Vera Mlechevska
Die Stadt des Himmels

Ailanthus altissima
Foto: Vera Mlechevska

   
Was sind die Minimalbedingungen unseres Zusammenlebens?

Betrachten wir das Thema von einem extremen Standpunkt aus, so erkennen wir, dass biologisches Leben überall und unter allen Bedingungen existieren kann, auch unter den repressivsten und ungünstigsten.
 
Es gibt sehr viele gute Beispiele von Menschen, Tieren oder Pflanzen, die unter extremsten Bedingungen hinsichtlich Entbehrung und Mangel überlebt haben, und einige haben sich sogar an die ihnen gegebene Situation angepasst und gewöhnt, egal, wie negativ sie ist. Es ist interessant zu sehen, wie eine bestimmte Existenzsituation sich zu einer Lebensweise entwickeln kann, einer Form des Lebens und Werdens, die die vielfältigen Lebensformen ordnet und gestaltet.
 
Brecht [1] sinnierte einst über ein nicht historisches Zeitalter des Terrors, das alle Lebensformen erfasst. Das Leben geht trotzdem immer weiter, weil es immer Kinder geben wird. Auch wenn diese Voraussagen sich nicht in Gänze erfüllt haben – in Form einer absoluten Unterwerfung der Erde unter die Macht eines düsteren "Mordor" – sind sie zumindest in irgendwelchen entlegenen Winkeln der Erde Wirklichkeit geworden.
 
Wir können also vermutlich unter noch so entsetzlichen Bedingungen zusammenleben, und das ist vielleicht die zynische Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage. Das Leben findet letztendlich immer seinen Weg. Sind die Lebensbedingung jedoch zu sehr eingeschränkt, gibt es nur wenige Lebensformen die überleben können.
 
In modernen Städten zum Beispiel ist der Boden mit Beton, Zement, Pflastersteinen und anderen massiven Materialien bedeckt – den Bedürfnissen der Bürger zuliebe. Der Flora werden in der Stadt ein Platz und eine Rolle zugewiesen. Pflanzen werden anhand ihrer Art, Farbe und Funktion ausgewählt: Eine Hecke als Zaun, eine Orchidee im Firmenbüro, eine Zypresse auf dem Friedhof, ein Französischer Garten, ein Englischer Garten. Je weiter die Stadt sich zerstreut, desto mehr löst sich auch die Ordnung auf. In den verlassenen Gegenden genießen Arten, die wir als Unkraut betrachten, eine Vielfalt der Koexistenz, die eher eine Art von hybrider Natur ist, da die Erde von städtischen Säften verunreinigt ist. Diese künstlich angelegte urbane Situation, in der die Natur von einer massiven Betonschicht überdeckt ist, erschafft ihre eigenen Lebensformen, die zu typischen Monokulturen geworden sind.
 
Es scheint, als hätten wir eine grüne Vielfalt in der Stadt, aber in Wirklichkeit handelt es sich um ein Konzept, das dekorativen Kriterien untergeordnet ist und dem, was wir neben den Gebäuden sehen – Möbel, die Straße oder die Monokultur der Oberfläche. Natur ist in vielen Städten eher die Blume im Topf als ein System. In einigen Städten ist die natürliche Flora heutzutage die Natur, die als unkontrollierbares Wuchern von Unkraut an verlassenen Orten existiert. An solchen Orten kann man die Ausbreitung dieser einen Pflanze beobachten: Ailanthus[2], der Götterbaum. Eine Pflanze, die in urbanen Gegenden mit extremer Bebauung und Zerstörung anzutreffen ist.
 
Der menschliche Faktor ist essenziell für die Verbreitung dieser Pflanze. Die niederdrückende Betonschicht zwingt die Organismen, ihre Lebensform an die Spalten im Beton anzupassen, so dass nur die rücksichtslose Natur der Monokultur in der Lage ist durchzubrechen und zu wachsen.
 
Der Baum unterdrückt all seine Rivalen, wächst schnell und aggressiv und besiedelt in kürzester Zeit beträchtliche Gebiete, die dann schnell zum Dschungel bestehend aus dieser einen Art werden. Er kann in den Spalten von Gebäuden und Gehwegen wachsen und an jedem Ort, an dem Pflanzen eigentlich nicht existieren können. Die Verbreitung des Baums geht einher mit dem Menschenstrom, der Güter durch die ganze Welt transportiert. Die kleinen Samen des Baums sind leicht und beweglich: Sie sind integriert in eine flügelähnliche Struktur, die über Kilometer dahingleitet, sich zwischen Fahrzeugteilen hindurchdrückt und – von einem neuen Windstoß ergriffen – weiterfliegt. Der Ailanthus wächst problemlos neben Autobahnen, Straßen oder entlang von Gleisen. Mit anderen Worten: Er begleitet den Menschen bei seiner territorialen Ausbreitung über die anderen Arten; er ist der Samen der Monokultur der einzigen Art, die danach strebt, alle Gebiete zu erobern. Er ist eine spezielle Art, so etwas wie eine Kreatur, die aus Tourniers [3] Robinson und seiner Vereinigung mit der Erde entstanden ist.
 
Es ist, als ob die Pflanze sich menschliches Verhalten angeeignet hätte. Das ist der Drang, überall alles beherrschen zu wollen, ungeachtet der Konsequenzen. Es gibt tatsächlich keinen einzigen Ort auf der Erde, an dem keine Menschen sind, scheinbar jeder Quadratmeter des Planeten ist aufgezeichnet von einem Satelliten, Makroobjektiv oder Goolge Street View. Der Planet wird durch Blicke erobert, aber das ist nicht alles. Es gibt kaum einen Ort, der von Menschen unberührt geblieben ist, wenn auch nur indirekt. Selbst heute, wo die katastrophalen Konsequenzen des menschlichen Handelns sichtbar werden, sind die Menschen damit beschäftigt, den Zustand von Gebieten und Ressourcen zu berechnen und Pläne zu machen, wie sie die territoriale Ausbreitung bewerkstelligen können. Die Katastrophe wird heutzutage in Zahlen berechnet und es werden neue Möglichkeiten entwickelt, sie zu steigern. Die Fragen sind: Wer wird wie die neuen Fluten und Dürreperioden regulieren? Wer wird davon profitieren und wie kann der Gewinn verdoppelt werden?
 
Denken wir an Camus‘ „Die Pest“: Die Situation ist außer Kontrolle geraten aufgrund der Einstellung, dass sich das Problem schon irgendwie von selbst lösen würde, uns übergeht oder eine schicksalhafte Sache ist, die nur die anderen trifft, bis der Infekt zur irreversiblen Epidemie wird – zur Plage.
 
Vielleicht wird der Ailanthus – zusammen mit dem Menschen – der Baum der Zukunft und beherrscht alle Gebiete und anderen Arten.
 
Nicht dass im Ailanthus keine Schönheit wäre: Es gibt eine Symmetrie und einen Rhythmus in der Art und Weise, wie er seine Blätter und Äste auf einem unwohnlichen Untergrund anordnet, der aus den Resten eines früheren Gebäudes entstanden ist. Ja, das ist die einzige Baumart, die etwas Exotik und Begrünung in die trostlose Landschaft bringt. Aber leider ist der Ailanthus ein Anzeichen dafür, dass ein Ungleichgewicht existiert, dass die Arten von diesem Ort wegen der schlechten Lebensbedingungen abwandern.
 
Dieser Baum strebt eine Monokultur an und ist dabei, sie durchzusetzen. Der Ailanthus ist eine Art globale Monokultur, so wie ein Laden mit unzähligen Plastikblumen oder eine Gruppe von Menschen, überzeugt von dem Bedürfnis nach ihrer eigenen Homogenität als Gruppe.
 
Eine Monokultur schließt andere Kulturen aus. Ein Dschungel, bewohnt nur von den Königen des Dschungels. Ein Biom, dominiert von einer einzigen Art – alle anderen wurden abgedrängt. Ein Wald, bestehend nur aus Moos. Ist ein so homogenes System überhaupt noch ein Ökosystem?
 
Eine Monokultur ist ein Anzeichen für ein gestörtes Gleichgewicht zwischen zahlreichen Wechselbeziehungen, zwischen Individuen, zwischen einer Vielfalt an Arten, die als relativ stabiles Ökosystem oder Biom funktionieren können.
 
Ja, ich kann mit anderen zusammenleben, aber wie kann ich mit ihnen und ihrer Gruppe in Verbindung treten? Wie trete ich in einen Dialog mit der Monokultur? Idealerweise erkennt sie mich als Vertreterin einer verbreiteten Art an – oder zumindest einer, die harmlos ist – und attackiert mich weder, noch unterdrückt sie mich, auch wenn sie größere Gebiete einnimmt. Aber wie kann ich in Kontakt treten mit einer Kultur, die glaubt, die moralische Überlegenheit zu besitzen und will, dass ich gehorche oder alle Handlungen legitimiere „im Namen Gottes“, dessen Vertreter sie ist. Sie sagt: „Ich bin weiß, grün, quadratisch oder blau, schwach, stark. Deshalb bin ich etwas Besseres als du.“ Moralische Überlegenheit ist gewissermaßen ein weiteres Symptom dieses Virus, das die Monokultur vorantreibt.

Wie kann ich nicht Teil dieser Monokultur sein, wie kann ich ein anderes Regime, ein anderes System aufbauen?
 
An sich kann der Ailanthus einfach nur eine Pflanze sein, die auf der Erde existiert. Die Frage ist: Ab wann wird er zur Monokultur, zum zielgerichteten Besiedler? Denn an sich ist er nichts davon. Wann ist ein Organismus Teil eines Ökosystems und wann wird er zur Plage? Wie können alle in den Händen dieses Virus der Einheit, Monokultur und moralischen Überlegenheit sein? Ist das ein mutiertes Virus, das droht Ideen, Körper und Pflanzen zu infizieren?
 
 
 
[1] Walter Benjamin: Conversations with Brecht, Aesthetics and Politics, Verso. 1977
[2] Ailanthus altissima, allgemein bekannt als Götterbaum, Ailanthus.
[3] Michel Tournier: Friday, or, The Other Island (Französisch: Vendredi ou les Limbes du Pacifique), 1967.


Originalartikel: