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Berlinale 2020
Neustart mit Widrigkeiten

Elio Germano, Paula Beer und Baran Rasoulof bei der Preisgala der Berlinale 2020
Elio Germano, Paula Beer und Baran Rasoulof bei der Preisgala der Berlinale 2020 | Foto (Detail): © dpa/Nicole Kubelka/Geisler-Fotopress

Die 70. Berlinale war die Premiere für das neue Leitungsteam Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Konnten sie die Berlinale künstlerisch und kuratorisch in Fahrt bringen?

Von Ula Brunner

Auch im ersten Jahr der neuen Ära hat sich die Berlinale ihren Ruf als das politischste unter den A-Festival bewahrt: Ein Abtreibungsdrama und ein berührender Appell gegen die Todesstrafe haben bei der großen Gala die wichtigsten Preise gewonnen. Der Goldene Bär ging an There is No Evil des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof. Sein Episodenfilm ist ein kunstvoll verdichteter Appell gegen die Todesstrafe in seiner Heimat. Er zeige, so die Berlinale-Jury, auf welche Weise totalitäre Systeme Menschen zu unmenschlichem Handeln zwinge.

„Sheytan vojud nadarad“ („Es gibt kein Böses“). Goldener Bär 2020. Regie: Mohammad Rasoulof. Im Bild: Ehsan Mirhosseini. Berlinale Wettbewerb 2020 „Sheytan vojud nadarad“ („Es gibt kein Böses“). Goldener Bär 2020. Regie: Mohammad Rasoulof. Im Bild: Ehsan Mirhosseini. Berlinale Wettbewerb 2020 | Foto (Detail): © Cosmopol Film
Dass There Is No Evil durch den Hauptpreis eine exponierte Plattform auf der Berlinale erhielt, führt eine Tradition fort: Immer wieder hat sich das Festival für iranische Filmschaffende stark gemacht, die trotz Repressalien, Zensur oder Gefängnis ihre künstlerische Arbeit weiterverfolgen. 2011 gewann Ashgar Farhadi mit Nader und Simin als erster iranischer Film einen Goldenen Bären. 2015 ging der Hauptpreis an Jafar Panahi für Taxi Teheran. Wie Panahi wurde auch Rasoulof die Ausreise verweigert. Seine Tochter Baran und Koproduzent Kaveh Farnam nahmen stattdessen die Auszeichnung entgegen.

Abtreibungsdrama mit politischer Brisanz

Erstmals im Wettbewerb vertreten war die US-Independent-Filmerin Eliza Hittman. Ihr stilles Abtreibungsdrama Never Rarely Sometimes Always gewann den Großen Preis der Jury. Zwei Teenager reisen vom ländlichen Pennsylvania nach New York, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.
„Never Rarely Sometimes Always“. Regie: Eliza Hittman „Never Rarely Sometimes Always“. Regie: Eliza Hittman | Foto (Detail): © Courtesy of Focus Features
Der Film erzählt unaufgeregt, wie es sich für eine junge Frau anfühlt, sich in einer männlich dominierten Gesellschaft zu behaupten. Ein wichtiges Werk, das angesichts der restriktiven Abtreibungsgesetze in den USA unter Präsident Donald Trump zunehmend an Brisanz gewinnt.

Silbernern Bär für die Meerjungfrau

Bereits zum fünften Mal war Christian Petzold im Wettbewerb. Sein Beitrag Undine überträgt das Märchen der Meerjungfrau in die Gegenwart und verbindet es mit einem Diskurs über die Berliner Stadtgeschichte.
Paula Beer und Franz Rogowski in Christian Petzolds Film „Undine“ Paula Beer und Franz Rogowski in Christian Petzolds Film „Undine“ | Foto (Detail): © Hans Fromm/Schramm Film
Dass Paula Beer für die Titelrolle als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, brachte zumindest einen Silbernen Bären nach Deutschland. Berlin Alexanderplatz, Burhan Qurbanis Neuverfilmung von Alfred Döblins Großstadtroman, ging hingegen leer aus.

Viele Bekannte im Wettbewerb

Beim diesjährigen Filmfestival in Berlin konkurrierten 18 internationale Filme um den Goldenen und die sieben Silbernen Bären. Dabei hatte der neue künstlerische Leiter Carlo Chatrian vor allem auf etablierte Autorenfilmerinnen und -filmer gesetzt: Vertreten waren neben Petzold etwa der Südkoreaner Hong Sang-soo (Silberner Bär Beste Regie: The Woman Who Ran), Benoît Delépine und Gustave Kervern (Silberner Bär – 70. Berlinale: Delete History), Sally Potter (The Roads Not Taken) oder Philippe Garell (The Salt of Tears). Zwar zeigten nicht alle künstlerische Hochleistungen, doch insgesamt bewies der Wettbewerb viel Mut zu außergewöhnlichen Erzählformen.

Organisatorische Schwierigkeiten

Rein organisatorisch hatte das neue Leitungsduo mit einigen Widrigkeiten zu kämpfen: So führten etwa Erkenntnisse über die NS-Verflechtungen des ersten Berlinale-Chefs dazu, dass der renommierte Alfred-Bauer-Preis ausgesetzt werden musste. Jury Präsident Jeremy Irons geriet wegen früherer frauenfeindlicher Äußerungen in die Kritik. Und die rechtsextremistischen Terroranschläge in Hanau warfen dunkle Schatten auf die Eröffnung am 20. Februar. Mit einer Schweigeminute gedachten die Gala-Gäste der Opfer.

Haben die Neuen alles neu gemacht?

Spekulationen und Hoffnungen waren der ersten Berlinale unter neuer Führung vorausgegangen. Denn das Festival war zuletzt verstärkt in die Kritik geraten: zu viele Filme und Sektionen, sinkende Qualität des Wettbewerbs. So drehten sich viele Gespräche um die Frage: Haben es die Neuen geschafft, das Festival cineastischer auszurichten?
Carlo Chatrian, Mariette Rissenbeek, Berlinale-Leitung 2020 Carlo Chatrian, Mariette Rissenbeek, Berlinale-Leitung 2020 | Foto (Detail): © Alexander Janetzko/Berlinale 2019
Nun, Rissenbeek und Chatrian haben einiges getan, um die Berlinale künstlerisch und kuratorisch in Fahrt zu bringen. Vier Sektionen stehen unter neuer Leitung, das gesamte Programm wurde deutlich verschlankt. Hollywoodproduktionen wie Minamata mit Johnny Depp oder der Eröffnungsfilm My Salinger Year mit Sigourney Weaver liefen jetzt in der Berlinale Special Gala – was weiterhin für einen gewissen Glamour sorgte.

Der Umbau wird andauern

Die neue kompetitive Sektion Encounters muss sich freilich noch bewähren. Zwar präsentierte sich hier eine durchaus aufregende Werkschau unabhängigen Filmschaffens: von Cristi Puius Debattenfilm Malmkrog über Heinz Emigholz' Essay Die letzte Stadt bis hin zu Nackte Tiere, dem eigenwilligen Filmdebüt von Melanie Waelde. Doch es bleibt die Frage, ob sich Chatrian mit dem zusätzlichen Wettbewerb nicht selbst das Wasser abgräbt oder die ähnlich innovativ ausgerichtete Sektion Forum schwächt.

Eines ist klar: Der gerade zielstrebig begonnene Umbau wird noch andauern, und nicht damit enden, die Berlinale komplett neu zu erfinden. Weltstars und berühmte Autorenfilmer werden auch künftig Cannes und Venedig dem frostigen Berlin vorziehen. Hinzu kommt ein fundamentaler Wandel in der Medienwelt, Streaming-Dienste schwächen die Kinoindustrie. Das macht es den A-Festivals zunehmend schwerer, ihre kompetitiven Sektionen mit herausragenden Filmen zu bestücken. Wunder kann die neue Doppelspitze nicht vollbringen. Aber ihre Berlinale-Premiere beweist: Der Weg, den sie eingeschlagen hat, geht in die richtige Richtung.

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