Hans Giessen und Petra Schirrmann
Bob Dylan und PALEFACE – Pop und Rap in Helsinki

PALEFACE
Bild: Hans Giessen

„Living in a Political World“ – Popkonferenz
vom 20. bis 21. Oktober 2017 an der Universität Helsinki und am Goethe-Institut Finnland

Anlass

Populäre Kultur, also Werbung, Comics, Unterhaltungsromane und eben auch Popmusik, wurden an den philologischen Lehrstühlen lange Zeit nicht erforscht. Einige Akademiker rümpften sogar die Nase, wenn es um diese Art der Kultur ging. Interessanterweise hat erst die Soziologie gezeigt, wie vielschichtig und wichtig die populäre Kultur ist.

Die bekanntesten Werbesätze wie z.B. Wir können alles, außer Hochdeutsch oder Geiz ist geil kennt fast jeder im Land, und so ist es auch mit manchen Popsongs und ihren Texten, beispielsweise Udo Jürgens legendärem Schlager-Seufzer Aber bitte mit Sahne!. Populäre Songs sagen viel über den Zustand einer Gesellschaft aus, über Armut – oder neugewonnenen Wohlstand, Verschwendung (und Fettleibigkeit). Viele bekannte Lieder geben Auskunft über das, was in der Gesellschaft wichtig ist und was fehlt; sie zeigen neue Strömungen auf.

Die sozialwissenschaftliche Analyse hat der populären Kultur langsam den Weg dafür geebnet, dass sich die anderen Wissenschaften auf sie einließen – und plötzlich war man für dieses Thema offen. Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung war sicherlich die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2016 an Bob Dylan. Die Preis-Vergabe hat auch Kritik hervorgerufen— verstärkt auch durch das Fernbleiben von Dylan. Manche sind wegen seiner Ernennung immer noch skeptisch. Fraglich ist natürlich auch (aber das ist ein immerwährendes Problem bei jedem Literatur-Nobelpreis): Hat Bob Dylan ihn wirklich verdient? Aber wie dem auch sei: Die seriöse, akademische Beschäftigung mit populärer Kultur ist inzwischen weitgehend akzeptiert.

Dies war der Anlass zu einer Konferenz an der Universität Helsinki. Sie wurde, in enger Kooperation mit dem Goethe-Institut Finnland, fast exakt ein Jahr nach der Verkündung des Nobelpreises an Dylan vom 20. bis zum 21. Oktober 2017 veranstaltet. Bewusst hatte man die Konferenz an der bereits beschriebenen Schnittstelle angesiedelt: Es ging, einem Liedtext Dylans folgend, darum, dass wir in einer politischen Welt leben, “Living in a Political World“. Die Palette, aus der die Beiträger nach sozialen, gesellschaftlichen Aussagen suchten, reichte von Liedermachern („Singer-Songwriter“) bis zum Rap. Aber neben dem ,sozialen Kommentar‘ wurde deutlich, dass viele Songs in der Tat auch sehr poetisch, literarisch und ansprechend sind.
 

Organisatoren und Idee

Anlass für die Konferenz war also der Nobelpreis an Dylan. Bo Pettersson, Amerikanist an der Universität Helsinki, ist ein großer Verehrer von Dylans Werk – und Experte, was dessen Lieder und Texte angeht. In einer fächerübergreifenden Initiative schloss sich der Amerikanist mit den Germanisten der Universität Helsinki zusammen. Hans Giessen, der in Deutschland über postmoderne Popsongtexte promoviert hatte, übernahm die Leitung der Konferenz. Ihm zur Seite stand der Lehrstuhlinhaber der Helsinkier Germanistik, Hartmut Lenk. Die Verbindung mit der Helsinkier Germanistik führte auch zum Goethe-Institut Finnland. Die fachübergreifende Zusammenarbeit wurde dann noch auf die Slawisten der Universität Helsinki ausgedehnt; zudem sprachen Kulturwissenschaftler und Musikwissenschaftler.
 

Programm und Teilnehmer

Der Musikologe Allan Moore von der University of Surrey diskutierte in einer sehr fundierten Analyse „Living in a Political Song“ die Wechselwirkungen zwischen Lied und (politischem) Text. Aber es musste gleich improvisiert werden. Moore war nämlich kurzfristig erkrankt. Immerhin konnte er seinen Beitrag noch nach Helsinki schicken – und fand in Bo Pettersson einen Vorleser, der den eleganten Text souverän und engagiert präsentierte. Anschließend trug Pettersson seinen eigenen Text vor, der sich mit politischen und sozialkritischen Liedern in den USA befasste – natürlich mit Dylan, aber auch mit dem gesamten Umfeld von Woody Guthrie bis hin zu Bruce Springsteen.

Inhaltlich ging es mit Dylan, seinen Auswirkungen, seinen Verehrern, Nachahmern und Fans weiter – aber nun wechselte die Konferenz die geographische Region. Tomi Huttunen von der Helsinkier Slawistik sprach zur Dylan-Rezeption in der ehemaligen Sowjetunion – wobei es sich nicht nur um eine passive Rezeption handelte. Viele alternative Sänger im Umfeld der politisch erstarrten alternden Sowjetunion fanden in Dylans Songs Inspirationen für eigene Lieder. Die Szene im damaligen Leningrad ist heute im Westen leider viel zu wenig bekannt.

Michael Möbius vom Germanistischen Institut der Universität Helsinki stellte die populäre Musik in einem anderen Land des ,real existierenden Sozialismus‘ vor, nämlich die Jugendsingbewegung in der ehemaligen DDR.

Die Jugend und ihre Bedürfnisse – und die Probleme, die dies in einem Staat mit dominantem Wertesystem verursacht – standen auch im Zentrum des Vortrags von Pekka Kolehmainen von der Universität Turku. Kohlemainen diskutierte, wie die US-amerikanische Politik, die phasenweise ja durchaus fundamentalreligiös dominiert war, auf sexuelle Anspielungen reagierte.

Nach Kohlemainens thematisch motivierter Rückkehr in die USA ging der erste Kongresstag mit zwei slawistischen Vorträgen zu Ende. Johanna Virkkula von der Universität Helsinki untersuchte die Namen, mit denen Popsongs aus Südosteuropa im Wettbewerb des European Song Contests aufwarten – was sagt die Namenswahl über gesellschaftliche und soziale, auch politische Präferenzen aus? Schließlich wandte sich Dragana Cvetanovic, ebenfalls von der Universität Helsinki, nochmals einem explizit politischen Thema zu und analysierte die politischen Botschaften von Rap-Musik in den Ländern, die sich aus dem ehemaligen jugoslawischen Staatsverband herausentwickelt hatten.

Der zweite Konferenztag fand nun im Goethe-Institut Finnland statt. Natürlich lag hier ein Schwerpunkt bei den Vorträgen, die sich mit Popmusik in deutscher Sprache beschäftigten. Hartmut Lenk von der Universität Helsinki untersuchte, wie die ehemalige DDR-Gruppe „Silly“ auf den Fall der Berliner Mauer, den Untergang der DDR und die neue kulturelle Dominanz des Westens reagierte.
 
Hans Giessen befasste sich mit dem aus Bayern stammenden Konstantin Wecker. Dessen politische Songtexte waren ebenfalls stark vom Konflikt zwischen Ost und West geprägt, nun aus westlicher Perspektive: Prägend war die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses. In derselben Zeit war der Holländer Herman van Veen in Deutschland sehr populär und erfolgreich; Rogier Nieuweboer präsentierte im letzten akademischen Vortrag diesen Grenzgänger und Polit-Clown, dessen Erfolg auch als politische Botschaft zum deutsch-niederländischen Verhältnis gesehen werden kann.

Der Höhepunkt zum Schluss: Die modernen Räumlichkeiten des Goethe-Instituts eigneten sich perfekt für einen Vortrag, der weniger gut in einen festbestuhlten Hörsaal gepasst hätte. Der bekannteste finnische Rapper Karri Pekka Matias Miettinen alias PALEFACE sprach über Rap in Finnland und den USA und zeigte die Entwicklung dieser Musikgattung im Laufe der Geschichte auf. Dabei wurde eindrücklich klar, welche Bedeutung die populäre Kultur auch für die finnische Gesellschaft hat: PALEFACEs Engagement für Rap hat dazu geführt,  dass man ihn sogar in die Feierlichkeiten für „100 Jahre Finnland“ miteingebunden hat. Der Künstler tritt auch immer wieder in Schulen auf, macht dort Musik und diskutiert mit den Jugendlichen über seine teilweise sehr kritischen und politischen Texte.
PALEFACE schien vom Konferenzpublikum, darunter auch viele Germanistik-Studierende, so begeistert, dass er seine Vortragszeit – zum Vergnügen der Gäste – deutlich überzog. Er spielte immer wieder Lieder auf der Gitarre und erzählte Anekdoten und durchaus auch Nachdenkliches zu den politischen Hintergründen der Rap-Musik. PALEFACE genoss den Mittag mit den Wissenschaftlern und Studierenden sichtlich. Er unterhielt sein Publikum über zwei Stunden, obwohl er morgens bereits ganz früh aufgestanden war und abends noch ein eigenes Konzert vor sich hatte.
 

Fazit

Eine spannende Konferenz, auch dank der fächer- und institutionenübergreifenden Zusammenarbeit. Bald werden die Ergebnisse in einem Tagungsband zusammengestellt.
Ein neuer Beitrag wurde aber noch während Veranstaltung geschrieben und vorgetragen: Eine Studentin hatte für PALEFACE extra einen Rap-Text verfasst, in dem sie ihre Bewunderung für seine Kunst ausdrückte. Dem Musiker hat‘s gefallen und allen anderen auch.