Nahaufnahme 2016
Weniger Wagen, mehr Courage

Foto: Kulla Laas/ERR/ NO99

Das Theater NO99 hat den Ruf einer avantgardistischen Bühne, die wie derzeit keine zweite in der Lage ist, politisch zu wirken. Mit Veiko Õunpuus lauer Stadttheater-Inszenierung von Bert Brechts Mutter Courage kann sie den Anspruch nicht einlösen.

Mit großer Gewalt, auf schöne Weise unschön singt, nein schmettert Maarika Vaarik und röhrt mit ihr das ganze NO99-Ensemble „Ihr hauptleut', lasst die Trommel ruhn'n, / und lasst euer Fussvolk halten an”, das „Lied der Mutter Courage”. Starrer Blick nach vorn.: Aufgestellt wie ein Chor am rechten Bühnenrand, haben alle AkteurInnen zugleich ein Instrument vor sich, und sie spielen es selbst dann, wenn's sich um ein Melodieinstrument handelt, das E-Piano, das Akkordeon, wie Schlagwerk: hart, rhyhmisch, kakophon. Bis es weh tut: „Kanonen auf die leeren Mägen/ Ihr Hauptleut' das ist ungesund”.

Aufüttelnd, ja regelrecht aggressiv beginnt die Veiko Õunpuus Inszenierung von Bert Brechts 1939 im schwedischen Exil verfassten Drama „Mutter Courage und ihre Kinder”. Das Stück erzählt in zwölf Bildern die Geschichte einer freischaffenden Marketenderin, die mit einem Wagen – von diesem Spezial-Requisit gab es in der DDR sogar eine Briefmarke – auf der Suche nach Geschäften von einem zum nächsten Schauplatz eines eher a-historischen 30-Jährigen Kriegs zieht. Der fungiert mindestens ebenso sehr als Symbol für den Kapitalismus als eines Kriegs aller gegen alle ist, wie er dem Zweiten Weltkrieg entspricht.

Die Bourgeoisie wippt mit dem Fuß

„Und was noch nicht gestorben ist / das macht sich auf die socken nun”, schreit Marika Vaarik, dass man Angst kriegt, und denkt: Das könnte ein sehr politischer Abend werden. Eine Aufführung von der man schon so lange träumt. Eine Aufführung die in der Lage wäre, das grundsätzliche Problem Brechtschen Theaters vielleicht nicht zu lösen, aber doch anzugehen. Das besteht darin, dass diese epochalen und auch großartigen Werke, mit denen ein überzeugter Kommunist so gerne einem Werktätigen-Publikum die Blaue Blume des dialektischen-historischen Materialismus gebracht hätte, auch einigermaßen tot sind.

Zu ihnen wippt die dem Autor verhasste Bourgeoisie im Takt mit den Füßen, vielleicht, wenn sie textsicher ist, summt sie ein Paar Zeilen mit: Die hat man von der Schulaufführung vor 20 Jahren noch im Kopf, sofern man in Deutschland sein Abitur abgelegt hat.

Als „abgenudelt wie eine alte Operette” hatte der bedeutende deutsche Regisseur Claus Peymann und langjährige Intendant des von Brecht gegründeten Berliner Ensemble die Werke des Hausgotts schon 2001 bezeichnet. Meint: Sie spielen ist pure Nostalgie und die ist antiproduktiv. Das aber hätte Brecht nicht sein wollen. Im Gegenteil: Ein Theater sollte aus seiner Sicht ein „Ort zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen” sein. Nicht Furcht und Mitleid, geschweige denn Harmonie und Schönheit, nein Ärger und Aufruhr soll Schauspiel herstellen.

Dieser avantgardistische Impuls kann noch leben. Und ihn aufzugreifen und zu erwecken traut man tatsächlich wenigen Gruppen so sehr zu, wie dem No99-Team. Aber das findet nicht statt: Veiko Õunpuu gelingt, daran ist nichts zu rütteln, ein schöner, ein durchaus unterhaltsamer aber komplett harmloser Theaterabend.

„Kattrin - die undankbarste Partie der deutschen Bühnenliteratur”

Vaarik ist eine tolle Mutter Courage. Und hervorragend sind die darstellerischen Leistungen, insbesondere von Gert Raudsep, der als Feldpastor ein apartes „I love Pope Francis”-Laibchen unter schwarzem Nappa-Ledermantel trägt, und die grandiose Mimik Rea Lests, die hochenergetisch den ganzen Abend die stumme Kattrin gibt, der vielleicht undankbarsten Partie der deutschen Bühnenliteratur: Sie wird vergewaltigt, entstellt, verhöhnt – und rettet dann doch, indem sie auf den Wagen ihrer Mutter steigt und vom Dach herab wild trommelt, ganz zum Schluss des Stücks die Stadt Halle vor einem nächtlichen Überraschungsangriff. Klar, dass die Opfer-Inkarnation nach so viel Aktionismus erschossen wird.

Dass Veiko Õunpuus mehr nicht gelingt, ist Folge der Idee aus dem pseudohistorischen Krieg ein komplett a-historisches Geschehen zu machen. Beim Wagen funktioniert die Abstraktion noch durch die Wucht ihrer Präsenz: Das Allerheiligste der Mutter Courage wird durch eine riesige, durch Edelrost gerötete Stahlplatten-Wand dargestellt, die sich über die ganze Breite der Bühne erstreckt und vom Lointain bis an den Vordergrund gezogen werden kann.

Die Kostüme aber wirken bestenfalls witzig – im Eingangsbild hat man statt mit Söldnern mit SportlerInnen im schnieken Tennisdress mit Schlägern der 1920er zu tun, Mutter Courage trägt anfangs ein geblümtes Kleid mit dunkler Wolljacke, später, als ihre Geschäfte besonders gut gehen, zieht sie eine das Embonpoint betonende Pailletenbluse und eine weiße Stretch-Kniebundhose an. Und sie trägt eine extragroße Kunstlackleder-Damenhandtasche, die ein rosafarbenes Portemonnaie enthält, aus dem sie am Ende für die Beerdigung ihrer Tochter zahlt.

„So unbestimmt wie möglich”

So fehlt jede Referenz, jeder klare Hinweis auf einen gemeinten Missstand – aber wozu dann die Aktualisierung des Kostüms? Während bei Brecht die artifziell zurechtgemachte Geschichte dazu dient, die (je eigene) Gegenwart zu erkennen, scheint in dieser Aktualisierung gerade das Alter des Stücks auf und seine überholte Ideologie- nicht, weil das so sein müsste, sondern weil die Modernisierung selbst so unklar so unspezifisch bleibt: Sie scheute jede direkte Bezichtigung.

Nur dort wo sie überwunden ist, wo sich Brutalität und Lust zu morden als in ekstatischen Stammestänzen choreografiert oder in Vollkörperkriegsbemalung artikuliert - wo der Text und die ästhetische Doktrin infrage gestellt sind, und das Lied zum Schrei wird, kann das Stück fesseln, quälen und bedrängen. Sonst unterhält's.

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