Schriftsteller
Ingo Schulze

Ingo Schulze
© Privates Archiv Ingo Schulze

„Der Amerikaner, der den Kolumbus als erster entdeckte, machte eine böse Entdeckung“, schreibt Lichtenberg. Europäer außerhalb Europas zu entdecken, war tatsächlich keine gute Entdeckung.


Provinz in Europa

Kamen unsere West-Verwandten zu Besuch in die DDR, gebrauchten sie mitunter merkwürdige Redewendungen. Zum Beispiel sagten sie: „Morgen fahren wir zurück nach Deutschland.“ Wer in Charkiw, Kazan, Tirana oder Sarajewo lebt, wird heute genauso unangenehm berührt sein wie ich damals, wenn wir heute von Europa sprechen und dabei die EU meinen. 

„Der Amerikaner, der den Kolumbus als erster entdeckte, machte eine böse Entdeckung“, schreibt Lichtenberg. Europäer außerhalb Europas zu entdecken, war tatsächlich keine gute Entdeckung. Ein verantwortliches Handeln, das dieses verübte Unrecht anerkennt, drückt sich verschieden aus: als Kontrolle der Lieferketten für importierte Produkte, als Kampf gegen die EU-Agrarsubventionen, die in afrikanischen Staaten die Märkte für einheimische Bauern zerstören oder in der Diskussion über die Rückgabe von Museumsbeständen an die Herkunftsländer.

Ich lebte länger in der Kleinstadt Altenburg südlich von Leipzig. Dort gab es vor einigen Jahren eine Ausstellung mit dem Titel „Altenburg – Provinz in Europa“. Der Titel ist der Ausdruck eines europäischen Selbstverständnisses, das allerdings nur dann eine Chance hat, wenn ich in europäischen Angelegenheiten mindestens genauso mitbestimmen wie auf nationaler Ebene. Das Parlament, das wir gewählt haben, ist von diesem Anspruch noch um einiges entfernt. Und: „Seit der EuGH das Verbot marktverzerrender staatlicher Beihilfen an Unternehmen auch auf öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge erstreckt hat, kann kein Mitgliedstaat mehr selbst bestimmen, was er dem Markt überlassen und was er in Eigenregie übernehmen will.“ (Dieter Grimm) Deshalb gilt es jene Kräfte zu unterstützen, die bereit sind, die EU zu demokratisieren und ihren neoliberalen Wirtschaftskurs zu stoppen.
 

bio

Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und lebt in Berlin. Seine Bücher wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet und in 30 Sprachen übersetzt. Er ist u.a. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm »Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst« (2017) und »Die rechtschaffenen Mörder« (2020), beide im S. Fischer-Verlag.

 

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