Eine Minute, die (nicht nur) Schule verändert

Lehrerin mit Schüler*innen im Kreis
@Getty Images


Beim Einatmen bis drei zählen. Beobachten, wie sich der Atem umkehrt. Beim Ausatmen bis fünf zählen. Solche kleinen Achtsamkeitsübungen sollen Schüler*innen – und auch Lehrkräften – helfen, den Druck aus dem Kessel zu nehmen. Denn erste Praxiserfahrungen an deutschen Schulen zeigen: Wer sich wohlfühlt, kann besser lernen und unterrichten.
 

Der eine hat verschlafen und ist noch völlig verschwitzt, weil er heute zum Schulbus rennen musste. Die andere hat kurz vor Unterrichtsbeginn eine Nachricht von dem süßen Jungen aus der Parallelklasse erhalten und kann an nichts anderes mehr denken. Der dritte ist ganz nervös, weil in der nächsten Stunde eine wichtige Klassenarbeit ansteht. Die Lehrerin, die das Curriculum im Kopf hat und den Stoff durchbringen will, begrüßt die Schüler*innen nur kurz, legt gleich los und ist schnell frustriert. „Ihr müsst euch besser konzentrieren“, sagt sie. „Hast du mir überhaupt zugehört?“ „Warum hast du deinen Hefter noch nicht ausgepackt?“ – Szenen wie diese finden tagtäglich in deutschen Klassenzimmern statt. Die pandemiebedingten Lockdowns und Schulschließungen, so scheint es, haben den Druck an den Schulen sogar noch erhöht – und auch die Versagensängste der Schüler*innen.

Der Blick auf die Bedürfnisse

Doch es gibt auch immer mehr Lehrerinnen und Lehrer, die versuchen, den Fokus stärker auf die Bedürfnisse der Menschen in der Schule zu lenken. Sie beginnen die Unterrichtsstunde zum Beispiel mit einem Moment der Stille, richten die Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen auf ihren Atem, leiten sie an, sich selbst zu fragen, wie es ihnen geht und was sie gerade brauchen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst mit einem aufrichtenden Wort zu unterstützen. „Achtsamkeit im Unterricht“ ist das Schlagwort, das Schulen im angloamerikanischen Raum schon länger beschäftigt und seit etwa zehn Jahren auch in Deutschland angekommen ist.

Herzbeschirmt durch den Schulalltag

Die Deutsch- und Religionslehrerin Dr. Selma Polat-Menke beispielsweise startet jede Unterrichtsstunde an ihrem Gymnasium in Lüneburg mit einem solchen Impuls und bietet darüber hinaus eine Achtsamkeits-AG für interessierte Schüler*innen an. „Es geht einerseits um das metakognitive Selbstbewusstsein: Was ist in meinem Körper gerade los? In welcher Stimmung bin ich? Welche Gedanken habe ich? Andererseits geht es aber auch darum, wie ich dann zum Beispiel als Jugendlicher mit der Zerstreutheit umgehe, die ich empfinde, oder mit dem Gedankenkarussell, in dem ich mich befinde“, erzählt sie. Die Gedanken vergleicht sie etwa mit Wolken, die kommen und wieder gehen dürfen. Und die jungen Menschen regt sie an, zu sich selbst wie zu einem besten Freund oder einer besten Freundin zu sprechen, um gut für sich zu sorgen und sich aufzurichten.

Darüber hinaus arbeitet Selma Polat-Menke, die über Mystik promoviert sowie Ausbildung in der Meditationstechnik Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) sowie im Programm Mindful Selfcompassion (MSC) durchlaufen hat, im Programm Herzbeschirmt, das sie selbst entwickelt hat, auch mit Grundschüler*innen, Lehramtsstudierenden sowie Fachleiter*innen und anderen Multiplikator*innen, die sie darüber hinaus ausbildet.

Schulfach „Lernen mit Achtsamkeit“

Die Lehrerin Alexandra Andersen hat an ihrem Würzburger Gymnasium für diese Arbeit ein eigenes Fach eingeführt, das das bisherige „Lernen lernen“ ablöste. Den Anstoß dazu gab ihr ihre Zeit als Vertrauenslehrerin, die vor zehn Jahren begann: „Es gab damals viele Schwierigkeiten unter unseren Schüler*innen. Es wurde von Mobbing gesprochen, unter anderem waren es schulische Probleme – Leistungsdruck und Angst vor Lehrer*innen –, die sich hier auf die Kontakte zwischen den Kindern und Jugendlichen auswirkten. Es kamen Schüler*innen mit ihren Problemen zu mir und es begannen Gespräche mit Eltern, Kolleg*innen und der Schulleitung, die mich überforderten“, erinnert sich die Bayerin, die als Religionslehrerin ohnehin vertraut mit Spiritualität, Kontemplation und Stille war. Das habe ihr den Anstoß gegeben, sich auf eine andere Art mit diesen Themen auseinanderzusetzen – indem sie sich zunächst mit Gewaltfreier Kommunikation befasste, dann in das tibetische Yoga einstieg und sich schließlich in MBSR ausbilden ließ.

Heute gibt Alexandra Andersen ihren Schüler*innen und auch ihren Kolleg*innen Achtsamkeits-Tools an die Hand, die sie in schwierigen Situationen nutzen können. Alle Fünftklässler*innen an der Schule haben nun ein halbes Jahr lang Pflichtunterricht in dem neuen Fach „Lernen mit Achtsamkeit“. Jede Woche wird dort eine Übung eingeführt, die die Schüler*innen dann täglich mit einer von Alexandra Andersen geschulten Lehrkraft anwenden. Im zweiten Halbjahr der fünften Klasse und in der sechsten Klasse können Interessierte schließlich im Wahlpflichtfach weiterlernen.

Achtsamkeit als Pflichtprogramm? Davon sind natürlich auch an der Würzburger Penne nicht alle begeistert. „Für viele Kolleg*innen bin ich nach wie vor ‚Die mit der Klangschale‘ und natürlich gibt es Leute die sagen: ‚Ich merke nicht, dass die Klasse achtsamer geworden ist‘“, gibt Alexandra Andersen zu. Aber immerhin rund ein Viertel der Lehrkräfte an ihrer Schule habe sie im Laufe der vergangenen vier Jahre dafür gewinnen können, an ihrer Weiterbildung teilzunehmen und die Achtsamkeitsübungen in den fünften und sechsten Klassen anzuleiten. Es gebe auch immer wieder Schüler*innen, die nicht an ihrem Angebot teilnehmen möchten und die Zeit zum Beispiel lieber nutzen, um aus dem Fenster zu schauen. Einer dieser Jugendlichen, der sich ein halbes Jahr lang geweigert hat, gemeinsam mit den anderen im Stuhlkreis zu sitzen, habe sie später allerdings angesprochen und aus heiterem Himmel von einem wichtigen Fußballspiel berichtet, bei dem ihm die Achtsamkeitsübung geholfen habe, mit der Aufregung klarzukommen. „Einige können damit im Unterricht vielleicht noch nichts anfangen. Aber vielleicht kommt auch für sie irgendwann der Moment, in dem der Samen aufgeht“, sagt die Lehrerin.

Bessere Schule, bessere Welt?

Doch das sind die Ausnahmen, erzählt auch Selma Polat-Menke. In der Regel fordern die Kinder die Achtsamkeitsübungen ein. Sie berichten, dass ihnen die Meditationen helfen, ruhiger zu werden, dass sie sich anschließend bereit für den Unterricht fühlen. Die Regel sind auch begeisterte Eltern. Und es gibt eben durchaus auch viele Kolleg*innen, die ebenso von dem Input profitieren. „Wenn die Lehrkraft selbst achtsamer wird und diese Haltung mit in den Unterricht nimmt, spürt auch sie besser, wie es ihr geht und was sie braucht. Vielleicht muss auch sie einmal durchatmen und für einen Moment den Blick auf die Blüte eines Baums vor dem Fenster werfen, um sich dann wieder gestärkt der Klasse zuwenden zu können“, erklärt Selma Polat-Menke.

Die positiven Effekte von Achtsamkeit im Unterricht sind inzwischen auch wissenschaftlich belegt. Für Selma Polat-Menke allerdings ist das erst der Anfang: „Wenn ich mir selbst wohlwollend begegne, kann ich auch anderen gegenüber wohlwollend sein. Das wirkt ins Klassenzimmer, ins Kollegium, in die Schulleitung hinein. Stellen Sie sich vor, jede Konferenz würde mit einer Stille-Minute beginnen!“ Wie sie ist auch Alexandra Andersen, die übrigens ebenso Weiterbildungen für Lehrkräfte anbietet, sogar überzeugt, dass von dieser Arbeit noch viel mehr, also eigentlich alles, abhängt: „Das hat Effekte auf den Umgang der Schüler*innen untereinander, das wirkt sich auf die Gesundheit aller aus, das verändert die Schule, die Gesellschaft und – so drastisch es klingen mag – letztlich die ganze Welt. Denn wenn wir bewusst leben, haben wir eine Chance, dass auch die nachfolgenden Generationen noch auf diesem Planeten leben können. Und wenn nicht, dann nicht.“

Autor: Janna Degener-Storr

Übersetzung von: Jo Beckett
 

Literaturtipp

Alexandra Andersen: Achtsamkeit im Unterricht - Konzentration, Entspannung und Wahrnehmung trainieren: Buch mit Kopiervorlagen und Audio-Material. 2020.

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