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Körperlichkeit
Katalog des Erbens als körperliche Praxis

Deutsch: König Karl II. von Spanien (1661-1700)
König Karl II. Sohn des Philipp IV. von Habsburg Spanien | Bild (Ausschnitt): Kunsthistorisches Museum Wien, Bilddatenbank

Von Oliver Zahn

I.
Kaum etwas repräsentiert die Angst des europäischen Adels vor dem Verlust des eigenen Erbes an Außenstehende mehr als die sogenannte „Habsburger Unterlippe“. Eine Praxis der Eheschließungen innerhalb der eigenen Familie führte zu dieser charakteristischen Ausformung der Kinnpartie, die etwa vom 15. bis zum 18. Jahrhundert Teil des dominanten Familienerbguts der Habsburger war.

Die „Habsburger Unterlippe“ ist so prägnant, dass sie auf dutzenden Adelsportraits aus verschiedenen Ländern klar identifizierbar ist. Sie ist sowohl die sichtbare Kennzeichnung als Erb*in eines der größten und einflussreichsten europäischen Adelshäuser als auch ein biologisches Erbe in sich. Ein Erbe, dem über hunderte Jahre hinweg kaum ein Familienmitglied entkommen konnte. Die Gereiztheit, mit der das aktuelle Oberhaupt der Hauses Habsburg, Karl Habsburg-Lothringen, auch heute noch im Netz auf deren Thematisierung reagiert, verschafft einen Eindruck davon, welche Prominenz dieses körperliche Merkmal nach wie vor im kollektiven Gedächtnis besitzt.

Natürlich wird nicht nur die sichtbare Zugehörigkeit zu Adelshäusern von Generation zu Generation weitergegeben – das gleiche gilt für weniger extreme Formen der biologischen Vererbung innerhalb von Familien wie abstehende Ohren, Haarausfall oder bestimmte (auch psychische) Krankheiten.

Darüber hinaus werden auch solche körperlichen Merkmale von der eigenen Familie geerbt, die mit historisch formierten gesellschaftlichen Privilegien oder Diskriminierungen belegt werden – die Farbe der Haut, der Haare, der Augen.

All diese Beispiele sind Fälle zwangsweisen Erbens, in denen die Erbenden zunächst einmal keine aktive Wahl haben, ob sie das familiäre Erbe antreten wollen oder nicht.

II.
Zum Vorgang der Vererbung an sich gehören immer zwei Parteien (die Vererbenden und die Erbenden) sowie zwei separate Praktiken (das Vererben und das Erben).

In den verschiedenen Verhältnissen zwischen Vererbenden und Erbenden sowie zwischen den Praktiken des Vererbens und des Erbens liegt viel Raum für die Verhandlung von Verantwortung und Schuld.

Denn einerseits kann Vererbtes unerwünscht sein und die Erbenden belasten, andererseits kann ein Erbe gegen den Wunsch der Vererbenden angetreten werden. Gerade was körperliche Vererbung angeht, liegt hierin ein großes Potenzial für die Kohärenz bestehender Genealogien.

III.
Neben den ganz oben beschriebenen Instanzen „zwangsweiser“ Vererbung gibt es entsprechend auch andere Formen des körperlichen Erbens, die auf den aktiven Entscheidungen der Erbenden basieren und das Erben damit von einer familiären in eine gesellschaftliche Praxis überführen. Ich möchte daher kurz über die Arten und Weisen nachdenken, wie Menschen durch die aktive Modifikation des eigenen Körpers das Erbe anderer Menschen antreten.

Klassischerweise machen Menschen ihre Körper mittels Tätowierungen zu Erben bestimmter Gruppierungen (von Straßen- und Polizistengangs über „klassisches“ organisiertes Verbrechen wie die russische Mafia und japanische Yakuza bis hin zu den Blutgruppen-Tätowierungen der Waffen-SS).

Weniger permanent, aber ähnlich prominent markieren Frisuren als körperliche Ausformungen das Antreten eines Erbes: die Glatze als definierendes Merkmal rechter und linker Skinheads, Dreadlocks als Zeichen des Glaubens oder der politischen Einstellung, Schläfenlocken bei jüdischen Charedim, die Tonsur bei christlichen Mönchen.

Am wenigsten permanent, aber dennoch letztlich Modifikationen des Körpers sind Kleidungsweisen und -moden (bei Punker*innen, Dandies, Skater*innen, Fußballfans, ...).

All diesen Beispielen ist gemeinsam, dass hier durch eine mehr oder weniger radikale Gestaltung des eigenen körperlichen Erscheinungsbildes nach existierendem Vorbild die eigene Verortung in einer (meistens nicht biologisch begründeten) Genealogie zum Ausdruck gebracht wird.

Die radikalsten Formen solcher Modifikationen sind wahrscheinlich Bodybuilding und plastische Chirurgie – das wortwörtliche Modellieren nach einem Vorbild, dem der eigene Körper entsprechen soll (und sei es nur ein gesellschaftlich formiertes Schönheitsideal). Parallel dazu existieren pharmakologische Modifikationsstrategien (Hormone, Steroide, Medikamente), die zunächst subtiler sind und die oben erwähnten Praktiken ersetzen oder unterstützen können.

Spätestens hier verschwimmt dann auch die weiter oben gezogene Grenze zwischen dem, was ich dort als gezwungenermaßen Geerbtes beschrieben habe, und dem Erbe, dem eine aktive Entscheidung der Erbenden vorausgeht. Denn alle oben beschriebenen Techniken können nicht nur zum Antreten eines körperlichen Erbes eingesetzt werden, sondern auch, um sich gegen ein erzwungenes Erbe zur Wehr zu setzen.

IV.
Die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie erlauben es, den eigenen Körper nicht länger als Schicksal zu betrachten. Die Habsburger Unterlippe (um kurz zum Anfang zurückzukehren) ist unter diesen Vorzeichen also genausowenig zwingend kennzeichnend wie andere körperliche Merkmale. Ebenso ermöglichen es pharmakologische Therapien, psychischen und anderen pathologischen Erbstücken der eigenen Familie zu entkommen.

Auf der sozialen Ebene kann die Klasse der eigenen Geburt abgestreift werden (indem Bürger*innenkinder zu Punks werden oder Arbeiter*innenkinder sich den Habitus der vermögenden Klassen aneignen).

All diese Strategien sollen hier keine Wertung erfahren, denn wie bei allem, worüber es sich nachzudenken lohnt, liegt ihnen gleichzeitig ein progressives als auch ein konservatives Potenzial zugrunde.

Die amerikanische Wissenschaftlerin und Aktivistin Rachel Dolezal verkörpert diese Prekarität wie vielleicht niemand sonst. Sie hat von 2009 bis 2015 vorgegeben, Afroamerikanerin zu sein, und als solche gelebt: indem sie ihre ursprünglich blonden Haare gefärbt und behandelt hat, indem sie ihren Hautton durch Cremes und Sonnenstudio dem Hautton Schwarzer Amerikaner*innen angepasst hat, indem sie sich deren Habitus und Dialekte angeeignet hat. Damit hat sie gleichzeitig beide hier skizzierten Bewegungen vollzogen – die Ablehnung des körperlichen Erbes ihrer biologischen Eltern, sowie das Antreten eines anderen Erbes durch Modifikation ihres Körpers.

Nachdem Dolezals Täuschung bekannt geworden war, gab es – wenig verwunderlich –heftige Reaktionen ihrer biologischen Familie. Auch die Empörung in afroamerikanischen Communities über Dolezals Verhalten ist sehr verständlich.

An diesem Extremfall lassen sich jedoch einige der neuen Herausforderungen erkennen, die durch die zunehmenden Optionen bei der Gestaltung des eigenen Körpers zum Antreten eines Erbes einhergehen: Da in den wenigsten Fällen verhindert werden kann, dass jemand ein Erbe antritt, besteht die Gefahr der Erbschleicherei – das Antreten eines Erbes, auf das zunächst kein Anrecht zu bestehen scheint.

Von Fall zu Fall können all diese Praktiken die Tür für die Flucht vor ererbter Verantwortung öffnen oder die Emanzipation von erdrückenden Lasten ermöglichen, die eine offene Zukunft unmöglich machen. Letztlich ist auch die Bewertung von Erbschleicherei immer situationsabhängig.

V.
Das ist eine Dynamik, die grundsätzlich die Vererbenden entmachtet und den Erbenden mehr Autonomie zuspricht – im Guten wie im Schlechten.

Für diese Gewichtsverlagerung möchte ich grundsätzlich eine Lanze brechen – auch wenn sie natürlich nicht automatisch alle existierenden Machtverhältnisse der Vererbung umstürzt oder (wie oben beschrieben) ohne Fallstricke auskommt. 

Aber vielleicht kann diese parallele Dynamik des Erbens ein Denkfigur sein, die ein anderes Nachdenken auch über die Vererbung von gesellschaftlichen Gütern jenseits des menschlichen Körpers ermöglicht – ein Nachdenken, das die Balance der Macht weiter zu den Erbenden hin bewegt – zu kommenden Generationen.

Damit plädiere ich keineswegs für ein Abgeben von Verantwortung seitens der Vererbenden, sondern im Gegenteil eher für ein neues Verständnis des eigenen Erbes jenseits von familiären, nationalen und kulturellen Beschränkungen im Angesicht der Tatsache, dass alle das eigene Erbe antreten können, und somit die Verantwortung der Vererbenden eben allen gegenüber gilt.

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