Proteste der Jugend
Eine Chance auf Veränderung

Die Jugend hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Jugendliche engagieren sich politisch stärker, wenn sie glauben, dass sie Einfluss nehmen können und mit ihren Anliegen gehört werden.
Die Jugend hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Jugendliche engagieren sich politisch stärker, wenn sie glauben, dass sie Einfluss nehmen können und mit ihren Anliegen gehört werden. | © Alex Radelich, unsplash

Fridays for Future, BLM, MeToo, #Leavenoonebehind: Dass es Jugendliche zum Protest auf die Straße treibt, ist vor allem Ausdruck einer grundlegenden Unzufriedenheit mit der Politik. Es ist aber auch ein Signal, dass sie den Glauben an Veränderung noch nicht aufgegeben haben. Diese Stärke beweisen sie aktuell auch bei Solidaritätskundgebungen für die Ukraine.
 

Die Jugend in Deutschland ist politisch. Dies zeigt sich unter anderem an den beiden Themen, die in der Jugendforschung regelmäßig als ihre wichtigsten Anliegen identifiziert werden: die Klimakatastrophe sowie gesellschaftliche Diversität und Gleichberechtigung. In den letzten zwei Jahren kamen, wenig überraschend, die mit der Coronakrise einhergehenden Folgen für Ausbildung, Arbeitsplatz und Gesundheit als Thema hinzu. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bringt Frieden und Solidarität mit Geflüchteten zurück auf die Liste der drängendsten Themen.

Jugendliche und junge Erwachsene wollen mit ihren Perspektiven gehört werden und sich engagieren. Bei der Form des politischen Engagements, das sie dafür wählen, sind die Trends seit Jahren ungebrochen: Klassische Wege politischer Teilhabe über Parteien, Gewerkschaften und andere Großorganisationen verlieren an Bedeutung gegenüber dem themenbezogenen Engagement in Initiativen, Protesten und sozialen Bewegungen. Diese werden häufig von Jugendlichen selbst gestaltet. Dort können sie sich konkret und sichtbar für ihre Anliegen einsetzen. Das politische Interesse und Engagement sind jedoch stark davon abhängig, ob Jugendliche glauben, Einfluss nehmen zu können. Ob sie eine solche „Selbstwirksamkeitserwartung“ haben, steht dabei in engem Zusammenhang mit ihren sozioökonomischen Ressourcen und der positiven Alltagserfahrung, mit ihren Anliegen gehört und ernstgenommen zu werden.

Mit Blick auf die wichtigsten öffentlichkeitswirksamen Statements der jungen Generation in jüngster Zeit – neben „Fridays for Future“ zum Beispiel „Black lives matter“-Aktionen oder Proteste gegen bestimmte Regulierungsvorhaben des Internets – wird deutlich: Getragen wird dieses Engagement sowohl von der Forderung nach verbindlichen Regelungen und einem eher positiven Begriff fortschreitender Demokratisierung als auch von dem Wunsch nach persönlicher Freiheit und dem Respekt für Vielfalt. Die Proteste sind zudem transnational und digital vernetzt. Junge Aktivist*innen greifen ähnliche Themen in ihren Ländern auf und lernen voneinander, getreu dem Motto: „Think global, act local.“

 

Ausdruck einer Zeitenwende

Folgt man der These des Soziologen Andreas Reckwitz in seinem Werk Das Ende der Illusionen von 2019, so stehen die liberal-demokratischen, pluralistischen Systeme des Westens am Übergang zu einem neuen politischen Zeitalter. Die Zeit des öffnenden Liberalismus, der seit den 1980er-Jahren die Politik geprägt hat, geht zu Ende. Kennzeichnend für diese Phase waren Prozesse der ökonomischen, aber auch soziokulturellen Globalisierung einerseits und einer gesellschaftlichen Liberalisierung andererseits.

Die Proteste der Jugend lassen sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck eines doppelten Wunsches lesen: Sie verdeutlichen das dringende Anliegen, die Wirtschaft global stärker zu regulieren und Alternativen zum aktuellen Wirtschaftsmodell zu finden, das auf der Illusion endlosen Wachstums basiert und die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in nächster Zukunft zu zerstören droht. Sie stehen aber auch für eine hohe Identifikation mit den Errungenschaften gesellschaftlicher Liberalisierung und der Suche nach einer neuen Verbindung von Vielfalt, Gemeinsinn und sozialem Ausgleich. Was Reckwitz als neues Paradigma eines „regulativen, einbettenden Liberalismus“ beschreibt, ist jedoch erst im Entstehen begriffen, und die Herausforderungen sind hoch: die Klimakrise, die disruptiven Auswirkungen der Globalisierung, wachsende Ungleichheit und die Infragestellung der liberalen Demokratie durch aggressive autoritäre Regime von außen und (rechts-)populistische Akteure im Innern.
 

Chance für eine grundlegende Transformation

Gesellschaft, Politik und Bildungssysteme tun gut daran, die Proteste der Jugend als Chance und als Ressource für die notwendige Transformation zu begreifen. Proteste markieren in unserer Demokratie nach dem Soziologen Armin Nassehi Grundkonflikte, die nicht mit den üblichen Routinen und Mechanismen aufzulösen sind. Sie machen Unzufriedenheit der Bürger*innen deutlich und zwingen Entscheidungsträger*innen, dazu Stellung zu beziehen. Dieser emanzipatorisch-progressive Protest ist unbequem, denn er schafft Sichtbarkeit und Dringlichkeit für nicht gelöste Probleme. Doch erst so entstehen die Freiräume, in denen das Neue in die Welt kommen kann.

Die Anliegen und Formen aktueller Proteste sollten daher als Ausdruck einer grundlegenden Unzufriedenheit mit einer Politik anerkannt werden, die trotz lange bekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Klimakatastrophe keine überzeugenden Antworten gefunden hat. Sie sind aber auch als Signal einer Generation zu deuten, die den Glauben an die Möglichkeit der Veränderung nicht aufgeben will. Die aktuelle Herausforderung durch den russischen Angriff auf die Ukraine macht dabei deutlich: Sich an Protesten und in sozialen Bewegungen zu beteiligen, ist für Jugendliche eine prägende Erfahrung. Sie werden empowered, individuell und kollektiv ihre Perspektiven zu Gehör und damit etwas in Bewegung zu bringen. Diese Stärke und ihre Sensibilität für globale Zusammenhänge beweisen sie jetzt bei Solidaritätskundgebungen für die Ukraine.

Seenotrettung: Von Rechten und Pflichten

Wo die Unzufriedenheit groß ist, bleibt es nicht bei friedlichen Demonstrationen: Immer wieder werden Jugendliche und Erwachsene auch darüber hinaus aktiv, blockieren in zivilem Ungehorsam Kraftwerke oder Autobahnen oder engagieren sich für konkrete Anliegen. Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren die Seenotrettung auf sich gezogen: Aus Wut über die Untätigkeit der EU und ihre Mitgliedsstaaten angesichts von Tausenden Menschen, die jährlich auf ihrem Weg nach Europa ertrinken, durchfahren Aktivist*innen mit Schiffen das Mittelmeer, um Schiffbrüchige zu retten. Immer wieder stehen sie in der Kritik. Wie ist die rechtliche Lage – ist Seenotrettung kriminell oder unsere Pflicht? Ein Gespräch mit dem Juristen und Menschenrechtsanwalt Manfred Nowak über die völkerrechtliche Pflicht der Seenotrettung.

Es gibt das Völkerrecht, das humanitäre Menschenrecht, das internationale Seerecht – besteht beim Thema Seenotrettung irgendein rechtsfreier Raum?

Ich meine, dass es keinen rechtsfreien Raum gibt. Es ist in der UN-Seerechtskonvention festgelegt, dass Schiffbrüchigen geholfen werden muss. Wer auch immer auf See sieht, dass jemand in Seenot ist, hat die Verpflichtung zu helfen. Das zweite ist, dass der Staat – und das betrifft den Menschenrechtsbereich – die prinzipielle Verpflichtung hat, Leben zu schützen.

Worauf fußen die Debatten dann rein rechtlich?

Argumentation der Regierungen ist, dass es sich um keine normalen Schiffbrüchigen handelt. An sich haben zwar Flüchtlinge das Recht, in einem anderen Staat um Asyl anzusuchen, nicht aber Migranten das Recht auf Einreise. Im Wesentlichen sind jene, die über Libyen kommen, ja Migranten aus Afrika. Und es sind auch keine normalen Schiffbrüchigen. Sie werden bewusst von den Schleppern in Seenot gebracht. Wenn Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nun jene Schiffsbrüchigen retten, die von Schleppern absichtlich in Seenot gebracht wurden, dann würden sie den Schleppern ihre kriminellen Aktivitäten erleichtern. Das ist eine politische Argumentation, die aber die rechtliche Situation nicht verändert.

Es gab ja auch staatliche Seenotrettung. Jetzt nicht mehr. Ist dieser Rückzug rechtlich legitim?

Die Schutzpflicht des Staates ist keine absolute sondern viel eher eine relative. Also wie viel kann ich von einem Staat erwarten? Wie proaktiv muss er sein? Das einzelne Schiff muss aktiv werden. Aber wenn ich keine Schiffe hinausschicke, NGO-Schiffen die Arbeit erschwere? Dann verschließt man eben die Augen, aber es handelt sich dann nicht zwingend um eine Menschenrechtsverletzung.
 
Konkretes Beispiel: die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete. Sie hat sich der Landeverweigerung der italienischen Behörden entgegengesetzt.

Rechtlich ist das eine eindeutige Lage. Carola Rackete hat in einem Akt des zivilen Ungehorsams eine italienische Rechtsnorm verletzt – eben die Weisung des Innenministers. Diese Weisung war aber sicher eine Verletzung des Rechts auf Leben durch die italienische Regierung. Rackete hat eine italienische Weisung missachtet, aber ihre Aktion ist durch das Völkerrecht gedeckt.
 
Stichwort Rückführungen nach Libyen: Welche rechtlichen Grundlagen aber auch rechtlichen Bedenken bestehen da?

Wenn ich weiß, wie menschenunwürdig die Zustände in den libyschen Lagern sind, dann ist es eine Verletzung des Rückführungsverbots, Menschen dorthin zurückzubringen. Man sagt, der Staat begeht nicht nur dann eine unmenschliche Behandlung, wenn er selbst Menschen zum Beispiel schlägt, sondern auch wenn er Menschen in ein Land zurückführt, in denen eine menschenunwürdige Behandlung droht. Das ist in Libyen definitiv der Fall und wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits als eine Verletzung des Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung qualifiziert.

Das Interview führte Stefan Schocher, freier Journalist in Wien. Als Reporter bereist er Gebiete von Osteuropa über Nahost bis Zentralasien. 

 

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