Poesiefestival Berlin
Lyrische Weltklänge

El Congo Allen
El Congo Allen | Foto (Ausschnitt): © gezett

Draußen: Berliner Sommer; drinnen: „Kein schöner Land“ – unter diesem Titel versammelte das 17. Poesiefestival 150 Dichterinnen und Dichter aus 37 Ländern in der Akademie der Künste in Berlin. Das Lyrikfest zeigte, dass Poesie den Horizont erweitern und Brücken bauen kann.

Gedichte liest niemand, Gedichte versteht niemand, Gedichte braucht niemand – das denken viele. Und dennoch veranstaltet das Team der Literaturwerkstatt Berlin jedes Jahr aufs Neue das Poesiefestival. Und jedes Jahr kommen Tausende Besucher, geben sich eine „volle Dröhnung“ Lyrik und machen damit klar: Das braucht man doch. 

Schon der Veranstaltungsort – die Akademie der Künste – ist ein Erlebnis. Der ehemalige Akademiepräsident Klaus Staeck nannte den Bau einmal ein „weltliches Kloster“. Nähert man sich dem Gebäudeensemble von hinten, leuchtet die riesige kupfergrüne Dachschräge durch die Bäume – wie ein Raumschiff, das in den Ausläufern des Berliner Tiergartens gelandet ist: ein Lyrikraumschiff. Draußen summen Mücken, verspeisen Spatzen Kuchenreste und trinken Menschen Weißweinschorle. Drinnen heißt es Kein schöner Land. Unter diesem Titel brachte das 17. Poesiefestival 2016 rund 150 Dichterinnen und Dichter aus 37 Ländern in Berlin zusammen.

Globale Themen in abstrakter Wortkunst

Festivalleiter Thomas Wohlfahrt eröffnete die Auftaktlesung mit einer Verortung. Überall auf der Welt gebe es Armut und Flucht und Kommerz, und mittendrin: Dichtung. Deswegen lautete das Festivalmotto Kein schöner Land. „Wenn es ein Land zu feiern gibt, dann die Welt.“ Und dann verjazzte der Trompeter El Congo Allen den deutschen Volkslied-Klassiker Kein schöner Land maßgerecht und macht den Titel des Abends hörbar: „Weltklang“. 

Die Dichter kommen aus Neuseeland (Hinemoana Baker), Rumänien (Ana Blandiana), Frankreich/Norwegen (Caroline Bergvall), Senegal/Frankreich (Souleymane Diamanka), Deutschland (Gerhard Falkner, Uljana Wolf), Mexiko (Luis Felipe Fabre), Syrien (Rasha Omran) und Serbien/USA (Charles Simic). Die Themen sind ähnlich weltumspannend und auch inhaltlich weit gefasst, sie reichen von Frauen, Liebe und Meer bis zu Schorfheide, Wasser und Zombies. 

Am Ende des Eröffnungsabends stellte man fest, dass es die deutschen Texte sind, die man am wenigsten verstanden hat. Vielleicht weil sie nicht „übersetzt“ in der kleinen Anthologie mit den deutschen Fassungen stehen, die jeder Besucher am Eingang zum Mitlesen erhalten hat. Vielleicht weil abstrakte Wortkunst abstrakte Wortkunst bleibt. Muttersprache hin oder her.

Sprachgrenzen lyrisch überspringen

Wie üblich gibt es am Einlass zum kleinen Büchlein mit den Übersetzungen der vorgetragenen Texte auch eine Leselampe. Im Laufe des Festivals wünscht man sich dann, es wäre auch eine Fernbedienung dabei gewesen. Eine, mit der man das lyrische Bühnengeschehen anhalten oder zurückspulen kann, um die großartige mehrsprachige Poesie noch einmal wirken zu lassen oder einen brillanten, aber zu schnell verklungenen Vers noch einmal zu hören.

Sehr wahrscheinlich wäre die Fernbedienung bei Balkan Balconyy zum Einsatz gekommen – einer Lesung mit metaphorischer Aussicht. Der weite Blick des Balkonsitzers sei wichtig in einer Region, in der sich alles um Grenzen dreht, erklärte Kurator Nikola Madzirov den Titel der Veranstaltung. Kapka Kassabova las auf Bulgarisch und Englisch, Thedoros Chiotis auf Griechisch, Lindita Arapi auf Albanisch und Deutsch. Ana Ristovic las auf Serbisch, Damir Sodan auf Kroatisch und Ales Steger auf Slowenisch und Deutsch. In einem fort wurden Sprachgrenzen übersprungen und lyrische Brücken gebaut. Müsste man dem Festival eine Mission zuschreiben, dann wäre es wohl diese.

Vers-Schmuggel auf ungewöhnlichen Pfaden

Eine andere Veranstaltung trug diese Mission schon im Namen: Vers-Schmuggel. Für das vom Goethe-Institut geförderte Projekt haben Dichter Dichter übersetzt, ohne die Sprache des anderen zu sprechen. Zu Hilfe kamen dabei Literaturübersetzer und Interlinearübersetzungen, also Wort-für-Wort-Übersetzungen der Originaltexte. 

Am Vers-Schmuggel in Südasien waren 51 Dichterinnen und Dichter beteiligt. Dagegen wirkte das Schmugglerteam für Hebräisch-Deutsch fast übersichtlich. Sechs Dichter und Dichterinnen aus Deutschland und sechs aus Israel übersetzten in symbiotischer Zusammenarbeit Poesie mit Poesie. Das Resultat sind Texte, die auch übersetzt nahtlos wirken. So wie das Publikum in Berlin auf den ersten Blick nahtlos wirkt: ein Auditorium voller Lyrik-Fans. Erst das Lesen der Texte – mal auf Hebräisch, mal auf Deutsch – und die darauf folgenden Lachsalven teilen die Hörer entlang der Sprachgrenze. 

Dass Schmuggeln auch heißt, ungewöhnliche Wege zu gehen, offenbaren gelegentliche Kunstgriffe der Dichter-Übersetzer. Die von Nurit Zarchi im Hebräischen genutzte Verniedlichungsform von Gott wird bei Marion Poschmann zu „Gotti“, so wie Hans bei manchem zu Hansi wird. Poschmann wiederum schreibt über Platanen, die man in Israel kaum kennt. Efrat Mishori schreibt über „Fremde“ und Martina Hefter greift für die deutsche Fassung dafür eigenmächtig zu „Alien“ – so viel künstlerische Freiheit muss sein. Und Nico Bleutge musste sich für die Übersetzung eines Gedichts von Gilad Meiri über Facebook-Liebe Nachhilfe in Sachen Social-Media-Vokabular geben lassen. Bleutge hat keinen Facebook-Account.

Auch hier hat man das Gefühl, dass die deutschen Dichter und Dichterinnen zu abstrakten Konzepten neigen, Sprachakrobatik bevorzugen, Zugänglichkeit hinten anstellen und Emotionen und Dinge durch ein Prisma betrachten. Ihre israelischen Kollegen wählen oft den direkteren, wärmeren, unterhaltsameren Zugang. Und dennoch scheint es bei allen Unterschieden so, als würden die jeweiligen Schmuggel-Partner Rücken an Rücken lehnen. Nähme man einen weg, würde der andere umfallen.