Literaturtreffen Mukkula
Literatur, Sauna und Fussball

Gutshof Mukkula
Gutshof Mukkula | Foto: Jari Laukkanen

Die Autorin Alva Gehrmann war kurz vor Mittsommer mit dabei.

Ob Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Herta Müller auch schon halbnackt in diesen See gesprungen sind? Es ist 22 Uhr in Mukkula. Wir stehen nur in Handtücher gehüllt und mit Dosenbier in der Hand auf der Terrasse und schauen den Kollegen zu, wie sie in den eiskalten Vesijärvi laufen. Die Wolken spiegeln sich im See, der frische Wind treibt die Wellen ans Ufer und spült die Wagemutigen schnell wieder ans Land. Danach gehen wir zurück in die Sauna, um uns aufzuwärmen. 

Seit 1963 schon treffen sich alle zwei Jahre kurz vor Mittsommer finnische und internationale Schriftsteller, Dichter und Journalisten am Rande der Stadt Lahti, um über aktuelle Themen zu diskutieren. Zu Zeiten des Kalten Krieges war Finnland ein neutraler Ort, an dem sich Autoren aus dem Westen und Osten  annähern konnten. Das weniger politische Motto dieses Mal lautet: „Writing as a Balacing Act“ und variierend auf Finnisch „Kirjailija tasapainotaiteilijana“, was so viel wie der Autor als Drahtseilkünstler bedeutet.

Zum 27. Lahti International Writers’ Reunion (LIWRE) sind über 60 Autoren aus 20 verschiedenen Ländern angereist – zum Beispiel aus Brasilien, Kanada, Japan, Serbien, Großbritannien, Estland, der Schweiz und aus Südafrika. An fünf Tagen ist die Welt zu Gast in dem neu renovierten Herrenhaus von Mukkula und dem weitläufigen Gelände, zu dem selbstverständlich zwei Saunen gehören (schließlich sind wir in Finnland); jeweils eine für Männer und eine für Frauen. 

Wir sitzen nun dicht beieinander, die Schweißtropfen perlen langsam unsere Körper herunter. Selten kommen sich Schriftstellerinnen so nah. Für die Griechin Katerina Iliopoulou ist es das erste Mal, dass sie in einer Schwitzhütte sitzt. Unsere finnischen Kolleginnen, unter ihnen Katariina Vuorinen, die 2014 auch Teil des Goethe-Projektes „Schweiß & Poesie“ war, führen vor, wie man auf finnische Art relaxt und singen traditionelle Lieder.

Später treffen wir draußen wieder unsere männlichen Kollegen, die ihre Tattoos präsentieren (erstaunlich wenige hatte welche) und sehen die Sonne nur langsam untergehen. Der Kopf rauscht von den Gesprächen des Tages, das Bier tut sein Bestes dazu.

„Für viele Ausländer ist überraschend, dass die Sauna so informell ist“, sagt Stefan Moster, der schon zum zweiten Mal beim LIWRE ist. Der deutsche Übersetzer und Buchautor lebt seit über 13 Jahren in Finnland. „Nach der Sauna hat man ein gutes Körpergefühl, ist mit sich im Reinen. Das ist auch gut für die Kommunikation und für Begegnungen.“

Der Samstagabend ist also ein guter Einstieg in das LIWRE, zu dem tagsüber stets Sessions gehören. Die Diskussionsrunden in dem weißen Zelt sind für jeden Interessierten offen und kostenlos. Auch die Gäste von außen können den Schriftstellern so nah wie selten kommen.

Einige der eingeladenen Autoren wurden vorab gebeten, Präsentationen zum Thema zu geben. Während sich die einen auf das Schreiben selbst fokussieren oder auf den Umgang mit Selfpublishing und eBooks, weist Stefan Moster in seinem Beitrag unter anderem auf die politische Verantwortung von Autoren hin. Er fühlt sich dazu verpflichtet, in einer öffentlichen Rede ebenfalls auf die aktuelle Flüchtlingskatastrophe in Europa hinzuweisen. Und er gibt Gedankenanstöße, wie man damit als Staat und als Schriftsteller umgehen kann. Er fragt: Sollte man das Thema in einen Roman einbinden? Darüber wurde anschließend mit dem Publikum diskutiert.

In den LIWRE-Sessions gibt es wie in der Sauna quasi keine Hierarchien. Das Publikum kann mitdiskutieren – und nutzt dies seit Anbeginn. Günter Grass etwa mischte sich 1981 ein und stand anschließend mit Margaret Atwood unter den prächtigen Eichenbäumen von Mukkula. Hans Magnus Enzensberger besuchte das außergewöhnliche Literaturtreffen sogar dreimal  – zuletzt 1991, wo er einer der aktivsten Diskutanten gewesen sein soll. Gemeinsam mit dem Esten Rein Raud, der in diesem Jahr ebenfalls mehrfach zum Mikrofon greift.

Die britische Schriftstellerin Anna Davis spricht in ihrer Präsentation über ihre Erfahrungen als Direktorin einer Schreibakademie sowie über das seltsame Jagen mancher Literaturagenten und Verlage nach trendigen Themen. Davis offenbart ihre eigene Schaffenskrise und die Angst vor der Abgabe des neuen Werkes. Dann erinnert sie daran, dass die meisten Schriftsteller, die sie kennt, sensible und unsichere Menschen seien. Einige von ihnen sagen sogar ausdrücklich, dass sie das Schreiben hassen. Und doch machen sie weiter. „Große Autoren sind sehr oft Menschen, für die das Schreiben ein Kampf ist, ein ständiger Balanceakt“, sagt Davis und endet ihre Rede mit „und das, meine Freunde, ist das Seil, an dem ich mich festhalte.“

Da das Festivalgelände außerhalb von Lahti liegt, sind wir, die mitgereisten finnischen Verleger und das engagierte Organisationsteam die meiste Zeit unter uns. So lernt man einige der Kollegen sehr gut kennen, inklusive ihren Eigenheiten. Die eine raucht zu viel, der andere taut erst nach reichlich Alkohol auf, einer zieht sich zwischendurch zum Thai Chi am Strand zurück und ich lege eine Pause in meinem kleinen Sommerhaus am See ein. So gerne ich rede und Autoren mag, manchmal habe ich einen Menschenkater. Und brauche kurz Ruhe.

Neben zahlreichen Sessions gibt es bis in die Nacht hinein stets Programm – einen Empfang beim Bürgermeister von Lahti, einen Open-Mic-Abend und dann als Highlight den internationalen Poesie-Abend in der Sibelius-Halle. Die Französin Aurélia Lassaque bezaubert mit ihren gesungenen Gedichten auf Okzitanisch, der Isländer Eiríkur Örn Norðdahl überrascht das Publikum mit seiner witzigen Sprachpoesie und die Südafrikanerin Marlene von Niekerk trägt ihre schwingenden Verse auf Afrikaans vor.

Der öffentliche Auftritt an jenem Montagabend ist nur die Aufwärmung für das legendäre Fußballspiel „Finnland gegen den Rest der Welt“. Marlene, ihre Lebenspartnerin und ich beschränken uns auf das lautstarke Anfeuern des internationalen Teams, während die Britin Anna Davis und der Schweizer Jonas Lüscher, der in Deutschland lebt und mit seinem preisgekrönten Debütroman „Frühling der Barbaren“ internationale Erfolge feiert, sich auf den Rasen in Mukkula wagen. Der Isländer Norðdahl, dessen Markenzeichen sein schwarzer Hut ist, trägt ihn selbst beim Spiel und nimmt ihn nur kurz zum Köpfen ab. Trotz des beeindruckenden Körpereinsatzes unseres Teams gewinnen die finnischen Kollegen verdient mit 7:4. Angeblich. Denn so genau hat keiner mitgezählt.

Bei einem Gespräch mit Marlene van Niekerk kommen wir darauf, dass das LIWRE eine Art Experiment sei. Am Ende findet die Südafrikanerin, dass sich das Experiment auf jeden Fall gelohnt hat. „Das Ergebnis sind gestärkte Netzwerke und die Synergie von Ideen“, sagt sie. In ihrer Heimat würde ein vergleichbares Festival sicherlich anders ablaufen – alleine schon, weil die Gesellschaft so viele unterschiedliche Klassen und Hierarchien hat. Die Wunden der Apartheid sind längst nicht verheilt, erzählt Van Niekerk. Sie wird sich vor allem an die virtuosen Gedichte von Norðdahl und die Gespräche mit Jonas Lüscher erinnern. „Lüschers Projekte, sein persönliches Engagement und seine Ansichten auf die politische Verantwortung von Autoren haben mich inspiriert.“

Lüscher lobt am Ende ebenfalls die privaten Momente mit Van Niekerk und erinnert sich an die Anregungen in Mosters Präsentation. Der Schweizer schrieb selbst schon Essays über das Flüchtlingsdrama. Für ihn hätten die Sessions ruhig politischer sein können, Debatten über Selbstvermarktung interessieren ihn persönlich nicht. „Die Sauna jedoch ist so gut wie rauchen“, sagt Lüscher. „Die sollte es auf jedem Literaturtreffen geben.“

Anna Davis postet auf Facebook später, dass die Tage in Mukkula für sie eine überwältigende Erfahrung waren, sie sich wieder zu erinnern glaubt, warum sie einst mit dem Schreiben angefangen hat und sie nun dabei ist, herauszufinden, wie sie wieder beginnen kann.