Kulturen und Sitten
Pipileicht in die Vertrauenskrise

Toilet
Pao-Chang Tsai

Als Pao-Chang Tsai das erste Mal in Berlin ankommt, bereitet sein Gastvater ihm einen ruppigen Empfang ,auf deutsche Art‘.

Nun reise ich bereits derart lange durch die Weltgeschichte, dass mir wirklich klar sein sollte, wie fehl am Platz stereotype Sichtweisen nur sein können, ganz gleich auf welche Volksgruppe sie sich beziehen. Als ich das erste Mal in Berlin ankomme, bereitet mein Gastvater Norbert mir allerdings einen ruppigen Empfang ‚auf deutsche Art‘.
 
„Hier ist dein Zimmer.“ kommt er einsilbig und ohne Umschweife auf den Punkt, nachdem ich keuchend mein Gepäck in den dritten Stock geschleppt habe.
 
„Hier hast du einen Fernseher, der Einschaltknopf ist da.“ Er nimmt die Fernbedienung und führt mir sehr gewissenhaft die eigentlich selbsterklärenden Grundfunktionen vor: Lautstärke, Programmwahl.
 
„Komm, ich zeig' dir das Bad.“ winkt er mich flugs vor die Badezimmertür.  „Das ist jetzt wichtig: Achte darauf, …“ — und nun blickt er mich mit ernster Miene an, während ich noch nach Luft schnappe —
 
„… dass Du Dich zum Pinkeln hinsetzt.“
 
„Mm-hm.“ entgegne ich gefasst. „Verstanden.“
 
„Na dann ist gut. Viele Amerikaner haben ein Problem damit und pinkeln unbeirrt im Stehen.“ lässt er gedankenverloren seine zehnjährigen Erfahrungen mit Goethe-Gästen Revue passieren.
 
Meine erste Freundschaft mit jemandem, der nicht aus Taiwan stammte, habe ich vor vierzehn Jahren als Austauschstudent in den USA ausgerechnet mit einem Deutschen geschlossen. Mit dem ‚deutschen Sitzpinklerphänomen‘ bin ich also bereits hinlänglich vertraut und Norberts Wunsch kommt mir keineswegs eigenartig vor. Doch warum eigentlich im Sitzen? Aus Rücksicht auf die Damen im Haushalt, sagen einige, denn beim Stehpinkeln sorgen die schwer zu vermeidenden ‚Kollateralspritzer‘ für schlechte Hygiene und führen auch noch dazu, dass hinterher mehr Zeit fürs Putzen draufgeht. Warum also derlei Umstände nicht gleich mit Effizienz umgehen?
 
Ja, genau, so denkt man. Was dem verehrten Leser allerdings nicht bewusst sein mag, ist dass das Ganze eine gewisse Fertigkeit voraussetzt. ‚Druck‘ lautet hier das Stichwort. Obgleich man sitzt, will der Strahl auf ein angemessenes Ziel ausgerichtet sein, da es sonst später nicht die Kloschüssel selbst, sondern das davor hängende Handtuch zu reinigen gilt. (Sofern das nicht explizit dem Zweck dient, fehlgeleitetes Pipi aufzusaugen?!)
 
In der Berliner Gastfamilie nimmt man kein Blatt vor den Mund und was wem gehört wird sehr genau unterschieden. In den Augen von Taiwanern macht dies beim ersten Aufeinandertreffen möglicherweise einen ziemlich irrationalen Eindruck, als hätte man in Deutschland keinen Schimmer wie Gäste zu behandeln sind. Ich hingegen erkenne darin einen bestimmten Teil meines eigenen Naturells recht genau wieder.
 
In Taiwan stecke ich sehr viel Herzblut in die Theaterproduktion, und gerade aus diesem Grund habe ich meist ein zu schlechtes Gewissen, um gleich zu Anfang die Gage anzusprechen. Oft versenke ich mich dann ganz in meine Arbeit und bemerke erst zum Schluss dass sich meine Gehaltsvorstellungen von dem unterscheiden, was man zu zahlen bereit wäre. In dem Moment tritt dann mein Innerstes zu Tage und bringt in der Diskussion Nebensätze hervor wie „hätte ich bei meiner höflichen Zurückhaltung und all meinen Anstrengungen geahnt, …“. Weil es mir nicht selten passiert, dass ich mich so auf eine der ‚goldenen Regel‘ nicht unähnliche Art und Weise über die empathische Schiene anzunähern versuche, sage ich mir: Obwohl Herzblut eine zweifellos wichtige Rolle spielt, empfiehlt sich in persönlichen Finanzfragen immer noch eine gewisse Prinzipientreue — Erst nachdem die Geldfragen geklärt sind, sollten sich dann alle Beteiligten ganz professionell der Fertigstellung des Projekts widmen. Es ist alles eine Frage des Respekts sich selbst und dem Anderen gegenüber.
 
Aber zurück nach Berlin: Es vergeht also eine Woche des friedlichen Zusammenlebens, in der wir uns gelegentlich beim Frühstück antreffen und ein paar Worte wechseln. Dabei bemühe ich mich, mich von einer gefälligen und strebsamen Seite zu präsentieren (was ziemlich ermüdend ist und ich frage mich, wieso ich anderen gegenüber nicht auch einmal ich selbst sein kann, wenn mein Leben nun schon im Ausland stattfinden darf? Welche Reichweite meine kulturelle Bürde wohl haben mag?). Alles scheint in bester Ordnung — bis ich in der zweiten Woche einmal vom Unterricht heimkomme und Norbert mit seinem fünfjährigen Spross beim Kochen antreffe. Wie gewohnt grüße ich freundlich, doch er kommt mit säuerlicher Miene auf mich zu um mir auf Englisch mitzuteilen:
 
„The toilet doesn’t work.“
 
Mein erster Gedanke ist, dass das Klo verstopft ist. Herrje! Defekt?! Das darf nicht wahr sein! Ich liebe meine gemütlichen Sitzungen auf dem Örtchen. Wenn ich jetzt für ein paar Tage nicht mal mehr in aller Ruhe einen abseilen kann, ist das eine wahre Hiobsbotschaft. Mit aufrichtiger Betroffenheit in der Stimme hake ich umgehend nach: „Und jetzt? Ist das Abflussrohr blockiert?“
 
„No, I meant the toilet DOESN’T  work.“
 
sagt er noch einmal. Ihm muss klar sein, dass ich ihn missverstehe, allerdings ignoriert er die Tatsache wohl und wiederholt bloß das, was er bereits gesagt hat.
 
„Die Toilette ist verdreckt. Sieht so aus als hätte sich jemand zum Pinkeln »nicht« hingesetzt“ sagt er kühl zu mir.
 
Die Unterstellung erstaunt mich, denn ich habe entgegen meiner Gewohnheit wirklich immer gesessen.
 
„Mmmh, nein — ich habe mich jedes Mal gesetzt, Ehrenwort.“ entgegne ich.
„Sieht mir nicht danach aus.“ werde ich brüsk abgewürgt.
 
Leser meiner Reiseberichte aus „Generalprobe für eine Reise“* dürften sich gut an eine Episode erinnern, bei der ich in einem Mietverhältnis in London des Betrugs bezichtigt werde. Jenes „Misstrauen“, das mir seinerzeit entgegenschlug, wirkt wie der Dämon, der dich gelegentlich befällt und kurz nach dem Aufwachen zeitweilig mit völliger Bewegungsunfähigkeit foltert. In dem Moment, in dem mich nun Norberts Anschuldigungen treffen, sucht er mich wieder heim und wirft meine Welt einfach über den Haufen.
 
Norbert wandert zum Klo, hebt den Deckel an und weist auf zwei schon getrocknete Urinflecken an dessen Rand.
 
„Wenn du immer im Sitzen pinkelst, woher kommt dann das?“
 
Ich stiere verdutzt auf die beiden Kleckse — zwei traurige, unschuldige, gelbliche Tüpfelchen — und bringe kein Wort hervor. Ich kann mir wirklich keinen Reim darauf machen, wie sie sich unter den Klodeckel verirrt haben könnten.
 
Und unversehens wird mein Schweigen zum besten Beweisstück der Anklage.
 
„Papa! Papa!“ ruft da der fünfjährige Eugen aus dem Esszimmer, ohne zu ahnen dass sein Vater gerade mit einem pummeligen Asiaten ein abgründig grimmiges Seelenstück vollführt.
 
‚Eugen muss es gewesen sein!‘ ziehe ich in dem Augenblick Norberts Anklage in Zweifel und bekomme sogleich ein schlechtes Gewissen über eine derart niederträchtige Mutmaßung meinerseits. Schließlich hat Eugen wahrscheinlich keine Schuld, aber ich will bis an mein Lebensende mit Fettleibigkeit gestraft sein, wenn ich mich nicht jedes Mal zum Pinkeln hingesetzt habe, seit sein Vater die Regel zum ersten Mal angesprochen hat. Jeder einzelne meiner Toilettenaufenthalte war im wahrsten Sinne des Wortes eine Sitzung.
 
Die Abscheu, die Norberts Gesichtsausdruck durchscheinen lässt klingt noch vor meinem inneren Auge nach, während ich mich still auf mein Zimmer zurückziehe.
 
Wenn das Reisen mich eines wahrhaft gelehrt hat, dann wird es wohl sein, dass ich mich nicht mehr verleumden lasse. Wenn ich etwas verbrochen habe, stehe ich dafür gerade, aber für Dinge, die schlicht nicht auf meinem Mist gewachsen sind, kann und will ich mir nichts gefallen lassen. Konflikte kann man immer gemeinsam lösen. Ich erkenne die Rechte meines Gegenüber an, aber Rechte habe ich auch!
 
Ich klopfe an Norberts Tür.
 
„Was gibt's?“ fragt er ohne von den Klamotten aufzusehen, die er auf dem Bett sortiert.
 
„Hey, tut mir leid, dass die Klogeschichte dich verärgert hat, aber ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich zu Hause noch nie im Stehen gepinkelt habe. Nur habe ich wohl noch nicht die ideale Technik gefunden und werde daran arbeiten. Ich kann dir versichern, dass es in Zukunft nicht wieder vorkommt.“ sage ich mit bestimmter Freundlichkeit.
 
„Gut, kein Problem.“ sagt er und klopft mir dabei auf die Schulter.
 
Im gleichen Moment dämmert mir, dass es nach diesem Theater ums Misstrauen wohl erst einmal kein Zurück mehr gibt. Erwartungsgemäß wechseln wir seither kaum noch Worte oder tauschen Höflichkeiten aus. In der Wohnung bewege ich mich nun jedoch unbeschwerter denn je. Bisher hat mich beim Fernsehen, Türenschließen, Wäschewaschen und in der Küche stets eine übertriebene Angst begleitet, jemanden in seiner Ruhe zu stören. Doch seit jener Begebenheit sehe ich das Thema des respektvollen und geregelten Miteinanders aus einer neuen Perspektive und fühle mich dabei um einiges selbstsicherer. Vor meiner Abreise hatte ich fantasiereich Theatermanuskripte konzipiert, von heimelig intimen Gesprächen mit der Gastfamilie, die sich mit mir auf gemächliche Wanderungen durch die Welt der deutschen Sprache mit all ihren Hürden und Schikanen macht. Wäre vielleicht gerade so etwas ein erster Schritt zur Vertrauensbildung?
 
Was jedenfalls den Handlungsstrang des genussvollen Schwelgens in der deutschen Sprache betrifft — den überlasse ich nunmehr Weihnachtsfilmen aus Hollywood!
 
*Anm. d. Ü.: „Generalprobe für eine Reise“ ist bloßer Arbeitstitel, da das Werk auf Deutsch noch nicht erschienen ist. Der Originaltitel lautet „排練一場旅行:世界是你犯錯的最佳舞台 páiliàn yìchǎng lǚxíng: shìjiè shì nǐ fàncuò de zuìjiā wǔtái“