Interview mit dem Schriftsteller Wu Ming-Yi
„In Taiwan fehlt Geld für Übersetzungen“

Wu Ming-Yi
© Wu Ming-Yi

Wu Ming-Yi ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der taiwanischen Gegenwartsliteratur. Hier spricht er über seine Nominierung für den Man Booker International Prize, seine koreanische Kollegin Han Kang und die Gründe für die geringe internationale Bekanntheit taiwanischer Autoren.

Maximilian Kalkhof: Herr Wu, herzlichen Glückwunsch! Ihr Roman „The Stolen Bicycle“ wurde dieses Jahr für die Longlist des Man Booker International Prize nominiert. Der Man Booker International Prize ist einer der renommiertesten Literaturpreise, der jährlich einen fremdsprachigen, ins Englische übersetzten und im Vereinigten Königreich veröffentlichten Roman auszeichnet. Aber Ihre Nominierung wurde von politischem Ärger überschattet. Auf der Homepage des Preises wurde Ihr Heimatland zunächst mit „Taiwan“ angegeben. Nach einer Weile stand dort plötzlich „Taiwan, China“. Wie haben sie von diesem Schritt erfahren?
 
Es gibt bei diesem Vorfall ein paar Dinge, die ich nicht ansprechen kann. Das taiwanische Außenministerium hat mich bei der Lösung des Problems unterstützt und mich gebeten, diskret mit den Details umzugehen. Aber zur Frage: Ich bemerkte die Änderung nicht selbst. Ich wurde darauf hingewiesen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.
 
Maximilian Kalkhof: Sie veröffentlichten einen Facebook-Post, in dem Sie schrieben, dass die neue Bezeichnung „nicht meiner persönlichen Position in dieser Angelegenheit“ entspreche. 
 
Ich beriet mich mit meinem Agenten, welche Möglichkeiten ich habe, mein Missfallen zum Ausdruck zu bringen. Dann entschied ich mich für einen Facebook-Post.
 
Maximilian Kalkhof: China drängt derzeit viele Unternehmen und Organisationen, Taiwan als Teil Chinas zu bezeichnen. Ist Ihnen in der Vergangenheit schon einmal etwas Ähnliches passiert?
 
Ich habe einmal an einem Literaturfestival im Ausland teilgenommen, auf dem meine Biografie im Festivalkatalog verfälscht wurde. 
 
Maximilian Kalkhof: Wie haben Sie damals reagiert?
 
Da ließ sich nichts machen. Jemand hatte von Hand „China“ unter meinen Namen geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wer das gemacht hat.
 
Maximilian Kalkhof: China isoliert Taiwan außenpolitisch. Schränkt diese Isolationspolitik den Spielraum der taiwanischen Künstler ein?
 
China kann unsere Freiheit nicht einschränken. Schauen Sie sich nur die taiwanischen Verlage an. Die sind so frei wie fast nirgendwo in Asien. Es gibt so gut wie keine künstlerische Position, die einem taiwanischen Verlag zu frech ist. 

Maximilian Kalkhof: Aber China kann den Spielraum von Kunst einschränken, indem es die Verbreitung im eigenen Land verbietet. Erst jüngst wurde der taiwanische Kinofilm „Missing Johnny“ in China verboten, weil der Hauptdarsteller für die formale Unabhängigkeit Taiwans eintreten soll. Sind Ihre Romane in China verboten?
 
Natürlich kommt so etwas vor. China verbietet ja alles mögliche. Das Land verbietet sogar die Romane seiner eigenen Schriftsteller. Yan Lianke zum Beispiel. Der stand schon auf der Shortlist des Man Booker International Prize. Aber in China steht er auf dem Index. Generell gilt ja: Wenn du in deinem Roman etwas schreibst, das der Kommunistischen Partei nicht passt, dann wird dein Buch verboten, unabhängig davon, ob du aus Taiwan kommst oder aus Amerika. Meine Romane werden in China verlegt. Aber ich weiß nicht, ob sich die Situation seit dem Booker-Prize-Vorfall verändert hat.
 
Maximilian Kalkhof: Sie sind der erste taiwanische Schriftsteller, der für den Booker Prize nominiert worden ist. Warum erhalten Autoren aus Taiwan selten internationale Preise?
 
Dafür gibt es mehrere Gründe. Taiwanische Literatur ist nicht so stark in den internationalen Literaturbetrieb eingebunden. Wenn Schriftsteller aus Taiwan übersetzt werden, finden die Übersetzungen meist nur in akademischen Kreisen Beachtung. Ein anderer Grund liegt im Stil der taiwanischen Literatur: Sie ist sehr handlungsgetrieben: Es wird viel Mühe darauf verwendet, die Handlung voranzutreiben. Das führt dazu, dass sie im Westen nicht so leicht angenommen wird.
  Wu Ming-Yi © Wu Ming-Yi Maximilian Kalkhof: Warum ist taiwanische Literatur nicht so stark in den internationalen Literaturbetrieb eingebunden? 
 
Weil die Verlage, die taiwanische Literatur für westliche Leser übersetzen, keine kommerziellen Verlage sind, sondern akademische. Der Marktanteil dieser Universitätsverlage ist gering. Deshalb ist es für taiwanische Schriftsteller so gut wie unmöglich, sich einen Ruf aufzubauen, geschweige denn, einen Hype auszulösen. Die meisten Autoren haben nicht mal einen Literaturagenten, der sich um den Verkauf der Rechte ins Ausland kümmert. 
 
Maximilian Kalkhof: Ist die Isolation Taiwans durch China nicht auch ein Grund für die geringe Bekanntheit taiwanischer Autoren im Ausland? 
 
Nicht unbedingt. Manchmal interessieren sich westliche Leser ja gerade aus politischen Gründen für Romane aus China. Die politische Situation eines Landes kann für den Leser ein Anreiz sein, sich für die Literatur dieses Landes zu interessieren. Das gilt auch für Taiwan.
 
Maximilian Kalkhof: Denken Sie da an ein konkretes Beispiel? 
 
Es ist ja beispielsweise so, dass den Autoren von Romanen, die in China verboten sind, im Westen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit sicher ist. 
 
Maximilian Kalkhof: Der „Hard Power“ Taiwans, also den militärischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, andere Länder zu beeinflussen, sind enge Grenzen gesetzt. Man hört in Taiwan aber oft, dass das Land über beträchtliche „Soft Power“ verfüge, also über eine kulturelle Attraktivität, mit der es Einfluss nehmen könne. Ist das so? 
 
Ich denke, da muss man differenzieren. Taiwanische Verlage zum Beispiel haben so gut wie keine „Soft Power“, sie werden im Westen ja kaum beachtet. Aber es gibt andere Dinge, die ich als „Soft Power“ empfinde. In der Literatur ist das zum Beispiel die Vielsprachigkeit. Um die Lebenswirklichkeit in Taiwan zu beschreiben, muss man als Schriftsteller mehrere Sprachen verwenden, Chinesisch, Taiwanisch, Japanisch, manchmal auch die Sprachen der Ureinwohner. Das unterscheidet die Literatur Taiwans zum Beispiel von der Literatur Chinas.
 
Maximilian Kalkhof: Taiwan vergleicht sich international gerne mit Südkorea. Beide Länder sind relativ klein, haben eine Militärdiktatur hinter sich und blicken auf eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte zurück. Aber in den vergangenen Jahren hat Südkorea – im Gegensatz zu Taiwan – einen internationalen Literaturstar hervorgebracht: die Autorin Han Kang. Sie hat 2016 mit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ den Man Booker International Prize gewonnen. In diesem Jahr stand sie schon wieder auf der Shortlist, dieses Mal mit „The White Book“. Was macht Südkorea besser als Taiwan?
 
Ich kenne mich mit dem koreanischen Literaturbetrieb nicht so gut aus, aber ich habe Han Kangs Romane gelesen. Ich denke, die Voraussetzung für international erfolgreiche Literatur ist, wie bei aller Kunst: die Qualität. Die muss stimmen. Wenn ein Roman nicht gut ist, lässt sich auch kein internationaler Erfolg aus ihm machen. Aber ich denke, es gibt in Korea noch ein anderes Erfolgsgeheimnis. So weit ich weiß, beläuft sich das Budget, mit dem der Staat die Übersetzung von Romanen unterstützt, auf mehr als das Zwanzigfache dessen, was Taiwan für Übersetzungen ausgibt. Taiwan gibt jährlich nur ein paar Millionen Taiwan-Dollar für Übersetzungszuschüsse aus. Das steht in keinem Verhältnis.

Wu Ming-Yi © Wu Ming-Yi Maximilian Kalkhof: In Taiwan fehlt Geld für Übersetzungen? 

Ja, absolut. Übersetzung bedeutet ja nicht nur, einen Roman in eine andere Sprache zu übertragen. Der Übersetzer muss sowohl die Ausgangssprache als auch die Zielsprache ausgezeichnet beherrschen und in der Lage sein, einen eigenen literarischen Stil zu entwickeln. Und gute Übersetzer haben ein Recht auf ein angemessenes Honorar. Aber wenn man in Taiwan Zuschüsse für eine Übersetzung beantragt, kann man maximal mit ein paar hunderttausend Taiwan-Dollar rechnen. Das ist für einen Roman nicht genug. Soweit ich es beurteilen kann, ist der Anteil von Han Kangs englischer Übersetzerin, Deborah Smith, an dem Erfolg von Han Kang sehr groß. 
 
Maximilian Kalkhof: Wie betrachten Sie das Verhältnis von Roman und Übersetzung? Ist die Übersetzung noch Ihr Roman? Oder schon ein Roman Ihres englischen Übersetzers, des Kanadiers Darryl Sterk? 
 
Für mich ist die Übersetzung ein unabhängiger Roman, der in einem Verhältnis zu meinem Roman steht. Der Grund dafür ist, dass der Übersetzer ständig entscheiden muss: Was ist übersetzbar? Was übernehme ich? Was verwerfe ich? Rhythmus und Stil jeder Sprache sind anders. Der Übersetzer braucht eine hohe Sensibilität: Einerseits darf er nicht einfach Dinge nach seinem Gutdünken ändern. Andererseits muss er der Zielsprache gerecht werden. In gewisser Weise ist er also auch ein Urheber.