Maija Hirvanen
Tuchfühlung mit Neuem ist der Kern zeitgenössischer Kunst. Tanzkongress 2019

Tanzkongress 2019_Tanzende Menschenmenge
Kulturstiftung des Bundes | Foto: Klaus Gigga, 2019


Im Sommer 2019 veranstaltete die Kulturstiftung des Bundes den internationalen Tanzkongress 2019 in Hellerau, Deutschland, dessen künstlerische Leitung der Choreografin Meg Stuart übertragen worden war. In Bogotá, New York, Madrid, Neu-Delhi und Helsinki wurden vom Goethe-Institut vorbereitende "Tanzsalons" veranstaltet, bei denen den Künstler*innen Zeit und Gelegenheit gegeben werden sollte, miteinander ins Gespräch zu kommen und in kleinem Rahmen zusammen zu arbeiten. Die im Nachhinein erstellte Dokumentation ist die einzige existierende öffentliche Darstellung dieser Veranstaltungen.

Kurz vor meinem Aufbruch nach Deutschland zum Tanzkongress in Dresden-Hellerau erhielt ich per E-Mail weitere Instruktionen. Ich wurde unter anderem gebeten, ein Buch mitzunehmen, das ich mit einer der teilnehmenden Personen tauschen wollte. Meine Wahl fiel auf Field Guide to Getting Lost der US-amerikanischen Schriftstellerin Rebecca Solnit (auf deutsch erschienen unter „Die Kunst, sich zu verlieren: Ein Führer durch den Irrgarten des Lebens“ bei Piper 2009). Ich hatte den Essayband gelesen, während ich das Programm für den Tanzsalon in Helsinki vorbereitete. Solnit beschreibt darin den Moment, in dem man sich ganz dem Genuss einer Erfahrung hingibt.
„Wie plant man das Ungewisse? Es ist wohl eine besondere Kunst, die Rolle des Überraschenden und das Wirken des Zufalls anzuerkennen und einzusehen, dass es in der Welt eine Vielzahl grundlegender Geheimnisse gibt und somit eine Grenze des Berechenbaren, Planbaren und Kontrollierbaren.“ (Solnit 2005, freie Übersetzung aus dem Englischen)
Solnit verweist damit auf Edgar Allan Poe: „Alle Erfahrung, im Sinne einer philosophischen Erkenntnis, lehrt uns, dass es das Unvorhersehbare ist, dass wir am umfassendsten einkalkulieren müssen – und auch das ist wiederum eine Erkenntnis.“ Poe schrieb diesen Satz 1842, als er über die Daguerreotypie, ein damals neues Fotografie-Verfahren, nachdachte. Auch wenn wir heute in einer anderen Zeit hinsichtlich der Entwicklung der Kunst leben, so ist die Tuchfühlung mit dem Neuen nach wie vor Kern zeitgenössischer Kunst. Der Tanzkongress 2019 und ebenso die vorangegangenen Tanzsalons haben versucht, neue Wege zu beschreiten.
Das, was aus dem Zusammentreffen vieler Menschen folgt, zeigt sich im Nachhinein, nach einem Monat, nach einem Jahr, nach fünf Jahren. Doch neue Verbindungen entstehen immer, manchmal sogar Impulse für Veränderungen.
 

DIE KREATIVEN PAUSEN DES Helsinkier salons

Im Februar 2019 war ich die Gastgeberin des Helsinkier Tanzsalons. Insgesamt 15 Tanzschaffende waren zum Salon eingeladen, dessen Programm ich gemeinsam mit Moriah Evans, Meg Stuart und dem Goethe-Institut konzipierte.

Bei Kunstveranstaltungen, Seminaren oder Kongressen sind Zeitplan und Programm häufig detailliert geplant, um die Konzentration der Teilnehmer*innen auf eine bestimmte Art von Information und Erkenntnis zu lenken. Auch das Programm dieses Tanzsalons war natürlich im Voraus geplant, doch ein Teil der Stunden war bewusst offen angelegt. In diesen freieren Momenten ergab sich etwas Interessantes: Streitgespräche über eine Neugestaltung des Tanztrainings. Die besten Diskussionen fanden in den Pausen und Zwischenräumen statt, dann, wenn wir nicht zu viel versuchten, weder beherrscht noch kontrolliert waren. Wahrscheinlich brauchen wir gerade dafür eigens konstruierte Situationen, Räume für spontane Eingebungen nach Perioden der Konzentration. Doch wie plant man das Programm einer Veranstaltung mit dem Fokus auf Lücken und freie Momente? Zumindest indem man sich bewusst Gedanken darüber macht, welches Tempo und was für eine Art des Miteinanders, welche Inhalte, Möglichkeiten des Austauschs und sozialen Kontakte dem konzipierten Programm innewohnen. Das im Voraus geplante Programm dient eher als eine Art Grundlage oder Leitfaden, um den herum man sich versammelt, der aber nicht das Wesen einer Veranstaltung ausmacht. Die Abläufe von Veranstaltungen und Zusammenkünften sollten nicht so straff organisiert werden, dass Kennenlernen und gegenseitiger Austausch auf der Strecke bleiben. Beim Tanzsalon in Helsinki haben wir zu großen Teilen auf das Unvorhersehbare gesetzt, darauf, was in den Freiräumen entsteht.
 

der Tanzkongress in Deutschland

Beim Tanzkongress in Hellerau war die Situation eine ganz andere: statt 20 Menschen begegneten sich hier 500. Das von Künstler*innen gestaltete Programm beim Tanzkongress beinhaltete anspruchsvolle Workshops, performative Sprechakte und experimentelle Veranstaltungen, trotzdem fällt es mir schwer in Worte zu fassen, was genau den Tanzkongress 2019 ausmachte. Eine mehrtätige Tanzsession, ein Gedankenjam? Ein Schuss Chaoslogik in einer Welt minutengenauer Zeitabläufe? Eine einzige große Aufführung? Eine unmögliche Aufgabe? Eine Situation, um das Dasein jenseits der Wohlfühlzone zu erproben? Eine Alternative zu Kongressveranstaltungen, bei denen man tagelang auf Stühlen sitzt? Die wirklich wichtigen Begegnungen und Erfahrungen für mich vollziehen sich auch bei großen Zusammenkünften überwiegend in kleinen Gruppen oder gar zu zweit, in einem kleinen Rahmen, aber als Teil einer größeren Gruppe.

In Hellerau habe ich einen Workshop ausgelassen, der mich eigentlich sehr interessiert hätte, weil ich mit dem Choreografen Björn Säfsten zusammen im Garten saß und wir unser Gespräch nicht rechtzeitig beendeten. Wir sprachen über Liebe und Trauer, über den Strukturalismus, Hunde und Politik und entwickelten schließlich eine Utopie von der Bedeutung der Kunst in Zukunft. Während einer späteren Pause unterhielt ich mich mit indischen und afrikanischen Künstler*innen über Baumpflanzprojekte und darüber, dass das Finden von Problemlösungen nicht nur viel Arbeit erfordere, sondern auch eine gehörige Portion Unannehmlichkeit, ein Denken über Schranken des herrschenden Systems hinweg und einen Zustand des Verirrtseins.
 

Menschen bewegen sich im Saal Kulturstiftung des Bundes | Foto: Klaus Gigga, 2019 Die Session mit Meg Stuart

Gemeinsam mit der Choreografin Meg Stuart leitete ich die Session „Weitergabe von Praktiken und Inspirationen“. Jede*r Teilnehmer*in arbeitete im hohen Saal des Festspielhauses Hellerau mit einer ihr unbekannten Person zusammen. Die Paare teilten in einer frei zu wählenden Form eine als wichtig empfundene Praktik oder Inspiration miteinander. Die Vorbereitung der Session war zu seltsamen Zeiten über Skype erfolgt und ihre Struktur veränderte sich die ganze Zeit über, selbst noch als die Session schon lief.
Jeweils zwei Menschen teilten inmitten einer großen Gruppe etwas ihnen Wichtiges und füllten den Raum mit praller Energie und verschiedenen Seinsweisen. Manche diskutierten über einen Artikel gebeugt, andere stillten und tanzten gleichzeitig unter Anleitung eines anderen, wieder andere bewegten sich minimalistisch durch den Raum. Das hätte keiner in allen Ausmaßen im Vorhinein so planen können.
 

die feministischeN Praktiken - NICHT nur für Frauen

Einen weiteren Workshop leitete ich gemeinsam mit der Performance- und Live-Art-Künstlerin Johanna Tuukkanen und der Filmregisseurin Samira Elagoz. Bei dieser „feministischen Versammlung“ brachte jede von uns eine Sichtweise auf das feministische Arbeiten ein (feministische Methoden, feministischer Alltag, weibliche Sicht) und entsprechend dieser Unterthemen gruppierten wir uns zu freien Diskussionen darüber, was wir uns für das Feld der Kunst und die Welt im Jahr 2029 wünschen.
Ich entwickelte meine Vision ausgehend von der Behauptung, dass feministische Arbeitsweisen Alternativen zu jenen herrschenden Gepflogenheiten bieten, bei denen Macht und Geld ohne Grund nur sehr Wenigen zugutekommen. Feministische Praktiken ermutigen zum zeitwilligen bewussten Verirren, einer Voraussetzung für das Finden von etwas Neuem. Dabei sind feministische Praktiken keineswegs nur für Frauen, sondern allen Geschlechtern gemeinsam. Es geht nicht nur um die Frage, wer einen Diskurs lenkt, sondern auch darum, wie er gelenkt wird, wie man handelt und welche Art Lebenskultur aus dieser Handlung hervorgeht und für wen.
 

Meine Vision für das Jahr 2029

  1. Die Arbeitsweisen sind ökologisch nachhaltig geworden und für das Schaffen von Kunst haben sich neue Muster durchgesetzt.
  2. Wir reisen umsichtiger und die vorhandenen Strukturen stärken jene Prozesse, die dafür notwendig sind.
  3. Das Verständnis von Internationalität hat sich vertieft und ist wesentlich verantwortungsbewusster geworden.
  4. Die schöpferische Kraft kleiner und mittlerer Bühnen ist gewaltig, die Zuschauerschaft ist gewachsen und entstammt den unterschiedlichsten Gruppen.
  5. Unter „einer starken künstlerischen Arbeit“ verstehen im Jahr 2029 verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Dinge und nicht länger nur die kontinuierliche Umsetzung einiger weniger vorherrschender Traditionen.
  6. Die großen Bühnen (und Theater) haben sich den verschiedensten Aufführungsästhetiken, Körpern und Arbeitsweisen geöffnet. Aus diesem Grunde werden die Bühnenstücke auch von neuen Zuschauergruppen gesehen, die sich von dem, was auf der Bühne geschieht, angesprochen fühlen.
  7. Tanzkunst wird Stoff im Lehrplan der Grundschulen sein.
  8. Personen aller Altersgruppen haben die Möglichkeit, in ihrer Freizeit die Kunst der freien Bewegung und des neugierigen Körperbewusstseins durch qualitativ wertvollen Tanzunterricht zu erfahren, der nicht nur Spaß macht, sondern auch die Fähigkeit entwickeln hilft, als lebendiges Wesen inmitten anderer zu existieren.
  9. Jede*r in allen Teilen der Erde, der beruflich mit Tanzkunst sein Einkommen verdient, ist ohne nachzudenken in der Lage, 20 interessante nichtmännliche Tanzschaffende aufzuzählen, deren Schaffen er aktiv verfolgt.
  10. Die jüngeren Generationen konsultieren die Älteren und andersrum.
  11. Die unterschiedlichsten Orte, Räumlichkeiten und Kontexte zeigen Kunst verschiedenster Erscheinungsformen und Werke, deren kultureller Wert sich auf dem gleichen Niveau bewegt wie die Werke an den Wänden traditioneller Kulturinstitutionen.
  12. Tanzkunst und darstellende Kunst sind Teil des immateriellen Kulturerbes geworden.
 

DIE Fähigkeit, Ungewissheit und Rätselhaftes auszuhalten

Poes Satz ging mir oft durch den Kopf, wenn ich mit dem Fahrrad durch die dunklen Gassen und Parkwege des nächtlichen Dresdens in Richtung Hellerau fuhr, in dem der Hauch der Geschichte beginnend von den modernistischen Tanzspektakeln bis hin zur freien Tradition einer Summerhill-Schule in allen Gebäuderitzen spürbar ist. Tanzimprovisationsjams und Diskussionsübungen mit hunderten Menschen, die verschiedene Kulturen verkörperten und während des Tanzkongresses miteinander Englisch sprachen, öffnen sich mir in völlig neuer Weise, wenn ich sie mit bewusstem Nicht-Wissen und den Abenteuern und Herausforderungen des Verirrtseins verbinde.
Das Nicht-Wissen kann als eine Annäherungsform verstanden werden, bei der etwas vorbereitet wird, ohne bereits im Vorhinein wissen zu wollen, was genau geschehen wird. Nur so ist man auch in der Lage, auf Veränderungen zu reagieren. Nicht-Wissen kann auch eine Übung des Präsentseins sein.
Andererseits hat das Nicht-Wissen auch eine kritische Perspektive: Wer hat in einer Situation mehr Wissen als andere und infolgedessen mehr Macht zu reden und zu agieren? Welche Blickwinkel sind nicht möglich, wenn wir uns bewusst im Zustand des Verirrtseins befinden? Was geschieht, wenn wir mit einer großen Gruppe auf verschiedene Weise orientierungslos sind und uns ganz der Erfahrung überlassen? Was kann uns aus den Reibungen, Fehlern, Missverständnissen und Überraschungen des Verirrtseins wieder herausholen? Meine Antwort darauf lautet, dass zumindest verschiedene Arten des Seins und überraschende Begegnungen, zu denen es im Alltag nicht gekommen wäre – und das Bedürfnis, beim nächsten Mal etwas anders zu machen, uns dabei behilflich sind.
Jene, die Englisch als Muttersprache sprechen, kamen wieder einmal mit Abstand am meisten zu Wort. Dieses Phänomen internationaler Begegnungen lässt sich nur schwer vermeiden, und vielleicht sollte man das auch gar nicht versuchen. Es gibt auch andere Informationen, als jene, die sich durch Sprache vermitteln. Wer nicht Englisch als Muttersprache spricht, bemerkt Dinge, die einem in der Welt sprachlicher Feinheiten verborgen bleiben. Sie richten ihre Aufmerksamkeit eher auf Dinge, die vor Ort passieren und die sie spüren, als sich von ihrem eigenen Reden mitreißen zu lassen. Dennoch sollte die mit Sprache verbundene Macht bei internationalen Veranstaltungen bewusster gelenkt werden.
Ich habe Field Guide to Getting Lost beim Tanzkongress am Büchertauschregal abgelegt und mir auf der Reise eine neue Ausgabe des Buches gekauft. Auf der Rückreise im Zug habe ich darüber nachgedacht, wie ich während der Prozesse des Tanzsalons und des Tanzkongresses auf seltsame Weise begonnen habe, mich an das Sein völlig außerhalb der Wohlfühlzone zu gewöhnen. Das ist gleichermaßen erschreckend und befreiend, widersprüchlich. Frei nach Solnit ist das Verirrtsein absolutes Präsentsein und absolutes Präsentsein ist die Fähigkeit, Ungewissheit und Rätselhaftes auszuhalten. In einem solchen Zustand ist man genau genommen nicht verirrt, sondern bereit, sich fallen zu lassen. Ein Verirrtsein dieser Art ist eine bewusste Entscheidung sich einzulassen, es ist ein psychischer Zustand, der es gestattet, an einem neuen Ort zu sein.


Der Artikel wurde in der finnischen Zeitschrift "Teatteri&Tanssi+Sirkus" (6-7/2019) veröffentlicht.