Johanna Lindroos
Verändert die Digitalisierung die Bibliothek?

Stadtbibliothek Stuttgart
Stadtbibliothek Stuttgart | Foto: Johanna Lindroos

Verstehen, ausprobieren, sich entwickeln – die Summer School for Librarians in Stuttgart hat die internationalen Teilnehmer*innen zu neuen Ideen inspiriert.

 
 
Die Spätsommersonne strahlte über Süddeutschland, als sich vom 16. - 21.9.2019 Teilnehmer aus der ganzen Welt zur internationalen Sommerschule für Studierende und Mitarbeiter aus dem Bibliotheksbereich in Stuttgart einfanden. Thema in diesem Jahr war die Digitalisierung, die während der einwöchigen Fortbildung aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wurde. In den Seminaren diskutierten die Teilnehmer unter anderem über die Planung von Lernumgebungen, wurden viele Beispiele für die moderne Raumgestaltung in Bibliotheken, insbesondere in verschiedenen Bibliotheken in Deutschland, Holland und Dänemark, vorgestellt, sowie in Workshops die Technologien und die Anwendung von erweiterter Realität und virtueller Realität in der Bibliotheksnutzung erläutert. Darüber hinaus kam es an den sechs Tagen zu zahlreichen internationalen Begegnungen und interessanten Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen aus Bibliotheken verschiedener Länder.
 

Die Chancen und Herausforderungen Der DIGITALISIERUNG für die Bibliotheken

Auf der Grundlage des Seminarteils ”Learning spaces – Ways to support learning” von Professor Richard Stang können die Rolle und die Bedeutung der Bibliotheken im Kontext der sich digitalisierenden Gesellschaft exemplarisch durch die Paradoxien in Bezug auf Information, Inklusion und Raum wahrgenommen werden. Das Paradoxon der Information zeigt, wie durch das Internet eine immense Flut von Informationen zur Verfügung steht, jedoch weitgehend isoliert ohne Kontext oder Hintergrund, der aus diesen Informationen möglicherweise relevantes oder wertvolles Wissen machen würde. Nach dem Paradoxon der Inklusion ist der bloße Zugang zur Information nicht gleichbedeutend mit Zugänglichkeit. Davon ausgeschlossen kann zum Beispiel ein unzureichend ausgebildeter Teil der Bevölkerung bleiben, vor allem wenn von kognitiver bzw. inhaltlicher Zugänglichkeit die Rede ist. Die Bibliothek ist neben Museen und Archiven eine Gedächtnisorganisation, deren Existenz auf der Schaffung eines relevanten Kontextes beruht, indem Informationen dokumentiert, aufbewahrt und verbreitet werden, auch unter Berücksichtigung der Zugänglichkeit. Das Paradoxon des Raums entsteht aus der zunehmenden Virtualität und Mediennutzung. Zwar lenkt das Hineinversetzen in die virtuelle Realität und das Vertiefen in die verschiedenen Medien die Aufmerksamkeit von der realen Welt ab, stellt physisch jedoch keine Loslösung vom Raum dar; der konkrete Ort und die Bibliothek als Raum ist nach wie vor von großer Bedeutung. Die Bibliothek kann physische Räume, Geräte, Verbindungen und Anleitung für die Nutzung der digitalen Materialien und der digitalen Welt unentgeltlich und freizügig bereitstellen.
 

Die Bibliothek als Teil der Bildungsinstitution

Im Zuge der Veränderung von Gesellschaft und Arbeitsleben hat die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens zugenommen. Auch die Bibliotheken müssen auf diese Anforderungen, weil auch sie als Teil der Bildungsinstitution betrachtet werden können. In den Visionen wird von dem Begriff ”learning city” gesprochen, in der die gesamte Stadt und ihre Ressourcen genutzt werden, um das Lernen zu fördern. In Deutschland zum Beispiel gibt es mehrere Räume, sogenannte ”Learning centres”, in denen unter einem Dach in unterschiedlicher Zusammensetzung etwa Volkshochschule, Bibliothek, Medienstudio, Bürgerservice, Archiv oder Kultur- und Freizeitamt zu finden sind. Solche Lernzentren bestehen zum Beispiel in Unna (ZIB Unna), Nürnberg (Südpunkt Zentrum für Bildung und Kultur) und Bayreuth (RW21 Bayreuth). Die Idee ist, Dienstleistungen zusammenzuführen und sie dorthin zu bringen, wo die Menschen ohnehin unterwegs sind und zu tun haben.

In Finnland, insbesondere in kleinen Orten, sind den Bibliotheken gemeinsame Servicestellen angegliedert worden, wo der Bewohner Dienstleistungen mehrerer verschiedener Behörden erhalten kann. Im Einkaufszentrum Iso Omena in Espoo befindet sich die Bibliothek zusammen mit einer Beratungsstelle, der finnischen Sozialversicherungsanstalt Kela und Jugendserviceeinrichtungen auf einer Ebene, dem sogenannten Dienstleistungsmarkt. Dieses Konzept - das erste seiner Art in ganz Finnland - ist dann entsprechend auch in anderen finnischen Kommunen umgesetzt worden. Durch die neuartigen Formen der Zusammenarbeit dürfte zum einen die Schwelle zur Bibliothek gesenkt worden sein, zum anderen wiederum stellen sie auch an die Bibliothekare besondere Herausforderungen im Hinblick auf neue Kompetenzen.

 

Die Digitalisierung verändert die Rolle der Bibliotheken und der Kunden

Hannelore Vogt, Direktorin der Bibliothek Köln, referierte in ihrem Seminarteil darüber, dass die Arbeit der modernen Bibliothek weniger eine Arbeit mit Büchern und mehr eine Arbeit mit den Kunden bedeutet. Die moderne Bibliothek ist ein Ort, den die Menschen aufsuchen, um sich zu treffen, miteinander zu diskutieren, etwas zu tun, zu erleben, zu lernen und sich inspirieren zu lassen. Die Bibliotheken wollen die Kunden miteinbeziehen und ihrerseits eine aktiven Bürgerschaft ermöglichen und unterstützen.
 
Wie kann man die Zukunft voraussehen und wie den neuen Anforderungen, die durch die Digitalisierung geschaffen werden, gerecht werden? Ein Instrument zur Unterstützung der strategischen Planung ist, Trends zu verfolgen. Auf der Liste der maßgeblichen Trendberichte stehen im wesentlichen die Gartner-Analysen, der NMC Horizon Report sowie der IFLA-Trend Report. In den Workshops erfuhren die Teilnehmer von der Design Thinking-Methode, die sich mit Planungs- oder Design-Denken übersetzen ließe. Design Thinking spielt auch als Instrument für die Planung und Entwicklung von Dienstleistungen und Veranstaltungen der Bibliothek eine Rolle. Ausschlaggebend hierbei ist, das entscheidende Bedürfnis des Kunden bzw. Nutzers zu kennen, das wichtigste zu lösende Problem zu identifizieren sowie das ständige Prüfen und Experimentieren, um die effektivste Lösung zu finden. Zu den bekanntesten Bibliotheken, die die Design Thinking-Methode nutzen, dürfte die Dokk1 in Dänemark gehören.        
 
In dem Seminarteil von Linda Freyberg und Sabine Wolf ging es um den Begriff ”Smart library”, für den es keine abschließende Definition gibt. Die „schlaue Bibliothek“ kann als Ganzes betrachtet werden, das neben strategischer Planung und Design Thinking auch auf Personal, Flexibilität unter anderem in Bezug auf Räume, Zusammenarbeit, Dienstleitungen und Technologien (AR, VR) setzt. Bislang waren Augmented-Reality-Apps (AR) der Bibliotheken oft navigationsbezogene und damit lokale Anwendungsszenarien, die häufig als temporäres Ergebnis eines Projekts oder einer Aktion entstanden sind. Darüber hinaus erschweren die verschiedenen Bibliothekssysteme die gemeinsame Entwicklung von AR-Apps, wie zum Beispiel in deutschen Bibliotheken, wo in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Systeme zur Verfügung stehen.
 
Am letzten Seminartag zitierte Tracy Riemer von der Kölner Bibliothek in ihrem Beitrag den Maler Willem de Kooning: “I have to change to stay the same.” Ich denke, dass die Bibliotheken die Digitalisierung als Change und Mittel begreifen müssen, denn sie sind in jedem Fall ein Teil der Veränderung, und die Digitalisierung wird die Geschichte der Bibliothek teilweise umschreiben. Die Bibliotheken sind nach wie vor für Inhalte und vor allem für die Menschen da. Die Rolle der Bibliothek als Akteur geht nicht verloren, sondern verändert nur ihre Form, um erhalten zu bleiben – wenn wir das so wollen.