Komponist Jean Sibelius
Jannes Welt

Finlandia Natur
Finlandia Natur | Foto: Alva Gehrmann

Die Stille des Waldes, eigenwillige Symphonien, interaktive Klanginstallationen und Comics: Dieses Jahr wäre Jean Sibelius 150 Jahre alt geworden – Finnland, aber auch die internationale Kulturszene feiern ihn. Und der deutsche Künstler Lukas Kühne bringt das berühmte Sibelius-Monument zum Klingen. Ein Besuch in der Heimat des finnischen Nationalkomponisten

Von Alva Gehrmann

Er war schon immer etwas eigenwillig. Während seine Mitschüler gemeinsam spielten, durchstreifte Janne — wie er von seiner Familie und seinen Freunden genannt wurde — am liebsten mit seiner Violine den Wald. Am Rande seiner Heimatstadt Hämeenlinna saß der Junge alleine unter jahrhundertealten Tannen, deren wuchtigen Äste einem Haus ähneln und improvisierte. In der Natur fand er die Stille, nach der er sich sehnte. Und hier konnte er die leisen Töne wahrnehmen - das leichte Rascheln der Birken und Tannen, den Schwanengesang in den umliegenden Seen, der ihn an Trompeten erinnerte.

Oft kam er auch zum Aussichtspunkt des heutigen Parks in Aulanko. Auf dem Berg sieht man in der Ferne die dichten Wälder von Lusikkaniemi, der Löffelhalbinsel, und den zugefrorenen See. Genau an diese Landschaft in seiner Heimat dachte der Musiker, als er „Finlandia“, eine seiner bekanntesten Sinfonischen Dichtungen, schuf.

Vor 150 Jahren wurde der Komponist als Johan Julius Christian Sibelius geboren. Zu seinen Schöpfungen zählen über 500 Werke, darunter sieben Sinfonien, das Violinkonzert, „Valse triste“ und die „Karelia-Suite“. Anlässlich des Jubiläums wird es in diesem Jahr in seiner Heimat, aber ebenso in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern, mehrere hundert Konzerte und Events geben. Während Sibelius bei uns erst neu oder wiederentdeckt wird, ist  er in Finnland weiterhin präsent. Der 8. Dezember, sein Geburtstag, wird als „Tag der finnischen Musik“ gefeiert, an dem die Finnen – wie so oft – ihre Nationalflagge hissen.

„Am 8. Dezember 1865 war es draußen minus 17 Grad Celsius kalt“, erzählt Erkki Korhonen. Der 57-Jährige ist Direktor des Sibelius-Jahres. Wir stehen im Gästezimmer von Sibelius´ Geburtshaus in Hämeenlinna, das damals gleichzeitig eine Praxis war, weil sein Vater als Militärarzt arbeitete. Der Job ermöglichte der Familie einen guten Lebensstandard in der Provinzhauptstadt, die heute rund eine Zugstunde von Helsinki entfernt liegt. Finnland, das zuvor jahrhundertelang zu Schweden gehörte, war damals noch Teil des Russischen Reiches. Die Verbindung Hämeenlinna und Helsinki ist die erste Eisenbahnstrecke des Landes - und so kamen auch zahlreiche Künstler zu Konzerten in den Ort mit seinen rund 3000 Einwohnern, in der vergleichsweise viele Adelige und Beamte wohnten.

Lange lebte Janne nicht in seinem Geburtshaus. Denn schon im Jahr 1868 starb der Vater plötzlich an Typhus, die mittellose Familie musste bei der Großmutter ein paar Straßen weiter einziehen. Die gesamte Familie war musikalisch. Mit fünf Jahren lernte Janne von seiner Tante, einer Klavierlehrerin, das Spielen und beschwerte sich, unter dem Klavier liegend, wenn die anderen Schüler nicht die richtigen Töne trafen. Im Gymnasium zeichnete er Noten, anstatt dem Unterricht zu folgen - mehrfach wurde er von den Lehrern gerügt. Doch Sibelius Talent sprach sich herum. Und so sollen die Anwohner in dem kleinen Park nahe seines Wohnhauses oft auf den Parkbänken gesessen haben, wenn der Junge musizierte. Für das Jubiläum hat Korhonens Team unter den Bänken Musikboxen aufgestellt. Sobald man sich hinsetzt, erklingen verschiedene Melodien von Sibelius wie „Die Birke“ und „Die Tanne“, die Erkki Korhonen, ein professioneller Pianist, selbst einspielte.

„Ich spreche mit Janne durch seine Musik“, sagt der Direktor und setzt sich im Geburtshaus an einen neueren Flügel im Nebenzimmer. Korhonen erweckt nun „Finlandia“ meisterlich zum Leben. Das aufwühlende und stellenweise sanfte Stück aus dem Jahr 1899 gilt als inoffizielle Nationalhymne Finnlands. Einige Töne erinnern an die Eisenbahn, andere leichte Melodien an die friedliche Natur in Aulanko. „Es war der Start in ein neues Jahrhundert und das schon im Geiste eines erwachten Finnlands“, sagt Korhonen. „Wie eine Lokomotive sollte das Land in eine hoffnungsvolle und freie Zukunft fahren.“ Für Sibelius begann kurz darauf seine Weltkarriere, seine Heimat erlangte erst 1917 die lang ersehnte Unabhängigkeit.

„Ich bin Musiker, kein Hellseher“ 

Auch in Helsinki, wo Jean, wie er sich als Künstler nannte, zum Studium hinzog und regelmäßig Zeit verbrachte, gibt es bis heute zahlreiche Orte, die an ihn erinnern. So sehr der Komponist die Ruhe suchte und später in seinem Haus in Ainola sogar keine Wasserrohre duldete, weil ihm diese zu laut waren, in Helsinki feierte er gerne und lang. Manchmal verweilte er mit befreundeten Künstlern wie Akseli Gallen-Kallela und seinem Schwager Armas Järnefelt tagelang im Hotel Kämp. Sie genossen im Restaurant ihren Sherry und rauchten Zigarre. Wenn seine Frau Aino mal wieder anrief und fragte, wann er denn nach Hause komme, sagte er knapp: „Ich bin Musiker und kein Hellseher.“

Dass der Komponist und die Maler sich damals gegenseitig inspirierten, kann man derzeit in der Sonderausstellung des Ateneum sehen. „Sibelius and the World of Art“ zeigt mehrere Gemälde von Gallen-Kallela und Eero Järnefelt, unter anderem deren Porträts von ihm – einige Ausstellungsorte sind dezent untermalt von Musik.

Highlights der Ausstellung sind die Studien des Sibelius-Monuments und die vertonte  Neuinterpretation. Das Monument wurde nach dem Tode des Komponisten errichtet und ist noch immer eines der beliebtesten Touristenziele in Helsinki. Erschaffen hat es in den 1960er Jahren die finnische Bildhauerin Eila Hiltunen. Die Skulptur im Stadtteil Töölö, unweit des Meeres, steht auf einem Felsen und besteht aus 569 rostfreien Stahlrohren. Manche erinnert das 30 Tonnen schwere Kunstwerk an eine Orgel, andere vergleichen es mit einem gebirgsartigen Wald. Mehrere Jahre arbeitete Hiltunen mit ihrem Assistenten Emil Kukkonen daran.

„Da ihr ursprünglich schlichter Entwurf für die damalige Zeit zu modern war, veredelte sie einzelne Rohre mit aufwendig aufgebrachter Schweißnahttechnik und brach einige Röhren gänzlich auf – sodass sie an Birkenrinde erinnern“, sagt Lukas Kühne. „Es ist eine eindrucksvolle  Arbeit. Groß und wuchtig, dann aber auch wieder fragil und weiblich.“ Der deutsche Bildhauer hat in Kooperation mit drei finnischen Universitäten (Aalto-Universität, Kunstakademie, Sibelius- Akademie) und dem Ateneum im Erdgeschoss der Ausstellung die interaktive Klanginstallation „Passio Musicae Open Source“ geschaffen. Das Projekt wurde vom Goethe-Institut initiiert und koproduziert sowie mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.

Unsichtbare Skulptur, die nur aus Sound besteht

Für Kühne ist es beeindruckend, sich vorzustellen, wie die zierliche Künstlerin Eila ­Hiltunen die einzelnen Rohre gestaltete und zusammenschweißte. Jedes Rohr repräsentiert natürlich auch die Wellenlänge einer Klangfrequenz, im Alltag überdecken der Autoverkehr und die klickenden Kameras der Touristen das versteckte Audiokonzept. „Die klangliche Dimension des Monuments zu untersuchen und aufzudecken erschien mir vom ersten Moment an eine logische und spannende Unternehmung“, so Kühne.

Zwei Wochen lang hat er im Spätsommer 2011 abends von 22 Uhr bis drei Uhr nachts alle Rohre akribisch mit einem Teleskoprohr ausgemessen: Die Längen umfassen 73,5 Zentimeter bis 639 Zentimeter; die Frequenzen der Töne reichen von 233 Hertz bis 27 Hertz. „In der Skulptur verbergen sich weit mehr Töne als in der uns bekannten westlichen, wohltemperierten Stimmung. Das vorgefundene Frequenzspektrum ist ein wahrer Schatz, es deckt eine wunderbar dichte Mikrotonserie ab“, erklärt Kühne.

Wie bei jedem seiner Projekte taucht der Künstler meist über mehrere Monate ein. Zur Vorbereitung traf er unter anderem Emil, den Assistenten der 2003 verstorbenen Hiltunen. Er verriet ihm, dass die Rohre aus Frankreich stammten. Im Ateneum scheint Kühne längst Teil des Teams geworden zu sein. Der Deutsche trägt einen Ausweis, im Vorbeilaufen lächeln ihm die Museumswärter und Angestellten zu.

Wir stehen nun inmitten des Kunstwerkes „Passio Musicae Open Source“, das Lukas Kühne gemeinsam mit Matti Niinimäki und Studenten verwirklichte. Auf den ersten Blick könnte man denken, hier passiere nichts, denn der gedimmte Raum ist komplett leer. Lediglich am Boden zeichnen sich zart die Umrisse des Monuments ab. Doch sobald man sich bewegt, erwacht die unsichtbare Skulptur zum Leben. Wir gehen einige Schritte, drehen uns im Kreis. Da jedes Rohr anders klingt, schafft man auch stets neue Klangmomente und Melodien. So wird jeder zum Komponisten seines eigenen Werkes. Wenn sich die Besucher unbeobachtet fühlen oder in Gruppen sind, tanzen sie häufig, bemerkten die Macher.

Die Bewegungen werden im Nebenraum an eine Wand projiziert – über die Illustration des Monumentes huscht ein magentafarbener Punkt. Im Sinne des Open-Source-Charakters, kann jeder online die Bewegungen einsehen sowie im Nachhinein betrachten, was er zum Klingen gebracht hat. In der letzten Ausstellungswoche, die Sibelius-Schau läuft noch bis zum 22. März, wollen die Organisatoren interaktive Happenings kreieren. Schon jetzt entdecken auch die Finnen, denen die Skulptur so vertraut ist, wie uns der Berliner Fernsehturm, eine neue Dimension in dem Sibelius-Monument.

Pioniere finnischer Kreativität

Auch finnische Comic-Künstler wie Ville Tietäväinen widmen sich kreativ dem 150. Jahrestag. Im Auftrag der größten finnischen Zeitung Helsingin Sanomat zeichnet er dieses Jahr jeden Monat Anekdoten aus dem Leben des Nationalkomponisten. Das Studio des 44-Jährigen liegt in Kallio. Jenem Stadtviertel, das öfter als Prenzlauer Berg von Helsinki bezeichnet wird, weil es ebenfalls ein ehemaliges Arbeiterviertel ist, in dem nun viele Künstler leben und das längst gentrifiziert wurde.

Was bedeutet Sibelius den Finnen? Ist er hier so bekannt wie in Deutschland Beethoven? „Er ist sogar viel größer“, sagt Tietäväinen, „denn bei uns gibt es keinen anderen Komponisten, der so berühmt ist. Sibelius und seine Künstlerfreunde definierten, was finnische Kreativität ist.“ Im Allgemeinen sei er nicht nostalgisch, aber „Finlandia“ berühre ihn wirklich, fügt der Autor von Graphic Novels hinzu. „Die Melodie hat etwas Magisches.“ Auch für ihn wäre es die bessere Nationalhymne.

Im ersten Comicstrip widmet Tietäväinen sich ironisch den Anfängen von Sibelius in Hämeenlinna. „Jannes Leben“ zeigt den jungen Musiker im Wald. „Steine und Baumstämme, das geliebte Publikum eines armen Musikers“, heißt es da. Dann sieht man ihn nach Hause kommen und seine Mutter sagt, sie sollten Janne doch einen ordentlichen Beruf wie Anwalt oder Arzt erlernen lassen. Der Comic endet mit Janne Sibelius Kommentar: „Ich habe heute wieder vor vollem Haus gespielt.“