Interview
Interview mit der jungen taiwanesischen Illustratorin Pei-Yu Chang

  • Pei-Yu Chang beim kreativen Arbeiten mit Kindern auf der Buchmesse in Saarbrücken. © Pei-Yu Chang
    Pei-Yu Chang beim kreativen Arbeiten mit Kindern auf der Buchmesse in Saarbrücken.
  • Pei-Yu Chang zusammen mit anderen Illustratoren aus verschiedenen Ländern auf der Buchmesse in Saarbrücken. © Pei-Yu Chang
    Pei-Yu Chang zusammen mit anderen Illustratoren aus verschiedenen Ländern auf der Buchmesse in Saarbrücken.
  • Die in Deutschland lebende junge taiwanesische Illustratorin Pei-Yu Chang © Pei-Yu Chang
    Die in Deutschland lebende junge taiwanesische Illustratorin Pei-Yu Chang
Frage: Sie haben in Taiwan Germanistik studiert. Was hat Sie dazu gebracht, in Deutschland dann Illustration zu studieren?
 
Antwort: Ich wollte schon als Kind Künstlerin werden. Doch aus Rücksicht auf die Vorstellungen meiner Familie habe ich Germanistik studiert. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich zunächst vor, in Literaturwissenschaft zu promovieren. Ich wollte zur „Chaostheorie in der Literatur“ forschen. Doch während ich an der Promotion arbeitete, wurde mir bewusst, dass mein Wunsch, selbst kreativ zu arbeiten, immer stärker wurde. Hinzu kam, dass innerhalb von zwei Monaten eine alte Freundin und mein Doktorvater kurz nacheinander starben. Diese Erfahrung war ein schwerer Schlag für mich und ließ mich über viele Fragen des Lebens neu nachdenken.
 
Daher entschloss ich mich kurzerhand im noch nicht so alten, aber auch nicht mehr ganz so jungem Alter von 32 Jahren, mir eine gewisse Zeitspanne zu geben, um den Weg zu gehen, der sich immer weiter von mir entfernt hatte, den ich mir aber immer im Herzen bewahrt hatte.
 
 
Frage: Können Sie bitte kurz beschreiben, welche Ausbildung Sie in Deutschland als Illustratorin erhalten haben?
 
Antwort: Ich habe im Fachbereich Design der Fachhochschule Münster „Kommunikationsdesign und Illustration“ studiert. Alle Studierenden des Fachbereichs erhalten im ersten Studienjahr eine Grundlagenausbildung. Zu den Lehrinhalten gehören Gestaltungslehre, Typografie, digitale Werkzeuge, Illustration und Praktika. Außerdem müssen alle Studierenden ein Hauptfach und ein Nebenfach wählen. Diese Art von interdisziplinärem Studium war genau das, was ich wollte.

Ab dem zweiten Studienjahr können die Studierenden ihren Stundenplan nach ihren eigenen Interessen gestalten. Dazu gehören vor allem die drei großen Bereiche Theorie, Techniken und Projekte. Im Projektunterricht wird die Bearbeitung von Aufträgen simuliert, wobei kreativ gedacht werden muss, man muss selbst das Material dazu suchen, den eigenen kreativen Ansatz erklären, den Auftrag kreativ umsetzen und alles schriftlich protokollieren. Jeder Teil fließt in die Bewertung mit ein. Wir arbeiten regelmäßig mit Verlagen, Museen und Zeitschriftenredaktionen zusammen und realisieren in den Lehrveranstaltungen konkrete Aufträge. Wenn Studierende der Meinung sind, dass der von der Hochschule angebotene Projektunterricht für sie nicht geeignet ist, dann können sie auch selbst den Inhalt eines Projekts bestimmen und Professoren suchen, die einen solchen Unterricht erteilen.
 
Außerdem lädt die Hochschule jedes Semester bekannte Illustratoren ein, um Workshops durchzuführen. Obwohl diese Workshops meistens an Wochenenden oder freien Tagen stattfinden, versuchen die Studierenden jedes Semester einen Platz darin zu ergattern, da sie die Möglichkeit bieten, von erfahrenen Illustratoren zu lernen und weil die Workshops in Kleingruppen stattfinden.
 
Das Zeichnen des menschlichen Körpers jeden Mittwochabend ist sehr beliebt. Dabei können die Studierenden durch das Skizzieren den Aufbau und die Bewegungen des menschlichen Körpers studieren und bei dieser Gelegenheit neue Ausdrucksformen ausprobieren. Insgesamt betrachtet finde ich, dass unsere Lehrveranstaltungen uns sowohl inhaltlich als auch formal sehr gut auf den Beruf vorbereiten. Sie lassen uns sehr viel Freiheit und fördern unsere Unabhängigkeit. Natürlich haben wir in jedem Semester ein riesiges Arbeitspensum zu bewältigen, was auch ein sehr gutes Training für unsere Belastbarkeit als Kreative ist.
 
 
Frage: Wie haben das Leben und das Studium in Deutschland während der letzten Jahre Sie verändert?
 
Antwort: Am offensichtlichsten gilt das für die Art des Lernens in Deutschland, die mich dazu gebracht hat, mit größerem Selbstvertrauen meine Meinung zu äußern und wodurch ich gelernt habe, selbst die abstrusesten Ideen, die in meinem Kopf herumschwirren, zu ernst zu nehmen und zu schätzen.
 
Was das Leben in Deutschland angeht, hat sich für mich vor allem der Lebensrhythmus verändert. Ich bin in Taipei aufgewachsen und dachte immer, dass ich mit dem Motorroller schneller fahren muss, damit die Leute hinter mir nicht auf mich auffahren. Meine Freunde nannten mich daher scherzhaft „das Stadtmädchen, das dem Wind hinterher rennt“. Jetzt lebe ich in der bekannten deutschen „Fahrradstadt“, im Stadtzentrum sind die Straßen gepflastert und für Autos ist der Zugang gesperrt. Wenn die Leute nicht zu Fuß unterwegs sind, nehmen sie das Fahrrad. Da man nicht mehr mit einer solchen Geschwindigkeit unterwegs ist, betrachtet man auch das Geschehen in der Welt mit einer reduzierten Geschwindigkeit.
 
Eine weitere Veränderung besteht darin, dass ich Alltägliches mehr zu schätzen lernte. In Deutschland ist es nicht so praktisch, außer Haus zu essen, daher koche ich jetzt eher selbst oder koche mit Freunden und pflanze zu Hause selbst Gewürze und Gemüse an. Jede Woche unterhalte ich mich auf dem Wochenmarkt mit Verkäufern am Käse- und Fleischstand, wir tauschen Rezepte aus und ich höre dem Gemüsebauern zum wenn er mir erzählt, welche neue Sorte er entdeckt hat oder ich sammle auf dem Flohmarkt oder am Buchstand alte Sachen und gebrauchte Bücher. Diese einfachen kleinen Freuden genieße ich sehr.
 
 
Frage: Bitte erläutern Sie, welche Techniken Sie in Ihrem Buch „Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin“ verwendet haben? Weshalb haben Sie sie auf diese Weise verwendet?
 
Antwort: Ich verwende die Technik der sogenannten „Mixed Media“, zum Einsatz kamen also Acrylfarben, Buntstifte, Stempel und Collagen. Mixed Media gefällt mir sehr, denn durch diese Art des kreativen Arbeitens kann ich verschiedene Materialien in eine Illustration einbringen und den ursprünglichen Kontext durchbrechen und auf diese Weise neue visuelle Impulse und Ebenen symbolischer Bedeutung schaffen.
 
Außerdem, im Unterschied zum bloßen Malen kann ich vor dem Aufkleben der Materialien verschiedene Kompositionen ausprobieren und Objekte im Bild austauschen, bis ich die passende Haptik und Aufbau gefunden habe. Diesen Prozess des allmählichen Sichannäherns finde ich sehr interessant und er kommt meinem Denkansatz am Nächsten.
 
 
Frage: Das Thema dieses Kinderbuchs ist die Flucht, dabei denkt man natürlich an die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Deutschland in den vergangenen zwei Jahren aufgenommen hat. Und die Kinder überall im Land haben nun viele Flüchtlingskinder als neue Mitschüler bekommen. Hat dieser Zustrom von Flüchtlingen etwas damit zu tun, dass Sie dieses Buch gemacht haben? Möchten Sie mithilfe der Geschichte von Frau Fittko die Kinder dazu ermuntern, Flüchtlingen zu helfen?

Antwort: Auf jeden Fall! Das Buch hat sehr viel mit den Flüchtlingen zu tun! Als ich im Sommer 2015 meine Abschlussarbeit vorbereitete, sendete das Fernsehen gerade Berichte über die Flüchtlinge, die unter großen Opfern nach Europa unterwegs waren. Ich entschloss mich dann auf der Stelle, mir dies zum Thema für ein Kinderbilderbuch zu nehmen. Es war mir klar, dass dieses Thema sehr bald für die Kinder in Europa zu einem Teil ihres Alltags werden würde und wollte daher eine Version schaffen, mit der die Kinder über diese Erfahrung im Leben sprechen und nachdenken können.

 
Frage: Sie haben in Ihrem Buch erwähnt, dass das Regime der Meinung ist, dass „außergewöhnliche Ideen sehr, sehr gefährlich seien“, weshalb sie Soldaten von Tür zu Tür schicken, um Dissidenten festzunehmen und Benjamin, „dessen Kopf brillante Ideen aller Art ist“, nichts anderes übrig bleibt, als die Flucht zu ergreifen. Obwohl diese Geschichte in Nazi-Deutschland spielt, liest sie sich doch so, dass sie von allgemeiner Bedeutung ist und lässt mich dabei auch an andere diktatorische Regime denken.

Antwort: Gerade als ich darüber nachdachte, wie ich einen Zugang zu dem Thema bekommen kann, entdeckte ich einen Text in einer Ausstellung des Literaturmuseums der Moderne, der beschrieb, wie die Flucht des von den Nazis verfolgten Philosophen Walter Benjamin an der spanischen Grenze scheiterte und wie seitdem der Koffer, den er bei sich hatte, unauffindbar ist. Als ich diesen Text las, war ich auf der Stelle davon fasziniert und begann, überall Material dazu zu suchen. Und dabei entdeckte ich auch, dass das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte merkwürdigerweise viele Parallelen zum Schicksal der Flüchtlinge von heute aufweist.

Mir erschien dieser geheimnisvolle Koffer wie der Schatz auf einer verlorenen Schatzsucherkarte, wobei es nicht möglich ist, einfach auf der Basis der Karte das zu finden, was man sucht. Doch genau das eröffnet der Phantasie ungeahnte Möglichkeiten, weil wir so wenig darüber wissen. Und zugleich sagt es viel aus über das Böse und Absurde in der Welt, das wir nicht rational erfassen und nicht ertragen können. In dieser Geschichte habe ich die Wörter „Nazi“ und „Jude“ absichtlich nicht verwendet, weil es mir mit diesem Buch nicht nur um den Totalitarismus geht. Ich habe auch nicht allzu viel über die Not der Flüchtlinge geschrieben, sondern habe diese Geschichte vielmehr fast in der Art einer Fabel behandelt, um die Geschichte des Buches so weit wie möglich offen zu halten.

In der Menschheitsgeschichte finden wir problemlos immer wieder Beispiele, in denen die Menschen Gründe fanden, bestimmte Gruppen oder Völker zu hassen oder sie auszugrenzen. Wie kommt Verfolgung zustande? Wenn Verfolgung geschieht, welche Wahlmöglichkeiten haben dann die Täter, die Komplizen der Täter, die schweigenden Mitmenschen und diejenigen, die den Verfolgten helfen? Sollten wir uns selbst in einer dieser Rollen wiederfinden, welche Wahl würden wir treffen? Was würden wir in unseren eigenen Koffer packen? Ich möchte damit die Werte des Respekts und der Toleranz vermitteln.
 

Frage: Jetzt, da Ihr erstes Kinderbuch so gute Kritiken bekommen hat, erzählen Sie doch mal, wie Sie sich dabei fühlen?
 
Antwort: Ehrlich gesagt, ich bin vollkommen überrascht und habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich von so vielen Leserinnen und Lesern unterschiedlichen Alters so viele Rückmeldungen bekommen würde. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich daran festgehalten habe, die Arbeit an diesem schwierigen Sujet zum Abschluss bringen zu können.
 
Eigentlich war dieses Buch nur meine Abschlussarbeit, deshalb habe ich einfach die Geschichte erzählt, die mir am meisten am Herzen lag. Und es packte mich auch ein bisschen der Ehrgeiz, dass ich sehen wollte, ob ich es schaffen würde, Kinderliteratur auf Deutsch zu schreiben, weshalb ich mich ganz besonders über die lobenden Rezensionen freue.
 
 
Frage: Deutsche Kinderbücher sind weltweit sehr bekannt. Erzählen Sie doch mal aus der Sicht einer Kunstschaffenden, welche Themen in deutschen Bilderbüchern häufig vorkommen und wie das kreative Umfeld insgesamt ist.
 
Antwort: Im Vergleich zu Taiwan ist die Auswahl an Themen in Deutschland eher gewagt und man hat keine Angst davor, auch politische Themen anzusprechen. Dazu gehören etwa Themen wie Patchworkfamilien, die gleichgeschlechtliche Ehe und Flüchtlinge. Die Eltern und die Lehrer sind auch sehr engagiert dabei, Kindern durch Bilderbücher die Politik und internationale Entwicklungen nahezubringen. In den letzten ein oder zwei Jahren - mein eigenes Buch zählt auch dazu - haben renommierte Verlage Bilderbücher zur Flüchtlingsproblematik herausgebracht.
 
Für Kreative ist es sehr wichtig, ein regelmäßiges Einkommen zu haben. In Deutschland gibt es die VG Bild-Kunst, die für Bildende Künstler die Verwertung von Urheberrechten übernimmt. Sie kümmert sich darum, die Vergütungen für solche Rechte einzutreiben und nimmt den Künstlern dadurch viel Arbeit ab. Die Regierung finanziert auch die Künstlersozialversicherung mit, wozu die Krankenversicherung und Versorgung mit einer Rente gehören. Um das kreative Arbeiten zu fördern, werden an vielen Orten in Deutschland Stipendien vergeben und Wettbewerbe ausgerichtet. Beispielsweise war ich kürzlich in Saarbrücken an der deutsch-französischen Grenze, um an der Europäischen Kinder- und Jugendbuchmesse teilzunehmen. Dort lernte ich Illustratoren aus den Niederlanden, aus Spanien, der Schweiz und aus Frankreich kennen und zusammen mit Kindern vor Ort und aus Frankreich führte ich eine Bastelstunde durch und zeigte ihnen, wie man Illustrationen macht.
 
 
Frage: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft? Werden Sie weiterhin Bilderbücher machen?
 
Antwort: Ich möchte gerne weiter Bilderbücher machen und als Illustratorin arbeiten. Das nächste Buch, an dem ich gerade arbeite, ist eine Kooperation.
Ich arbeite dabei mit der deutschen Autorin Antonie Schneider zusammen und es ist eine Geschichte, in der es um Schnee geht. Meine Inspiration dafür stammt aus Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“. Das Hauptthema dabei sind Vorstellungen von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit, Respekt und Frieden. Das Buch soll im Herbst 2018 erscheinen.