Vielfältige Perspektiven
Chilenische Wissenschaftler in Deutschland

Der wissenschaftliche Austausch zwischen Chile und Deutschland reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Heute ist dieser Austausch institutionalisiert, es gibt vielfältige Möglichkeiten wissenschaftlicher Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern.

Ein klares Zeichen dafür sind die Vereinbarungen, die mit dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Alexander von Humboldt-Stiftung, der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft getroffen wurden, sowie die Abkommen über Studienstipendien zwischen der chilenischen CONICYT (Nationale Kommission für wissenschaftliche und technologische Forschung) und dem DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst).

Loreto Schnake Neale, Wissenschaftsattachée an der chilenischen Botschaft in Deutschland, weist darauf hin, dass die „Kooperationen in Wissenschaft und Entwicklung vor allem in bestimmten Bereichen stattfinden: Industrie (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Aquakultur), Meereskunde, erneuerbare Energien, nachhaltiger Bergbau, Polarforschung und astronomische Forschung, Neurowissenschaften, Biotechnologie und Bildung, hier vor allem die duale Ausbildung für technische Berufe.“

Der Austausch ist für beide Länder vorteilhaft, mit Schnakes Worten „stärkt und bereichert er Forschung und Entwicklung durch die Verbindung der wissenschaftlichen Gemeinschaften und durch die gemeinsame Arbeit in wissenschaftlichen Exzellenzzentren und auf einzigartigen Forschungsgebieten, so dass er zur Entwicklung beider Länder beiträgt und in wichtigen Bereichen Lösungen liefert.“

Wer sind die chilenischen Wissenschaftler in Deutschland und womit beschäftigen sie sich?

Deutschland ist noch immer ein seltenes Ziel für chilenische Studenten, jedenfalls den offiziellen Zahlen nach zu urteilen. Der chilenischen Stipendienorganisation Becas Chile zufolge erhielten zwischen 2008 und 2013 insgesamt 2030 Studenten ein Stipendium, davon gingen nur 5% (103 Studenten) nach Deutschland. Bei den Masterstudiengängen waren es im gleichen Zeitraum unter 2% (52 von 2715 Studenten). Von der CONICYT erhielten im Zeitraum von 2001 bis 2011  854 Personen ein Auslandsstipendium, davon 72 mit dem Ziel Deutschland. Es bleibt hervorzuheben, dass es eine unbestimmte Zahl von Studenten gibt, die sich anderweitig finanzieren, sei es durch eigene Mittel oder mithilfe deutscher Stiftungen, Universitäten und Studieneinrichtungen.

Die Forschungsbereiche der chilenischen Doktoranden in Deutschland sind in der folgenden Grafik zu sehen:

Die Forschungsbereiche der chilenischen Doktoranden in Deutschland sind in der folgenden Grafik zu sehen Becas Chile Netzwerke bilden – ein Interessenverband chilenischer Wissenschaftler

Das Netzwerk Red INVECA ist eine Initiative, die chilenische Wissenschaftler in Deutschland zusammenbringt. Laut Álvaro Bustos, einem der drei Direktoren des Netzwerks, „entstand die Idee aufgrund der Tatsache, dass es vor Red INVECA keine Instanz für den Austausch zwischen chilenischen Wissenschaftlern in Deutschland gab.“ Heute hat Red INVECA mehr als 120 Mitglieder, die sich einmal im Jahr versammeln. Das Markenzeichen des Netzwerks ist, dass „sich darin Wissenschaftler aus allen Disziplinen finden, deren gemeinsames Interesse es ist, einen Beitrag zu den jeweils aktuellen Fragestellungen in ihrem Land zu leisten“, sagt Eduardo Rosales, Kodirektor von Red INVECA. Doch die wichtigste Aufgabe der Red INVECA ist, Kodirektor José Manuel Brito zufolge, „einen Raum für Begegnungen zu bieten sowie ein Forum für Kontakte und Unterstützung unter den Wissenschaftlern.“

Wissenschaftler in Deutschland aus der Eigenperspektive

Chilenische Wissenschaftler in Deutschland sind zum Beispiel Jorge Atria (Doktorand der Soziologie), Dr. Macarena Marín (Promotion in Biotechnologie, zur Zeit Postdoc in München), Dr. Tomás Egaña (Promotion in Humanbiologie und Pharmakologie) und Dr. Ronny Martínez (Promotion in Technischer Biochemie), die uns kurz von ihren Erfahrungen berichten.

Der Wunsch, innovative Forschung zu betreiben – und gleichzeitig durch das Schaffen von Wissen etwas an die Gesellschaft zu weiterzugeben – sind für alle vier zentrale Aspekte. Jorge Atria hat gerade sein Buch Tributación en sociedad: Impuestos y redistribución en el Chile del siglo XXI (dt. Besteuerung in der Gesellschaft: Steuern und Umverteilung im Chile des 21. Jahrhunderts) herausgebracht und hofft, dass seine Forschung „neue Perspektiven aufzeigt, die auf die Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf unsere Institutionen, Diskurse und Alltagspraktiken aufmerksam machen und die Entwicklung konkreter politischer Strategien anregen“. Tomás Egaña erklärt, dass er und sein Team „derzeit aktiv daran arbeiten, die Technologien und die Kenntnisse, die wir in diesen letzten zehn Jahren in Deutschland erworben haben, nach Chile zu bringen“. Macarena Marín hält es ihrerseits für eine der „größten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, das Nahrungsmittelangebot durch nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken zu ergänzen“, um der Lebensmittelknappheit zu begegnen. Ronny Martínez, der zurzeit im Forschungs- und Entwicklungsbereich der Firma EW-Nutrition arbeitet, weist darauf hin, dass es „in Deutschland eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Produktionssektor und der Forschung gibt, was die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Konzepte und ihre Umsetzung in neue Produkte beschleunigt.“

Bezüglich seiner Erfahrungen in Deutschland erklärt Tomás Egaña: „Deutschland ist ein tolles Land, das dir viel bietet, dich in anderen Dingen jedoch einschränkt. Es ist ein extrem bürokratisiertes Land, und es ist sehr mühsam, Dinge voranzubringen. Außerdem sind da die Sprache und das Klima, die schließlich ihren Tribut fordern. Man kann Deutschland von außen idealisieren, aber wenn man eine Entscheidung treffen muss, sollte man wissen, worauf man sich einlässt.“ Für Jorge Atria ist das Leben in Deutschland ein Privileg, „denn man hat nicht nur die Chance, eine Zeitlang forschen zu können, sondern bekommt auch Einblicke in das Leben und einen Teil der Kultur dieses Landes.“ Ronny Martínez schließlich empfiehlt zu reisen, „rauszugehen und andere Wirklichkeiten kennenzulernen. Die Wissenschaft wird mehr Fortschritte an den Schnittstellen machen, und es reicht nicht mehr aus, nur in einem Bereich ein Experte zu sein. Man muss die Fähigkeit haben, interdisziplinär zu arbeiten, wobei man schneller vorankommt, wenn man neue Sichtweisen einbezieht.“

Die Bindung der im Ausland lebenden chilenischen Forscher an Chile ist ein zentrales Thema, denn um den chilenischen Wissenschaftlern zu ermöglichen, mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen etwas zur Entwicklung ihres Landes beizutragen, braucht es Strategien und finanzielle Mittel.