Helen Partti
Bücher und Kaffee im ehemaligen Hauptquartier der Gestapo

Lesesaal Hamburg
Foto: Alexandra Stang

Die Stadt Hamburg ist dabei, eine Erinnerungskultur neuer Art zu entwickeln, die nicht allen gefällt.

Mich erreichte eine Einladung zur Einweihungsfeier einer Buchhandlung in Hamburg. Ich bin mit der Buchhändlerin befreundet und hatte meine Hilfe angeboten. Schon sah ich mich im munteren Menschentrubel beim Sekt Einschenken. Die Neueröffnung der Buchhandlung sollte in einem historisch bedeutenden Gebäude, dem Stadthaus im Zentrum von Hamburg, gefeiert werden.  
 
Der von der Buchhändlerin Stephanie Krawehl geführte Lesesaal Hamburg ist vielen Hamburgern ein Begriff. Die Buchhandlung war früher im Stadtteil Eimsbüttel angesiedelt. Bereits zwei Mal wurde sie als eine der besten privaten Buchhandlungen gekrönt, deren Umsatz unter einer Million Euro liegt.  
 
Im Jahr 2017 wurde Krawehl angeboten, eine Buchhandlung in einer neuen Umgebung zu öffnen. Das Angebot hat die Buchhändlerin sofort überzeugt. Ihre Buchhandlung, das daran angeschlossene Café und das historische Gebäude würden zusammen einen einzigartigen Gedenkort bilden.  
 
Die Zeitgeschichte des Gebäudes ist düster vielen Hamburgern völlig unbekannt. Ich ahnte nicht, dass ich in ein Wespennest gelangt war.
 

Das Tabu in der Familie

Das Stadthaus an der Ecke Neuer Wall/Stadthausbrücke ist ein riesiger Gebäudekomplex, dessen Geschichte auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgeht. In den Jahren 1933–43 beherbergte er u.a. den Sitz der Hamburger Polizei, der Staatssicherheit (Gestapo) und der Ordnungspolizei.  
 
2009 hat die Stadt Hamburg das Gebäude an ein privates Investmentunternehmen, die Quantum Immobilien AG, verkauft, die nun dabei ist, das Quartier, das neuerdings den Namen „Die Stadthöfe“ trägt, in hochwertige Wohnungen, Büros, Restaurants und Geschäftsräume umzuwandeln. Die Räume der Buchhandlung an der Stadthausbrücke 6 waren die ersten, die fertiggestellt wurden.  
 
Der Verkauf von Büchern an diesem historisch bedeutenden Ort hat zahlreiche widersprüchliche Kommentare hervorgerufen. Die Angelegenheit wurde in den Medien sowohl regional als auch überregional diskutiert. Ihre Bedeutung wurde auch durch Demonstrationen zum Ausdruck gebracht.  
 
Das Stadthaus war auch Krawehl nicht unbekannt. Ihre aus Uruguay stammende Großmutter Rosa-Blanca Krawehl-de Sturzenegger war dort mehrmals verhört worden. Das Thema war ein jahrzehntelanges Tabu in der Familie.
Der Gedenkort soll an die Opfer der Verfolgung und Folterung in Nazi-Deutschland erinnern. Einige vertreten die Meinung, dass dem Erinnern zu wenige Quadratmeter eingeräumt worden seien.
 

Interim-Ausstellung

Anfang Mai 2018 befand sich die Ausstellung der Gedenkstätte in einem vorläufigen Zustand. Informationen in Form von Texten und Bildern lagen auf dem Tisch aus. Vor zwei Schaufenstern war eine Installation über Täter und Opfer aufgestellt, die man auch von der Straße aus beobachten konnte. An einem der Fenster stand ein Originalschreibtisch, an dem Urteile gefällt worden waren, am anderen waren Menschen zu sehen, die man verurteilt hatte.  
 
Zur Ausstellung gehören auch ein runder Tisch und ein Buch, das jeden dazu einlädt, seine Gedanken und Ideen für die künftige Dauerausstellung einzutragen. Sie soll im Laufe des Jahres 2019 entstehen.  
 
Anhand der gefüllten Seiten des Gästebuches wird deutlich, dass großes Interesse an den Inhalten der Ausstellung besteht. Viele vertreten die Meinung, dass die Kombination Buchhandlung-Café-Gedenkstätte nicht ehrenvoll genug sei, um sich an die Opfer Nazi-Deutschlands zu erinnern. Schon dass das Stadthaus mit Kommerz in Verbindung gebracht wird, weckt Unmut.
 
  • Die Wege der Opfer, die in verschiedenen Teilen der Stadt wohnten, führten ins Stadthaus. Foto: Michael Rauhe
    Die Wege der Opfer, die in verschiedenen Teilen der Stadt wohnten, führten ins Stadthaus.
  • Lesesaal Hamburg Bild: Michael Rauhe
    Dem Lesesaal Hamburg wurde zwei Mal (2015 und 2016) der Deutsche Buchhandlungspreis verliehen.
  • Stephanie Krawehl und Oliver Gies Foto: Michael Rauhe
    Die Buchhändlerin Stephanie Krawehl (links) und Oliver Gies, der die Interim-Ausstellung realisiert hat.

Von einer Demonstration zum Oratorium

Als der Lesesaal Hamburg seine Türen am 2. Mai öffnete, war die Stadt zwar von der alltäglichen Hektik bestimmt, doch viele fanden ihren Weg dennoch dorthin. Ein Teil der Besucher hat die Ausstellung betrachtet, andere haben das Bücherregal durchstöbert, einige sind direkt ins Café gegangen.

Am Nachmittag versammelte sich an der benachbarten Straßenecke eine Gruppe von Demonstranten. Die Inszenierung der von der Initiative Gedenkort Stadthaus organisierten Demonstration war sorgfältig durchdacht. Musik wurde mit dem Vorlesen von Texten, Reden und Erfahrungen über das Hamburg der Nazizeit verbunden. Die Veranstalter forderten einen Ort, an dem sowohl an die Opfer des Naziterrors erinnert werden könnte, als auch der Widerstand der Hamburger dokumentiert würde.
Nach einer friedlichen Demonstration wurde ein Oratorium mit dem Namen Tenebrae in der Arkade des Stadthauses aufgeführt, mit dem man an die Gräueltaten der Gestapo erinnern wollte.

Mein Abend endete im Café der Buchhandlung, das sich als ein wahrer Begegnungsort herausstellte. Mein zufälliger Tischbegleiter erzählte, dass er vor Kurzem einen Stolperstein für seinen Verwandten angeschafft habe, der Opfer des Naziterrors geworden war.  

Kurz vor Schließung des Cafés habe ich mich mit der Autorin und Schauspielerin Peggy Parnass bekannt gemacht, die als kleines Mädchen mit ihrem Bruder von Hamburg nach Schweden geflüchtet war. Ihre Eltern waren in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen. Parnass hat ein Buch mit dem Titel Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete über ihre Erfahrungen geschrieben. Man findet es im Bestand des Lesesaals Hamburg.
 

Wer erinnert sich richtig?

Während der frühlingshaften Woche in Hamburg bin ich immer wieder der Frage begegnet, welche Art zu erinnern die Richtige wäre. Einer meint, dass man das Erinnern zum Business gemacht hat, ein anderer meint, dass der Schulunterricht sich zu sehr auf die Behandlung der kurzen Nazizeit konzentriert. Viele vermissen neue Arten des Erinnerns.

Der Lesesaal Hamburg macht die Kultur des Erinnerns ein wenig lebhafter. Er hat eine Auswahl diesbezüglicher Literatur gesammelt. Im Ausstellungsraum wird später in umfangreicher Zusammenarbeit eine Dauerausstellung entstehen, zu der auch themenbezogene Vorträge gehören.

„Endlich macht die Stadt Hamburg etwas, um ihre Nazivergangenheit zu bewältigen“, sagt einer. „Das reicht nicht aus“, sagt ein anderer.

Mir fällt es leicht, diese Meinungsverschiedenheit mit den Augen einer Außenstehenden zu verfolgen. Als Buchliebhaberin besuche ich Buchhandlungen öfter; als historisch interessierte Bürgerin besuche ich dennoch nur vielleicht einmal im Leben ein Konzentrationslager oder eine Gedenkstätte. Eine Kombination Buchhandlung-Café-Gedenkstätte kann ein Mittel sein, um Gewohnheiten zu verändern.

Ich habe alle Texte der Interim-Ausstellung gelesen und über die Geschichten der im Schaufenster vorgestellten Personen nachgedacht. Beeindruckt von der Ausstellung beschäftigte ich mich mit den Veröffentlichungen der südöstlich von Hamburg gelegenen KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Mein Wissensdurst wuchs. Ich fing sogar an, einen Besuch im Konzentrationslager Neuengamme zu planen. Meine Zeit reichte dafür jedoch – diesmal – nicht aus.