Carolin Renner
Academy of Moving People and Images: Diversität für die finnische Filmszene

Schauspielworkshop mit  Jemina Sillanpää
Foto: Academy of Moving People & Images

Wenn wir an die westliche Filmindustrie denken, kommt uns wahrscheinlich zuerst Hollywood in den Sinn – berühmte Regisseure, junggebliebene Schauspielerinnen, riesige Firmen, einzigartige Produktionsräume und exklusive Clubs. Und auf den zweiten Blick fällt auf, wie wenig abwechslungsreich diese Szene zu sein scheint. Die immer gleichen Gesichter in den immer gleichen Geschichten – wo bleibt das Neue, das Unerwartete, das Überraschende? Wo ist die Sehnsucht hin, die Leidenschaft, die Neugier, die Risikobereitschaft und der kreative Mut? Und warum wird im Film nicht unsere Gesellschaft in all ihrer Vielfalt und ihrer Widersprüchlichkeit präsentiert?

Neue Stimmen für eine vielfältige Filmindustrie

Auch Erol Mintas und Elham Rahmati stellen diese Fragen – und haben aufgrund ihrer Erkenntnisse in Helsinki die Academy of Moving People and Images (AMPI) gegründet. Die Akademie soll es in Finnland ansässigen, „mobilen“ Künstler*innen, die aus unterschiedlichen Gründen ständig in Bewegung und unterwegs sind, ermöglichen, Fuß in dem ihnen noch unbekannten Terrain der finnischen Filmszene zu fassen, sich zu vernetzen und schließlich ihre eigenen Projekte zu verwirklichen. Dabei sollen die Teilnehmer*innen ihre eigenen Netzwerke einbringen, ihre eigenen Ideen, Hintergründe, Gedanken und Geschichten.

„Die Filmindustrie ist nicht besonders divers. Das ist ein Problem. Vor allem die Filmschulen sind davon betroffen – sie sind oft extrem teuer und exklusiv, nur wenige Leute kommen da überhaupt rein. Darum trauen sich die meisten auch gar nicht, sich zu bewerben. Dann kommen noch Barrieren wie die Sprache dazu“, meint Erol Mintas. Er ist der Initiator des Projekts, studierter Filmregisseur und Preisträger für seinen 2014 produzierten Film „Song of my Mother“, und beschäftigt sich schon seit Längerem mit dem Problem der fehlenden Vielfalt im Filmgeschäft.

„Es begann in Istanbul, dort habe ich mit Kollegen überlegt, wie man neue Stimmen in die Filmindustrie bringen kann. So kam es dann zu der Idee, eine Filmakademie zu gründen, die andere Institutionen aktivieren und eine gemeinsame Basis schaffen soll, damit sich die mobilen Filmemacher*innen austauschen können. Als ich hergezogen bin, habe ich viele mobile Filmemacher*innen getroffen, die Probleme hatten, in der Filmindustrie anzukommen.“

In der finnischen Kulturszene fand er Zuspruch für das Projekt und initiierte bereits im Januar 2019 gemeinsam mit Elham Rahmati die Academy of Moving People and Images. Und nicht nur die Filmindustrie hat eine Generalüberholung nötig: „Es ist schade, dass Minderheiten und Menschen aus dem Ausland in der Kunstszene nur dann vertreten sind, wenn das Thema einer Ausstellung oder eines Projektes Diversität ist. Als ob wir nur eingeladen werden, wenn die Diversität abgehakt werden muss, nicht wegen unseres Könnens“, sagt Elham Rahmati, Künstlerin und Kuratorin sowie Co-Organisatorin der Akademie. „Dabei bedeutet Diversität vor allem auch, anderen Nationen, Kulturen und Geschlechtern Raum zu geben, damit sie sich ausdrücken können.“
Die beiden wollen mit der Akademie vor allem ein Sprungbrett für Nachwuchs-Filmemacher*innen schaffen – wovon die Akademie selbst wiederum profitieren kann: Dadurch, dass die Teilnehmer*innen ihre eigenen Netzwerke einbringen, zieht die Idee Kreise. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Zielstrebige Teilnehmer*innen und eine fruchtbare Zusammenarbeit

Um die bitter nötige Vielfalt in der Filmindustrie zu erreichen, ist die Ausschreibung für die Akademie sehr offen gestaltet. Ob die Bewerber*innen selbst erst nach Finnland gezogen sind oder in zweiter Generation Immigrant*innen sind, ob sie auf Dauer oder ohne bestimmtes Ziel hier sind, spielt dabei keine Rolle. Elham sagt: „Die Ausschreibung ist für alle offen, die einen mobilen Hintergrund haben, dazu zählen auch die finnischen Minderheiten wie Sámi und Roma. Von ihnen haben wir in diesem Jahr leider keine Bewerbungen erhalten, aber hoffentlich beim nächsten Mal, für die Akademie 2020.“

Aus der diesjährigen Ausschreibung mit über 100 Bewerbungen kamen 36 Bewerber*innen für die engere Auswahl, mit denen dann Interviews geführt wurden, um letztlich die 12 Teilnehmer*innen auszusuchen. Dabei ging es weniger um die bisherige professionelle Ausbildung oder Vorwissen im Bereich Film, sondern vor allem um die Zielstrebigkeit und das sichtbare Interesse an der Akademie. „Es geht uns vor allem darum, dass die Teilnehmer*innen nach dem Ende der Akademie nicht mit dem Filmen aufhören, sondern es schaffen, Eingang in die Filmindustrie zu erhalten. Das wäre ideal“, sagt Elham. „Für sie sollte der Film in Zukunft eine Priorität sein.“
Unter den Teilnehmer*innen findet sich eine große Bandbreite von abgeschlossenen Ausbildungen und Arbeitsbereichen – von Künstler*innen über Filmemacher*innen bis hin zu Fotograf*innen. Die Namen der 12 Teilnehmer*innen sowie ihre Kurzbiografien und die Motivation zur Teilnahme an der Akademie wurden auf der Website der Akademie bereits veröffentlicht. Bemerkenswert ist auch, dass die diesjährigen Teilnehmer*innen nicht nur aus Helsinki kommen, sondern auch aus Turku, Hämeenlinna und Oulu.

Interdisziplinäres Lernen außerhalb der gewohnten Strukturen

Im Juni 2018 fand ein erster Pilotworkshop der Akademie in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts Finnland statt. Drei junge, in Helsinki ansässige Künstlerinnen konnten hier gemeinsam mit den Dozent*innen das Konzept der Akademie in Theorie und Praxis ausprobieren. Nach einer Woche von Workshops zu Regie und Dramaturgie, Schauspiel, Kinematographie und Plotentwicklung standen drei Einzelwerke in Form von Kurzfilmen, wie es auch am Ende der ganzjährigen Akademie passieren soll.

„Das alles ist nur möglich, weil wir ein gutes Netz an Kollaborateuren haben. Ohne sie könnte die Akademie nicht existieren“, versichert Erol.
Zu diesem Netzwerk zählen nicht nur die Dozent*innen der jeweiligen Workshops, sondern auch die unterstützenden Institutionen, die ihre Räumlichkeiten, ihre Expertise und ihre eigenen Netzwerke in die Akademie einbringen. Die Academy of Moving People and Images findet  an unterschiedlichen Orten stattfindet wodurch sich den Teilnehmer*innen die Gelegenheit bietet, die finnische Kulturszene kennenzulernen und erst Hürden auch zum institutionellen Austausch überwunden werden.

Anstatt den Teilnehmer*innen Dozent*innen vorzusetzen, die ihnen theoretische Vorlesungen zu einem bestimmten Thema halten, basiert das Konzept auf einem Lernen mit- und voneinander, während das jeweils eigene Projekt in Form eines Kurzfilms vorangebracht wird. Darum kommen die Dozent*innen aus verschiedenen Bereichen und arbeiten selbst auch interdisziplinär. Gezielt sollen Wissenshierarchien vermieden werden und vielmehr ein sicherer Ort entstehen, an dem Wohlfühlen und Lernen sich nicht ausschließen.

Das Konzept ist noch sehr experimentell, aber Erol und Elham sind zuversichtlich: „Wir evaluieren permanent, was passiert. Bei uns wird nichts aufgeschoben, und wenn wir die Lösung für ein Problem nicht kennen, fragen wir eben andere Leute nach ihrer Meinung“, meint Erol. „Wir wollen und können gar nicht alles allein entscheiden – jeder und jede, der oder die Teil des Projektes sein will, hat die Chance dazu.“

Durch die Netzwerke und Partner ist auch die Möglichkeit zum Wachstum der Akademie gegeben, denn die Anzahl der Teilnehmer*innen und der Kurse hängt von der Finanzierung ab – und diese von den Ergebnissen der Akademie. „AMPI erhält seine Glaubwürdigkeit durch gute Resultate, in dem Fall die Kurzfilme zum Ende der Akademie. Und es ist keineswegs unmöglich, einen guten Debütfilm zu drehen“, dessen ist Erol sich sicher.

Die weitere Zusammenarbeit

Die erste Akademie findet zwischen April und Dezember 2019 in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts und weiterer Institutionen statt. Den Abschluss bildet die Präsentation der entstandenen 12 Kurzfilme – und dann? „Bisher haben wir von der Kone-Stiftung Gelder für zwei Jahre bekommen. Es soll aber auf keinen Fall ein kurzfristiges Projekt sein – dafür hat es zu viel Bedeutung für uns und die Filmszene. Wenn AMPI eines Tages nicht mehr gebraucht wird, ist das gut – aber jetzt gerade ist die Akademie nötig. Und wir wollen so viele Leute wie möglich involvieren. Trotzdem wollen wir erst einmal mit den wichtigsten Dingen beginnen, wie Drehbuchschreiben, Regie und Sound. Momentan arbeiten wir an Kollaborationen für Themen wie Make-Up  und Produktionsdesign. Aber langsam. Wir fangen gerade erst an.”

Langfristig also: und damit auch noch internationaler. „Wir haben schon Angebote bekommen, die Akademie auch in anderen Ländern zu etablieren, in Städten wie Stockholm oder Istanbul. Aber das kommt auf die Netzwerke und die Dozent*innen dort an. Hier in Helsinki haben wir eine sehr gute Beziehung zu ihnen, und ohne sie könnte AMPI nicht existieren. Was die anderen Städte angeht: Wenn eine Zusammenarbeit klappt, wäre das fantastisch“, findet Erol.

Hinter dem Projekt steht also nicht nur die geballte Kraft zweier junger motivierter Menschen und ihrer Partner und Netzwerke, sondern auch eine völlig neue Philosophie – und mit der lassen sich in Zukunft hoffentlich auch noch viele weitere zur Beteiligung an der Akademie überzeugen. Denn der wichtige und von vielen jungen Filmemacher*innen gewollte Wandel kommt nicht von allein, wie Elham sagt: „Wenn man nichts tut, verändert sich auch nichts. Anstatt nur herumzusitzen und zu reden: Handle!“