Neo-Klassik
Die unaufgeregte Mischung

Hauschka probt mit Musikerinnen der Münchner Philharmoniker.
Hauschka probt mit Musikerinnen der Münchner Philharmoniker. | Foto (Ausschnitt): © Ralf Dombrowski

Sie heißen Max Richter, Hauschka oder Nils Frahm und sind Vorreiter eines Trends, der alte Grenzen verwischt. Denn die Neo-Klassik erreicht ein Publikum, das mit Konzerttraditionen sonst oft wenig anfangen kann. Und sie behauptet mehr und mehr ihre künstlerische Eigenständigkeit.

München, Ende April 2016: Die Party läuft schon ein paar Stunden im Club „Rote Sonne“, da betritt ein unauffälliger Lockenkopf die Bühne. Sein Reich für diesen Abend ist kaum zwei Quadratmeter groß und am Rand der Tanzfläche installiert. Auf einem Tisch stapeln sich Synthesizer, Laptop, Drum-Computer. Francesco Tristano bringt sich in Position. Wenige Wochen zuvor hatte der luxemburgische Pianist noch Konzerte mit dem Orchestre National de Lille gespielt – ein Programm mit Musik von Gershwin für den großen Konzertsaal. Jetzt steht er um drei Uhr morgens vor einer Menge Feierwütiger im Club auf der Bühne. Dass Tristano in Fachkreisen und in der Presse unter dem Etikett Neo-Klassik gehandelt wird, weiß dort so gut wie niemand.

Neue Künstler, andere Orte

Max Richter, Hauschka, Federico Albanese, Nils Frahm, Ólafur Arnalds und eben Francesco Tristano – so heißen sie, die Protagonisten der sogenannten Neo-Klassik-Szene: Musiker und Komponisten, die derzeit erfolgreich mit dem Mix von Ernster Musik und Unterhaltungsmusik experimentieren – oft am Piano und häufig mit einem beachtlichen Aufgebot an Technik. Nicht alle haben eine klassische Ausbildung. Aber sie alle kombinieren klassische Kompositionsmuster mit modernen Denk- und Produktionsweisen und treffen damit den Nerv der Zeit. Über den Streamingdienst Spotify erreichen sie in einem Monat mehrere Millionen Hörer.

Und sie füllen mit ihren Fans regelmäßig auch klassische Konzertsäle: Der Auftritt des Wahl-Berliners Nils Frahm im März 2014 in der Berliner Philharmonie war nach wenigen Tagen ausverkauft. Für die Musik zur englischen Krimi-Serie Broadchurch bekam der Isländer Ólafur Arnalds – ebenfalls 2014 – einen BAFTA Award (Preis der British Academy of Film and Television Arts). Zusammen mit Nils Frahm trat er im Mai 2016 im Pariser Louvre auf. Ist Neo-Klassik – trotz oder vielleicht wegen des Namens – also eigentlich ein Pop-Trend? Oder sogar ein Etikett, das volle Kassen garantiert?

In der Mitte der Stile

Auffällig ist zunächst, wer sich in den letzten Jahren um die Diskussion rund um den Begriff Neo-Klassik besonders bemüht hat: nämlich einschlägige Pop-Medien. Die mittlerweile eingestellte Berliner Zeitschrift De:Bug etwa, das Magazin „für das Leben mit elektronischer Musik“, veröffentlichte schon 2005 ein ausführliches Neo-Klassik-Special. In seiner März/April-Ausgabe 2016 präsentierte das Popkultur-Magazin Spex einen Überblick über den Status quo der „Neuen Klassik“.

Einig waren und sind sich die Autoren darüber, dass die Gratwanderung zwischen den Musikwelten, das Übereinanderlappen klassischer Stilmittel mit den Inventarien des Pop, nicht völlig neu ist: Für die Ohren aufgeschlossener Zeitgenossen komponierte Ende der 1970er-Jahre Philip Glass eingängige Soundtracks. Als Pionier des Crossover spielte die britische Supergroup Emerson Lake and Palmer bereits 1971 das Live-Album Bilder einer Ausstellung ein – in direkter Anlehnung an die gleichnamige Komposition von Modest Mussorgsky. Aber als Crossover bezeichnete man später auch, wenn Hip-Hop und Metal, Jazz und Funk fusionierten. Deshalb gilt also nun der Begriff Neo-Klassik für die Verbindung zwischen elektronischer und klassischer Musik. Doch wie hört sich der typische Neo-Klassik-Sound überhaupt an?

Zum Beispiel Bruckner

Mäßig bewegt heißt das Stück, mit dem der in London lebende Franzose François Larini aka S/QU/NC/R im März 2016 den ersten Preis beim international ausgeschriebenen Remix-Contest „Romantic Revolution – bruckner unlimited“ gewonnen hat. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) hatte Remixer und Re-Arranger dazu aufgerufen, dem Finale von Anton Bruckners 4. Symphonie, besser bekannt als die Romantische, ihre „eigene Note zu verpassen“. Als Arbeitsmaterial stellte das DSO zwanzig in Einzelstimmen aufgegliederte Passagen aus Bruckners Komposition zum Download bereit.

Der Wettbewerb, der bereits zum zweiten Mal stattfand, sollte ausdrücklich die Verquickung der Genres Klassik und Elektro fördern. François Larini überzeugte die Jury mit einem sehr sphärischen Mix, mit viel Rauschen und etwas Knacken – also dem, was man als Geräuschdreck zwischen den Noten bezeichnen könnte. Und sein Mix kommt damit dem, was Ólafur Arnalds mit dem Computer oder Nils Frahm mit präpariertem Klavier produzieren, sehr nahe.
Nils Frahm beim Montreux Jazz Festival 2015, Quelle: Montreux Jazz Festival / Nils Frahm / Youtube

Befreiung, auch für Musiker

Unaufgeregt, auch unproblematisch hört sich diese Musik an. Der Puls der Neo-Klassik schlägt für den Wohlklang sowie Eingängigkeit – und das auch mit hohem, für die Clubbing-Welt typischem Bassanteil. Warum das beim vornehmlich jungen Publikum so gut ankommt? Einige Autoren erklären den Erfolg mit einer Art Fluchtmöglichkeit in derlei Klangwelten. Es gebe schon genug Stress, draußen, da, wo die Krisen lärmen. Vielleicht kommen die von Hand gespielten Interpretationen aber auch dem steigenden Bedürfnis nach Authentizität in Zeiten der Digitalisierung entgegen.

Und auch für die Musiker selbst stellt diese großflächige Akzeptanz eine wechselseitige Befreiung dar. „Es ist nicht so anspruchsvoll für den Hörer“ sagt Francesco Tristano über seine eigene Komposition A Soft Shell Groove, die neben Werken von Igor Strawinsky und Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow auf einer seiner letzten CDs gelandet ist. Und er meint das auf keinen Fall abwertend. Das sei für den Hörer nach all den Fortissimi und Crescendi „doch einfach irgendwie erlösend.“

Das heißt aber auch, dass sich die Künstler und Komponisten nicht als Promoter eines historischen Systems verstehen, dem der wenig an traditionellen Vermittlungswerten interessierte Hörernachwuchs zu schaffen macht. Sie bedienen sich vielmehr musikalischer Gestaltungsstrategien, die überwiegend in der in Europa gewachsenen Klangtradition wurzeln. Dabei lassen sie das Dogma der Avantgarde außer Acht, alles neu machen zu müssen. Klassische Formen sind für sie Inventarien eines Komponierbaukastens, aus dem sich angenehm anspruchsvolle Umdeutungen des Bewährten mit der Möglichkeit zur Offenheit in Richtung pop- oder weltmusikalischer Impulse ergeben.

Es ist die „Erlösung“ vom intellektuellen Zwang nach ständig wachsender Komplexität, den eine chronologisch auf sich steigernde Entwicklungsstufen aufbauende Musikgeschichte mit sich bringt. Der Erfolg beim Publikum und mögliche Neugiereffekte gegenüber dem klassischen Musikbetrieb lassen sich schwer quantifizieren. Fest steht allerdings: Die Neo-Klassik hat Erfolg. Sie zieht andere, oft jüngere Hörer an, denen die Konzert-Gewohnheiten früherer Generationen fremd geworden sind. Womöglich schafft sie es, dass jemand, der bei Nils Frahm, Max Richter oder Hauschka eingestiegen ist, irgendwann bei Pierre Boulez, Helmut Lachenmann oder Jörg Widmann landet. Sicher aber ist das nicht.

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