Hin zu einer gerechteren Musikwelt

Klassisches Konzert
Foto (Detail): Wan San Yip/Unsplash

Die Diskussion um die Ungleichheit im Bereich der klassischen Musik hat in Finnland im Laufe des vergangenen Jahres zugenommen. Es war überaus erfreulich, in Konzerten den Ur- und Erstaufführungen der Werke so bemerkenswerter Komponistinnen wie Laura Netzelin und Ida Moberg zu lauschen. Auch in den Spalten vieler Zeitungen und Zeitschriften sowie in der täglichen Kulturgesprächsrunde Kulttuuriykkönen des öffentlichen Rundfunks Yle Radio 1 wurde die Debatte angeregt geführt. Am Dienstag, dem 17. November gab es im Goethe-Institut Finnland eine Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema, zu der als Gastredner*innen die Violinistin Terhi Paldanius sowie die Komponistin und Sängerin Cymin Samawatie geladen waren.
 
In der angeregten und zumindest für mich außerordentlich leerreichen Breakfast@Goethe-Diskussion zeichneten sich drei zentrale Themenstellungen ab. Der erste Themenkreis umfasst Fragen der Musikerziehung, der beide Gastrednerinnen eine zentrale Rolle zumaßen. Es ist von vorrangiger Wichtigkeit, dass die Musik von Frauen und Minderheiten sowohl erforscht als auch aufgeführt wird. Doch das allein reicht noch nicht, um eine strukturelle Veränderung zu bewirken. Solange die Lehrbücher und Lehrpläne an Musikschulen und Musikhochschulen hauptsächlich die Kompositionen weißer europäischer Männer enthalten, bleibt der jungen Musiker- und Zuhörerschaft eine Menge verwehrt.
 
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt, den vor allem Cymin Samawatie in die Diskussion einbrachte, betrifft die Frage des kritischen Neuüberdenkens bestehender Genregrenzen in der Musik. Wenn wir ernsthaft eine demokratischere und vielstimmigere Musikwelt befördern wollen, warum ziehen wir dann nach wie vor diese Grenze zwischen „klassischer“ und „anderer“ Musik, die immer auch mit einer Wertschätzung belastet ist? Die sogenannte klassische Musiktradition baut historisch auf kunstphilosophisch hierarchischen, eurozentrischen und kolonialen Strukturen auf. Das wird in dem immer noch sehr lebendigen Geniemythos, in der Vorstellung eines geheiligten Komponistenkanons sowie in der Autonomieästhetik besonders deutlich, wie die Diskussion während des Herbstes in den finnischen Medien vor allem durch die Beiträge der Journalistin Sonja Saarikoski und des Wissenschaftlers Juha Torvinen zeigte.
 
Beide genannten Schwerpunkte haben in entscheidendem Maße mit der Intersektionalität zu tun, wie in zahlreichen Redebeiträgen betont wurde. In Finnland - wie auch im internationalen Umfeld - wird die Diskussion immer noch von einer Geschlechterordnung geprägt und im Mittelpunkt stehen weiße, europäische Frauen der Mittelschicht. Unter diesem Aspekt muss auch ich an mir arbeiten, vor allem im Hinblick auf den Inhalt meiner Vorlesungen.
 
***Drei Speakerinnen aus dem Musikbereich in der Diskussion bei Breakfast@Goethe
 
Die oben genannten Gesichtspunkte sind auch in einem allgemeineren Kontext von außerordentlicher Wichtigkeit, weil meiner Meinung nach die Ungleichheitsdiskussion in Finnland droht, in irreführenden Vorstellungen und Szenarien festzufahren.  So hat beispielsweise Hannu Lintu, Chefdirigent des Finnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters RSO, in einem kürzlich erschienenen Interview des finnischen Wochenmagazins Suomen Kuvalehti seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht, die Kritik am Kanon der klassischen Musik könne mit einer „Zerstörung der Geschichte“ einhergehen (Suomen Kuvalehti 25.11.2020). Wie in der bereits erwähnten Diskussionsrunde Kulttuuriykkönen explizit deutlich wurde, ist diese Befürchtung grundlos. Das Ziel der Kanonkritik ist nicht, Beethoven vom Sockel zu stürzen oder zu behaupten, seine Musik dürfe nicht mehr gehört werden. Auch ich schätze Gogols Petersburger Novellen sehr, aber das bedeutet nicht, dass ich als Leserin den seinem Werk innewohnenden unverhohlenen Antisemitismus mit einem Schulterzucken übergehen könnte.
 
Als Musikausübende und Wissenschaftlerin fällt es mir schwer anzuerkennen, warum historische Komponisten nach einem Wertesystem bewertet werden, das für alle strikt einheitlich sein soll. Ist Musikgeschmack nicht vor allem eine subjektive Frage? Wissenschaftlerin Leah Broad formuliert es in ihrem Beitrag zum Thema so: „Eine Handvoll Komponisten ist nicht in der Lage, allen Menschen alles zu geben. Während eine Person Trost, Inspiration und Kraft in der Musik und Lebensgeschichte Beethovens finden mag, ist es für andere eher Ethel Smyth, Florence Price, Francis Poulenc oder Unsuk Chin.“ (The Guardian 2.12.2020). Außerdem ist es aus Historiker-Perspektive naiv zu glauben, gesellschaftliche Machthierarchien - wie das Patriarchat - hätten keine Auswirkung auf unseren Geschmack.
 
Die Botschaft der feministischen Musikgeschichte ist letztendlich sehr einfach, wenn man sein Ohr dafür sensibilisieren möchte. Susan Wollenberg, Professorin an der Oxford-Universität, hat das auf einer Ende November abgehaltenen Fernkonferenz so formuliert: „Wir wollen nicht ersetzen, sondern hinzufügen.“ Werden die von Frauen und Minderheiten komponierten Werke nicht bewusst unserem lebendigen, musikalischen Kulturerbe zugeführt, geht uns sehr viel interessante, wunderbare und sinnenfrohe Musik verloren. Ich würde mir wünschen, dass wir in der Diskussion vorankommen und statt die reine Zahl komponierender Frauen oder ihre bloße Existenz festzustellen zum eigentlichen Punkt kommen: zu konkreten Mitteln, wie wir unsere musikalische Welt öffnen können. Immerhin leben wir in einer Zeit, in der schon eine einfache Google-Suche hunderte interessante, aber vergessene Werke und Komponist*innen findet.
 
Die Breakfast@Goethe-Veranstaltung war aus finnischer Perspektive schon allein aus einem Grund sehr inspirierend, weil nämlich die gesamte Diskussionsrunde vom Geist, an einem Strang ziehen zu wollen, geprägt war. Die Diskutierenden gaben auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen freimütig Hinweise, wie Ungleichheit korrigiert werden kann, beginnend mit Erleichterungen im Familienalltag bis hin zu Tourneearrangements für eine größere Ausgeglichenheit bei den Konzertrepertoires. Genau hier liegt das Wesen der Sache. Die Ungleichheit in der „klassischen“ Musik ist unser aller Angelegenheit. Wir sind hier nicht bei Armageddon - dem jüngsten Gericht, in dem Ankläger und Verteidiger des Kanons einander gegenübersitzen. Jeder von uns hat blinde Stellen, und als unvollkommene Menschen begehen wir Fehler. Deswegen muss es möglich sein, die Diskussion in gleicher Weise zu führen, wie an jenem Dienstagmorgen im November im Goethe-Institut: konstruktiv und sachlich, ohne das Problem auf bloße Ermahnungen oder durch Vermeidung „komplizierterer politisch-gesellschaftlicher“ Fragestellungen herunterzuspielen (vgl. hierzu Rondo 10/2020).
 
 
Quellen
 
Broad, Leah. ”Without Ethel Smyth and classical music's forgotten women, we only tell half the story”. The Guardian 2.12.2020.
 
Järvinen, Elina. ”Moi Lontoosta! Päätös on nyt tehty.” Suomen Kuvalehti 25.11.2020.
 
Kuusisaari, Harri. ”Maailmaa parantamaan”. Pääkirjoitus, Rondo 10/2020.
 
”Naissäveltäjät ja -kapellimestarit edelleen marginaalissa – Onko tasa-arvo klassisessa musiikissa mahdottomuus?” Yle Kulttuuriykkönen 18.11.2020.
 
Wollenberg, Susan. ”(Why) Do We Need Women Composers?” Keynote-luento,”’Women are not born to compose’: Female Musical Works from 1750 to 1950” -etäkonferenssi, Centro di Studi Luigi Boccherini, 27.11.2020.