englisch schreibe, mache ich mir in der Regel nicht allzu viele Gedanken über Grammatik. Als kreative Schreiberin gehe ich gern davon aus, die Regeln meiner Muttersprache so gut zu beherrschen, dass ich auch weiß, wie ich sie brechen kann. Während der Arbeit an meiner ersten Novelle the things i am thinking while smiling politely (die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle), habe ich besonders gern mit ungewöhnlichen Wortschöpfungen wie „reforgetmembering“ (ervergessinnern) gespielt. Außerdem habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Emotionen mit unkonventionellen Beschreibungen wiederzugeben, wie in „the emptiness I feel then looks louder than it has ever smelt or tasted before – it makes me shake and weep“ (Die Leere, die ich danach fühle, sieht lauter aus, als sie je zuvor gerochen oder geschmeckt hat – sie bringt mich zum Zittern und Schluchzen).

Mein Wissen über die englische Grammatik ist intuitiv. Für die deutsche Grammatik kann ich das nicht behaupten. Auch wenn ich gern mit neuen Wörtern und unkonventionellen Beschreibungen spiele, ist Grammatik auf Deutsch für mich eine deutlich ernsthaftere Angelegenheit. Und obwohl ich sicherlich mehr Fehler im Deutschen als im Englischen mache, weiß ich weitaus mehr über deutsche als über englische Grammatiktheorie.

In meinen Beiträgen für die Sprachkolumne will ich in den nächsten Wochen über einige lustige Beobachtungen schreiben, die ich im Zusammenhang mit Verben, Substantiven, Pronomen, Präpositionen und Zeichensetzung gemacht habe. Damit will ich keine Grammatiklektionen erteilen – ich bin schließlich keine Sprachwissenschaftlerin. Vielmehr möchte ich ein Loblied auf das Geschenk der Sprache im Allgemeinen und auf die deutsche Sprache im Besonderen singen. Ich kann alle Menschen verstehen, die Grammatik nicht als das größte Vergnügen in ihrem Leben betrachten. Doch vielleicht werden ihnen meine Denkübungen trotzdem gefallen.
 

Verben

Ich dachte, Kunst sei vielmehr ein Verb als ein Substantiv.
(Yoko Ono)

Von allen Wortarten in allen Sprachen sind mir die Verben am liebsten. Ich betrachte mich selbst als optimistische Person. Als Aktivistin muss ich daran glauben, dass sich der derzeitige Stand der Dinge ändern kann und auch ändern wird. Verben vermitteln aus meiner Sicht immer ein solches Gefühl von Fortschritt oder Wandel. Ein Verb gibt einer Handlung einen Namen und impliziert zugleich, dass die Situation vor dieser Handlung eine andere war. Das Verb „sein“ bildet da sicherlich eine mögliche Ausnahme. Allerdings schreibe ich „eine mögliche“, weil ich nicht einmal den Zustand des Seins als etwas Statisches empfinde. Die spanische Sprache hält sogar zwei Übersetzungsvarianten für dieses Verb bereit. Mit dem Verb „ser“ werden Zustände oder Eigenschaften beschrieben, beispielsweise: „Ich bin aus England“, „sie ist eine Polizistin“ und „sie sind groß“, während mit dem Verb „estar“, das meines Erachtens der Bedeutung des Verbs „sein“ am nächsten kommt, in der Regel Situationen beschrieben werden, die (hoffentlich) nicht von Dauer sind, wie beispielsweise: „Ich bin krank“, „du bist am Schreiben“ und „wir sind in der Küche“.

Da ich mich ausdrücklich auch als politische Schriftstellerin mit einem Schwerpunkt auf Rassismus- und Sexismuskritik betrachte, messe ich Verben eine große Bedeutung bei. Der vorherrschende Diskurs über Diskriminierung wird vor allem von Substantiven bestimmt: „Rasse“, „Ethnie“ und „Hautfarbe“. Die Wörter „Kultur“ und „Migrationshintergrund“ werden in Debatten und Kommentaren in einer Weise verwendet, als wären auch sie unveränderliche Merkmale einer Person. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein falscher Schwerpunkt gesetzt wird. Wäre es nicht einfacher, das zu ändern, was die Menschen tun, als das, was sie sind? Ganz im Gegensatz zur gängigen Meinung wird eine Schwarze Frau nicht wegen ihrer Hautfarbe beleidigt, und auch ein jüdischer Mann wird nicht wegen seines Glaubens attackiert. In beiden Fällen geschieht Unrecht, weil diese Personen Diskriminierung erfahren.

Die aktuelle Debatte über die Streichung des Begriffs „Rasse“ aus dem Deutschen Grundgesetz beruht auf der Anerkennung der Tatsache, dass es aus biologischer Sicht keine Menschenrassen gibt. Die Befürworter*innen einer solchen Änderung haben Ersatzformulierungen wie „ethnische Herkunft“ oder „rassistische Zuschreibung“ vorgeschlagen. Von den beiden Lösungen ziehe ich die zweite mit Abstand vor. Das Wort „Zuschreibung“ funktioniert gut in diesem Zusammenhang, denn es leitet sich vom Verb „zuschreiben“ ab und macht auf diese Weise deutlich, dass die Diskriminierung auf einer Handlung beruht und das Problem in der diskriminierenden Handlung besteht. Könnte ich entscheiden, würde ich das Wort „Rasse“ durch das Wort „Rassifizierung“ ersetzen. „Rassifizierung“ leitet sich vom Verb „rassifizieren“ ab. Mit diesem Begriff ließe sich ein Unrecht wiedergutmachen. Der Begriff rückt gewisse Handlungen in den Mittelpunkt des Diskurses über die Bekämpfung der Diskriminierung in all ihren Formen. Wessen Handlungen? Derer, die an der Rassifizierung anderer Menschen beteiligt waren – entweder durch die Entwicklung von Rassentheorien, durch die Einordnung von Menschen in unterschiedliche Kategorien, durch die Beteiligung an Genoziden oder weil sie all dies schweigend hingenommen haben.

Streng genommen handelt es sich bei Wörtern wie „Zuschreibung“ und „Rassifizierung“ um Verbformen, die wie Adjektive verwendet werden. Diese werden auch als Partizipien bezeichnet. Gerundien sind ebenfalls Verbformen, die substantivische Eigenschaften haben und im Deutschen zunehmend bei der Beschreibung von Personen zum Einsatz kommen. Begriffe wie „die Studierenden“ und „die Lehrenden“ können sich auf Menschen jeden Geschlechts beziehen. Durch die Verwendung dieser Begriffe bieten sich deutlich mehr Möglichkeiten, gendernonkonforme Menschen in einer Sprache zu berücksichtigen, deren gängige Grammatikregeln Gruppen normalerweise in ausschließlich männlich oder ausschließlich weiblich unterteilen.

Die verbreitete These, dass sprachliche Veränderungen keinen Einfluss auf unsere Lebenswirklichkeit haben, kann ich nicht teilen. Meines Erachtens geht von Verben in all ihren Formen eine emanzipatorische Wirkung aus – und die sollten wir uns ganz bewusst zunutze machen!
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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