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Artikel
Das Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung

Thomas-Mann-Haus in Nida
Foto: Christian Ettl

Von Tomas Venclova

An der Küste der Ostsee, im Südosten, liegt ein kleines Stück Land, dessen Schicksal sich nicht in einem Satz erklären lässt. Im 13. Jahrhundert siedelte sich dort ein in Palästina gegründeter Ritterorden an. Sein Ziel bestand darin, die „Sarazenen des Nordens“ – also die ortsansässigen heidnischen Stämme – zu christianisieren und in ihren Siedlungsgebieten Fuß zu fassen. Eine seiner Burgen errichtete an der Spitze der Landzunge, an der das Meer sich vereint mit der Süßwasserlagune des Kurischen Haffs (in das der Memelfluss mündet). An dieser Stelle hatte zuvor bereits eine kleinere heidnische Festung gestanden, deren Name Klaipėda gewesen war – die Ritter nannten ihre an diesem Ort erbaute, größere und stärkere Festung Memel. Die Heiden widersetzten sich gegen sie genauso hartnäckig wie die Sarazenen in Palästina, so dass die Ritter ihre Macht nur in der unmittelbaren Umgebung der Burg, auf einem schmalen Streifen Land etablieren konnten, der zwei Namen geerbt hat: Die ortsansässigen Stämme bezeichneten ihn als Klaipėdaer Gebiet und die neu angekommenen Deutschen als Memelland. Er sollte schließlich zu einem Teil von Deutschland werden, während die lokalen baltischen (litauischen) Stämme östlich von ihm den Staat Litauen gründeten, der das Christentum ohne Zutun der Ritter angenommen hat. Dieser litauische Staat stieg zu einer einflussreichen Macht in Osteuropa auf, ehe er am Ende des 18. Jahrhunderts an Russland angeschlossen wurde. Mit den Deutschen hat Litauen Krieg geführt, aber auch, in nicht geringerem Umfang, Handel getrieben.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Klaipėda eine provinzielle Kleinstadt, die vornehmlich Deutsch sprach und sich mit ihren evangelischen Backsteinkirchen und Fachwerkhäusern nicht sonderlich von anderen preußischen Städten unterschied. Die Bewohner der umliegenden Dörfer sprachen zwar überwiegend Litauisch, unterschieden sich aber deutlich von der Einwohnerschaft von Litauen: Sie waren, im Gegensatz zu jenen, nicht katholisch, sondern evangelisch, sie hielten sich an andere Sitten und Bräuche und an eine andere Bauweise, und sie besuchten deutsche Schulen. An ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik war ein starker Anteil oder Einfluss der deutschen Sprache zu spüren. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Memelland durch den Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennt und unter französische Verwaltung gestellt. Der 1918 erneut gegründete litauische Staat erhob Anspruch auf das Gebiet, weil er einen Seehafen benötigte und die ortsansässige Einwohnerschaft für seine eigene, also für litauisch hielt. 1923 wurde das Gebiet durch einen sogenannten „Aufstand“ – in Wirklichkeit eine militärische Operation – an Litauen angeschlossen. Die einheimische Bevölkerung hat gegen diese Aktion keinen Widerstand geleistet – nur die Franzosen, die sich verteidigten. (In diesem eigenartigen litauisch-französischen „Krieg“ starben zwei Franzosen und 14 Litauer.) Die Regierung Stresemann erkannte Litauen das Gebiet zu, das jedoch im März 1939 von Hitler besetzt wurde – es war seine letzte Annexion vor dem Zweiten Weltkrieg, die noch ohne Blutvergießen vonstattenging.

Der interessanteste und attraktivste Ort des Klaipėdaer Gebiets ist die Kurische Nehrung – der schmale Sandstreifen, der das Kurische Haff und die Stadt Klaipėda von der Ostsee trennt. Es gibt in der Ostsee noch zwei weitere solche Sandstreifen, aber dieser übertrifft die beiden anderen durch seine Originalität: mit Dünen von blendend weißem Sand, die noch bis in die jüngste Zeit 100 Meter in die Höhe ragten und mittlerweile zwar etwas niedriger, aber nach wie vor eindrucksvoll sind, während in den Kiefernwäldern Wildschweine und die für diese Landschaft Symbol gewordenen Elche leben. Dabei handelt es sich um nicht mehr als ein paar Kilometer zwischen der im Süden etwas breiteren Frischwasserlagune und dem offenen Meer. Auf diesem Sandstreifen befinden sich einige Fischerdörfer, ja -dörfchen, die ethnographisch eine Besonderheit sind oder waren: Hier kann – oder konnte – man die kurische Sprache vernehmen, die dem Litauischen nahesteht, aber mit ihm nicht identisch ist, und auch heute noch die farbenprächtigen Gebäude aus Holz bewundern und beinahe heidnische Grabmäler und die auch als Wetterfahnen dienenden kunstvoll gestalteten Kurenwimpel im Fischereihafen, jede Familie hat ihren eigenen. Das größte und interessanteste Dorf auf der Nehrung heißt Nida, deutsch: Nidden. 1923 ging der nördliche Teil der Kurischen Nehrung an Litauen, während der Süden weiterhin zu Deutschland gehörte, dem damaligen Ostpreußen. Nida wurde von Litauen regiert, und die Staatsgrenze – zu jener Zeit nicht sonderlich sichtbar und nicht sonderlich geschützt – verlief vier Kilometer südlich.

Thomas Mann hat in Nida drei Sommer verbracht, die in seinem Leben sehr wichtig und wahrscheinlich schicksalhaft gewesen sind. Das Klaipėdaer Gebiet unterschied sich damals vergleichsweise wenig von Ostpreußen: Litauen hatte ihm Autonomie und die Beibehaltung der meisten alten, noch aus der Zeit von Wilhelm II. stammenden Gesetze zugestanden. Dennoch war es ein anderer Staat, der Thomas Mann einen Vorgeschmack auf die zukünftige Emigration vermitteln konnte.

Das Leben des Schriftstellers in Nida ist lange Zeit eine der weniger bekannten Episoden seiner Biographie gewesen, aber inzwischen gut erforscht: Leonas Stepanauskas, ein Journalist, hat darüber ein umfangeiches, auf eine Vielzahl von Quellen gestütztes Buch geschrieben, das in drei Auflagen im Litauischen und 20rr auch im Deutschen erschienen ist. Ich erinnere an die wichtigsten Fakten.

Den Sommer 1929 verbrachte Thomas Mann – als er bereits die Buddenbrooks, Königliche Hoheit und den Zauberberg veröffentlicht, aber den Nobelpreis noch nicht erhalten hatte – in Ostpreußen, in einem Kurort namens Rauschen, unweit von Königsberg, an der Ostsee, die er seit der Kindheit mochte. Hier hat er eine seiner bekanntesten Novellen, Mario und der Zauberer, verfasst. Rauschen erschien ihm nicht ohne Grund banal (heute heißt es Swetlogorsk und liegt im von Russland regierten Kaliningrader Gebiet; es ist im Übrigen relativ unbeschadet über die Peripetien des Krieges und der Nachkriegszeit gekommen), aber von dort aus hat Thomas Mann dem litauischen Nida einen Kurzbesuch abgestattet. Dies ereignete sich ganz am Ende des Sommers, am 23. August 1929. Er fuhr mit seiner Familie von Cranz (heute Selenograd) aus über das Kurische Haff, auf einem Dampfer, ebenfalls namens Kurisches Haff, in Begleitung von Bernhard Koch, dem Besitzer der Königsberger Buchhandlung Gräfe und Unzer, der ihm vermutlich von Nida erzählte. Er übernachtete in dem Hotel von Hermann Blode, das zu jener Zeit als Künstlerkolonie berühmt war: Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Lovis Corinth haben sich dort aufgehalten und gearbeitet (und selbst Sigmund Freud hatte es besucht). Thomas Mann ist durch die Dünen gewandert und in den Wald der Elche gefahren. Der Ort gefiel ihm, und so beschloss er, sich in Nida ein Haus zu bauen. Offenbar schon im Herbst 1929 pachtete die litauische Forstverwaltung für den Schriftsteller und seine Familie für 99 Jahre ein Stück Land im Kreis Skruzdynė im Norden von Nida, auf einer unbewachsenen Düne. Das Haus wurde nach den Plänen der Klaipėdaer Architekten Nixdorf und Reissmann im Großen und Ganzen im traditionellen Stil von Nida errichtet. Schon im Frühling 1930 stand es am Rande des Dorfs an einem steilen Abhang, auf dem sogenannten Schwiegermutterberg: Von der Veranda aus war in 15 oder 20 Kilometern Entfernung das andere Ufer des Haffs zu sehen – das Windenburger Eck (litauisch: Ventės ragas). Dort, am Windenburger Eck, hat Leonas Stepanauskas später sogar noch einen alten litauischen Fischer ausfindig gemacht, der in seiner Kindheit beim Bau des Hauses von Thomas Mann mitgearbeitet hatte, um sich Geld für ein Studium zu verdienen. Das Dach wurde mit Reet gedeckt, wozu nicht mehr viele Leute in der Lage waren – dafür mussten, gleichfalls vom anderen Ufer, Handwerksmeister geholt werden, aus Kinten (litauisch: Kintai). Das Haff lag im Osten; die eigentliche Ostsee – im Westen – war nicht zu sehen, zu ihr führte ein Fußweg von etwas mehr als einer halben Stunde.

Am 17. Juli 1930 um vier Uhr nachmittags traf die Familie Mann zu ihrer Sommerfrische in dem fertiggestellten Haus ein, nach einer Fahrt von dreieinhalb Stunden mit dem bereits bekannten Dampfschiff, wieder von Cranz. Allerdings vermittelte diesmal schon der Dampfer ein Gefühl von Ausland und Exotik: Er hatte einen zweisprachigen Namen, und auch der Kapitän und der Steuermann hatten litauische Familiennamen, aber sie waren höchstwahrscheinlich deutschsprachig oder beherrschten zumindest das Deutsche hervorragend. Für den Nobelpreisträger und seine Begleitung waren kostenlose Plätze reserviert, doch die Reisegesellschaft musste trotzdem die Zollkontrolle passieren und die Visa zeigen – die an Ort und Stelle ausgestellt wurden, auf dem Dampfschiff, für wenig Geld. Es flatterte die litauische Trikolore.

Die Mehrheit der Sommerurlauber – damals noch nicht besonders viele – in den Straßen von Nida stammte aus Deutschland, aber es kamen auch Litauer, häufig einstige Landbewohner, die nun Beamte des jungen Staates oder Intellektuelle waren. Man konnte die litauische und die kurische Sprache vernehmen, für Thomas Mann schienen sie mal dem Russischen und mal Sanskrit zu ähneln. Die Kuren waren dreisprachig: In der Öffentlichkeit unterhielten sie sich auf Deutsch, in der Kirche und mit anderen Einwohnern von der Küste des Haffs meistens Litauisch und zu Hause in einem lettischen Dialekt – dem Kurischen, das sich vom Litauischen ungefähr so stark unterscheidet wie Niederländisch oder Friesisch von Deutsch. Und der Anblick der hohen Dünen veranlasste den Schriftsteller, so wie viele andere auch, zu Vergleichen mit dem südlichen Algerien, mit der Sahara – wobei er bei der Betrachtung dieser Sahara des Nordens Entfremdung und Einsamkeit verspürte, zugleich aber zweifellos auch Faszination.

Von der Anlegestelle fuhr die Familie mit einer von Hermann Blode bereitgestellten Kutsche zu ihrem neuen Haus. Dieses Haus auf dem Schwiegermutterberg (Thomas Mann nannte ihn auch Zauberberg) hatte braune Wände, blau gestrichene Fensterläden, Türen mit weißen Rahmen, eine verglaste Veranda und die charakteristischen litauischen Pferdchen als Giebelschmuck – das heutige Gebäude sieht ganz ähnlich aus. Die Kiefern in der Umgebung erinnerten an Pinien, Himmel und Wasser an das Mittelmeer. Auf seinem Tisch im Arbeitszimmer in der ersten Etage hatte Thomas Mann eine kleine ägyptische Statue stehen.

Zusammen mit ihm und Katia Mann waren in dem Haus die jüngeren Kinder untergebracht: Elisabeth, Michael und Monika; die älteren – Klaus, Erika und Golo – haben sich dort nur gelegentlich aufgehalten (Golo hat in Nida seine Diplomarbeit geschrieben). Es kamen auch andere Verwandte der Manns nach Nida zu Besuch: Katias Vater Alfred Pringsheim hat hier seinen 80. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass war sogar sein Kollege, der bedeutende Mathematiker David Hilbert angereist, ein Feuerwerk wurde veranstaltet, und der Jubilar selbst stieg auf die große Düne von Nida.

Wir wissen, dass Thomas Mann in Nida den zweiten und dritten Band von Joseph und seine Brüder geschrieben und bearbeitet hat. Man möchte meinen, und es wird tatsächlich auch angenommen, dass er die Landschaft der Nehrung in Gedanken mit den Wüsten von Judäa und Ägypten assoziiert hat. Außerdem hat Thomas Mann hier Essays verfasst (unter anderem über Franz Kafka) und öffentliche Vorträge vorbereitet, vor allem den berühmten Leiden und Größe Richard Wagners, der Anfang 1933 in Deutschland einen Skandal auslöste und vermutlich einer der Gründe für die Emigration des Schriftstellers gewesen ist. Auch Briefe und Postkarten aus Nida sind erhalten, etwa an Max Brod, Gerhart Hauptmann, Hermann Graf Keyserling, Stefan Zweig, Sigmund Freud und Paul Valéry.

In dem noch im Aufbau befindlichen, sich kulturell allmählich etablierenden litauischen Staat war der Name des Schriftstellers bekannt. Gerade in jenem Jahr, als Thomas Mann sich in Nida niederließ, ist die litauische Übersetzung des ersten Bandes der Buddenbrooks erschienen. An den litauischen Schulen und an der Universität in Kaunas wurde, neben anderen Fremdsprachen, auch Deutsch unterrichtet, vielleicht sogar am häufigsten. Daher konnten ziemlich viele gebildete Litauer Thomas Mann im Original lesen. Einmal suchten ihn in seinem Haus in Nida die litauischen Journalisten Isakas Kaplanas und Ignas Šeinius auf. Šeinius war auch Prosaschriftsteller und hat 1934 den antinazistischen Roman Siegfried Immerselbe atsijaunina („Siegfried Immerselbe verjüngt sich“) veröffentlicht. Kaplanas und Šeinius waren im Rahmen eines Schulausflugs aus dem kleinen Städtchen Švėkšna zu dem deutschen Schriftsteller gekommen. Thomas Mann beklagte sich bei Kaplanas darüber, dass er die litauische Literatur nicht kennt – damals wurde sie praktisch überhaupt nicht in andere Sprachen übersetzt. Er hätte sich besser mit litauischen Schriftstellern bekannt machen können, wenn er die damalige Hauptstadt des Landes, Kaunas, besucht hätte. Eine solche Reise scheint geplant gewesen, jedoch verworfen worden zu sein, da sie wohl zu beschwerlich geworden wäre: Damals dauerte eine Fahrt von Nida nach Kaunas mindestens zwölf Stunden (heute höchstens vier).

Grundsätzlich war das Leben, nicht nur der Manns, zu jener Zeit nicht eben idyllisch: Es verfinsterte sich durch die Vorahnung der nahenden Diktatur und eines heraufziehenden Krieges. Jeder dieser drei Sommer – 1930, 1931 und 1932 – fiel mit einer politischen Krise zusammen. Bei der Heimkehr nach München, wo sich der Hauptwohnsitz der Familie befand, schien, so hat Monika Mann berichtet, das Atmen immer schwerer, wie in einem ungelüfteten Zimmer. Thomas Mann selbst hat gesagt, dass allein schon ein Aufenthalt außerhalb des damaligen Deutschlands eine Erho- lung sei. Litauen war ein vergleichsweise ruhiges Land, aber die Nationalsozialisten haben die Autonomie des Klaipėdaer Gebiets ausgenutzt und allmählich immer deutlichere Mehrheiten im dortigen Regionalparlament gewonnen. Hinter der Grenze, nur einige Kilometer von Nida entfernt, befand sich eine berühmte Fliegerschule, aus der, wie sich Klaus Mann erinnerte, junge Männer an den Strand kamen, deren Jacken, Hemden, jan sogar Badehosen mit Hakenkreuzen geschmückt waren. Solche Hakenkreuze prangten auch auf einem für das Haus gekauften kleinen Standardteppich – die Familie hatte es nicht gleich bemerkt. Und schließlich begann Thomas Mann, dessen Gegnerschaft zu den Nazis immer deutlicher zutage trat, Drohungen zu bekommen. Das Haus wurde mit Steinen beworfen, ein Fenster eingeschlagen und über den Zaun ein Paket mit einem fast völlig verkohlten Exemplar der Buddenbrooks geworfen – dies hat der Schriftsteller im Rückblick 1943 in einer seiner Rundfunkreden Deutsche Hörer! als „individuelles Vorspiel“ zum Schicksal von Büchern in Deutschland – auch seiner eigenen – bezeichnet. Obwohl er einer fran- zösischen Journalistin sagte, dass er einen Weggang aus seinem Land nicht ertragen würde, hat die Familie Mann bereits seit 1931 über die Möglichkeit einer Emigration nachgedacht.

Diese Überlegungen wurden besonders aktuell, als Hitler zu Beginn des Jahres 1933 die Macht an sich riss und jede Opposition unterdrückte. Die Familie Mann hat die deutsche Staatsbürgerschaft nicht gleich verloren: Auf der allerersten Liste der auf diese Weise Gezeichneten erschien Thomas Manns älterer Bruder Heinrich, danach Klaus, dann Erika, und erst am Ende des Jahres 1936 alle Bewohner des Sommerhauses in Nida. Aber schon davor war die Reise auf die Kurische Nehrung allzu beschwerlich geworden. Von welchem Land man sie auch immer angetreten hätte, man hätte über deutsches Staatsgebiet fahren müssen, und in Deutschland war Thomas Mann offenkundig eine Persona non grata und musste mit Unannehmlichkeiten rechnen. Der Weg über Polen war gleichfalls versperrt, weil Polen mit Litauen Territorialstreitigkeiten hatte und keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Und schließlich machten die Nazis keinen Hehl aus ihrem Anspruch auf das Klaipėdaer Gebiet, also auch auf Nida. In Klaipėda entstanden pronazistische Organisationen, die offen einen „Anschluss an das Reich“ anstrebten. Litauen war bemüht, nicht nachzugeben, und richtete in den Jahren 1934 / 1935 sogar einen Gerichtsprozess gegen die Nazis aus – so etwas wie einen kleinen, frühen Vorläufer der Nürnberger Prozesse: Die Führer der Hitler-Anhänger erhielten auch ernsthafte Gefängnisstrafen, blieben aber tatsächlich nicht lange in Haft – letztlich war allen klar, dass die kleine Republik Litauen gegen Nazideutschland nicht bestehen können wird.

Also verbrachte die Familie Mann den Sommer 1933 bereits nicht mehr in Nida, sondern in Südfrankreich. In Berlin und Königsberg wurden rituelle Bücherverbrennungen durchgeführt; in Klaipėda ging im September jenes Jahres auch die Bibliothek des Pädagogischen Instituts in Flammen auf und wurden „undeutsche“ Werke vernichtet – der litauische Schriftstellerverband legte zwar Protest ein, aber dieser Protest blieb wirkungslos. Thomas Mann siedelte in die Schweiz und später nach Amerika über; sein Zuhause in München wurde konfisziert, während das Manuskript von Joseph und seine Brüder sowie die Tagebücher des Schriftstellers unter nicht geringem Risiko aus Deutschland herausgebracht wurden. Das Sommerhaus in Nida, in dem viele Bücher geblieben waren, befand sich, dank geschickter Ausnutzung juristischer und finanzieller Winkelzüge, noch lange Zeit im Besitz der Familie Mann, aber r939 trennte Hitler schließlich Klaipėda von Litauen ab. (Zeitzeugen konnten sich gut daran erinnern, dass er mit einem Kriegsschiff eintraf und auf dem Balkon des Stadttheaters eine ungewöhnlich kurze Rede hielt, weil er unter Seekrankheit litt.) Einige Zeit später wurde das Sommerhaus der Familie Mann nationalisiert, also gleichsam offiziell enteignet. Sein Schicksal während des Krieges ist nicht ganz geklärt. Manche behaupten, Hermann Göring habe in ihm eines seiner Jagdhäuser einrichten wollen, um von dort aus die Elche der Kurischen Nehrung zu jagen. Aber dieser Plan ist letztlich nicht verwirklicht worden. Das Haus wurde von dekorierten und verwundeten Fliegern genutzt und auch eine Zeitlang von Albert Speer bewohnt, der damals Pläne für größere Bauwerke in Neringa entworfen hat. All das dauerte bis Anfang 1945 an. Am 28. Januar jenes Jahres nahm die Rote Armee Klaipėda ein (in dem, wie es heißt, nur sieben Einwohner geblieben waren) und zwei Tage später auch das verwaiste Nida. Die letzten Schüsse verhallten in dieser Gegend am 4. Februar 1945. Sowohl Klaipėda als auch Nida gingen an Litauen, nun jedoch an ein sowjetisiertes, zu einer Region von Stalins Imperium gewordenes Litauen, das sich totalitären Regeln unterwerfen musste.

Die weitere Geschichte des Sommerhauses von Thomas Mann ist für mich Teil meiner persönlichen Erinnerungen, weil mit ihr mein Vater, der litauische Schriftsteller Antanas Venclova, verbunden ist.

Über meinen Vater schreibe ich selten. Er ist für mich noch immer eine wichtige und mir nahestehende Person, aber mein Leben hatte mich schon in meiner ziemlich frühen Jugendzeit von ihm weg, in die diametral entgegengesetzte Richtung geführt. Er war ein Linker und später ein prokommunistischer Schriftsteller – man könnte sagen, ein litauisches Analogon zu Johannes R. Becher (mit dem mein Vater, so wie mit vielen anderen Literaten dieser Richtung, persönlich bekannt war). Er war in einem litauischen Dorf unweit der Grenze zu Deutschland geboren, hatte während des Ersten Weltkriegs die Schule besucht, in der er, neben anderen, die deutsche Sprache gelernt hatte, und war nach dem Krieg an die Universität in Kaunas gegangen, woraufhin er sich als Städter gefühlt hat. Er ist ziemlich viel durch Westeuropa gereist, wie viele junge Leute in Litauen zu jener Zeit angezogen vom Abenteuer, Tempo und Puls der großen Metropolen. Besonders interessierte er sich für den Expressionismus, ein bisschen weniger vielleicht für Futurismus und Dadaismus, und er hat Der Sturm, Die Aktion, Die Linkskurve gelesen und war allmählich zu einem Sowjetophilen geworden. Er schrieb Gedichte und Prosa und redigierte die Zeitschrift Trečias Frontas („Die Dritte Front“), die gegen das damalige Regime der Rechten in Litauen opponierte und immer stärker zur kommunistischen Weltanschauung tendierte, ehe sie nach fünf Ausgaben von der Zensur geschlossen wurde. Danach hat mein Vater als Lehrer in Klaipėda gearbeitet, wo ich geboren wurde. Als Hitler das Klaipėdaer Gebiet besetzte (und ich zwei Jahre alt war), zog unsere Familie nach Kaunas um. Es war recht natürlich, dass mein Vater, als die Sowjets 1940 Litauen besetzten und annektierten, sich mit der neuen Staatsmacht verbündete und zu deren Bildungsminister ernannt wurde. Den Zweiten Weltkrieg hat er in Russland verbracht und auch nach seiner Rückkehr nach Litauen den höchsten Kreisen der sowjetlitauischen Nomenklatur angehört. Er hat auch weiterhin literarisch gearbeitet, jedoch keine expressionistische Prosa mehr geschrieben, sondern sozialistisch realistische, und keine avantgardistischen Verse, sondern konventionelle – auch hier zeigt sich eine Ähnlichkeit mit Johannes R. Becher. (Übrigens haben diese beiden Schriftsteller, mein Vater und Johannes R. Becher, auch die offiziellen kommunistischen Nationalhymnen ihrer Länder verfasst.) Eine Sache jedoch kann man Antanas Venclova nicht absprechen: Er hat sich ausgekannt in der Weltliteratur und in der Kunst, und er ist unzweifelhaft ein Kulturträger gewesen, der das klassische Erbe vor übereifrigen Zerstörern bewahrt hat.

Als er in der Schule in Klaipėda gearbeitet hat, hat mein Vater mehr als einmal Nida besucht und sogar die Hoffnung gehegt, Thomas Mann vielleicht einmal zu Gesicht zu bekommen, aber es war bereits nach 1933 – der deutsche Schriftsteller ist nicht mehr in sein Sommerhaus gekommen. Nach dem Krieg wurde Nida beinahe abgeriegelt. Und die gesamte Kurische Nehrung war ziemlich verwahrlost und verwaist. Gewiss, einige wenige Einheimische, die während der Kriegshandlungen nach Deutsch- land geflohen waren, sind wieder zurückgekehrt und haben ihr tradiertes Gewerbe – den Fischfang – wieder aufgenommen. Und neue Einwohner sind ebenfalls aufgetaucht. Aber vorherrschend präsent waren Angehörige der Roten Armee: Hier wurde eines der allertypischsten Regimes der UdSSR errichtet – das Sperrgebiet einer Grenzzone. Um in diese Zone zu gelangen, benötigten „Außenstehende“ schwer erhältliche Genehmigungen, von Urlaubern konnte nicht einmal die Rede sein. Jedoch gibt es wohl kaum ein Übel, das nicht auch eine gute Seite hätte – Neringa war nicht nur von der Welt abgeriegelt, sondern auch vom Rest des sowjetischen Imperiums und hat so die Dünen und seine gesamte Natur recht gut bewahren können.

Mein Vater ist auch dann wieder zwei- oder dreimal nach Nida gefahren – er konnte die Genehmigungen leichter bekommen als Normalsterbliche. Einmal bin ich mit ihm zusammen dort gewesen, es muss noch zu Stalins Zeiten gewesen sein, 1951 oder 1952 – ich war vielleicht 14, und Nida hat auf mich einen erschütternden Eindruck gemacht. Damals konnte man dort noch manchmal auf Alteingesessene stoßen, aber letzten Endes haben die Neuansiedler sie völlig verdrängt. Die vormaligen deutschen Staatsbürger durften nach Westdeutschland ausreisen und ließen sich bald in Hamburg, München oder irgendwo in Lüneburg nieder: In der Sowjetunion hat wohl nicht ein Einziger bleiben wollen. Mein Vater und ich haben nicht nur die Dünen gesehen, sondern auch das Haus von Thomas Mann – mein Vater nicht zum ersten Mal. Es war heruntergekommen und verschmutzt, eine Ecke durch eine Granate oder ein Artilleriegeschoss ein- gestürzt und ein Teil der Wände verbrannt, aber im Großen und Ganzen hatte es dem Vandalismus standgehalten, jedoch, wie unschwer vorherzusagen war, wahrscheinlich nicht mehr lange.

Langsam änderten sich die Zeiten. Mein Vater durfte ziemlich oft ins Ausland reisen – anfangs nur in das von den Sowjets beherrschte Osteuropa. Dabei war nicht nur von Bedeutung, dass er ein loyaler Schriftsteller war, sondern auch, dass er nicht schlecht Deutsch und Französisch sprach, über europäische Erfahrung verfügte und sich in der Weltkultur auskannte – solche Leute gab es in der UdSSR nicht viele, höchstens Ilja Ehrenburg und kaum mehr als eine Handvoll anderer.

Im Jahr 1955, also bereits in der poststalinistischen Ära, wurde im mittlerweile geteilten Deutschland der 150. Todestag von Friedrich Schiller begangen. Die Sowjets entsandten zu den Feierlichkeiten eine Abordnung und ernannten meinen Vater sogar zum Delegationsleiter. Thomas Mann, dessen 80. Geburtstag damals unmittelbar bevorstand, traf im Mai 1955 in Weimar ein, das auf dem Gebiet des damaligen Ostdeutschlands lag. Die Entscheidung für diese Reise war ihm nicht leichtgefallen: Freunde und viele andere Menschen haben versucht, ihn von einem Aufenthalt in dem Polizeistaat abzubringen, in dem er den Angehörigen eines odiosen Regimes die Hände drücken müsste. Aber der Schriftsteller hielt einen Besuch in Weimar für ein sinnvolles Unterfangen, das der Einheit des Landes und seiner Kultur förderlich ist, und er hat sich, scheint mir, nicht geirrt.

Nach Thomas Manns Vortrag im Hotel Elefant fand ein Beisammensein im engen Kreis statt, bei dem mein Vater die Gelegenheit hatte, sich mit dem deutschen Schriftsteller auszusprechen. Die Unterhaltung ging von offiziellen Themen bald zu Litauen und Nida über. Thomas Mann vernahm mit sichtlichem Interesse, dass sein Sommerhaus im Wesentlichen heil geblieben war. „Wir wollen hoffen, dass es Sie noch einmal empfangen wird“, hat mein Vater gesagt. Ob dies geschehen würde und falls ja, wann – diese Frage ist offengeblieben. Ein Besuch in dem von der Sowjetunion annektierten Litauen hätte damals politische Untertöne gehabt, an die man nicht einmal denken mochte, deshalb hat sich Thomas Mann nicht weiter damit beschäftigt – er erwähnte den Kalten Krieg und seine US-Staatsbürgerschaft und ließ es dabei bewenden.

Aber mein Vater hat nach der Rückkehr nach Litauen den dortigen Machthabern zu verstehen gegeben, dass das Haus von Thomas Mann für alle Fälle schleunigst wiederhergestellt werden müsse. Am 21. Juli 1956 konnte er bereits in sein Tagebuch eintragen: „Nida ist noch immer genauso verwahrlost wie nach dem Krieg, aber es tat gut zu sehen, dass der Krach, den ich letztes Jahr wegen des drohenden Einsturzes des Hauses von Thomas Mann geschlagen habe, nicht umsonst gewesen ist: Der Einsturz ist nicht nur gestoppt, das Haus wird rasch instandgesetzt. Ich habe den Arbeitern von Thomas Mann erzählt.“ Der Schriftsteller, mit dem mein Vater sich in Weimar unterhalten hatte, war zu jenem Zeitpunkt bereits gestorben.

In unserer Familie wurde um Thomas Mann ein regelrechter Kult getrieben. Mein Vater hat eine ziemlich umfangreiche Bibliothek in mehreren Sprachen über ihn angelegt und seine Werke immer wieder von neuem gelesen – vor allem wohl den Felix Krull und den Erwählten und besonders Lotte in Weimar (während ich den Zauberberg und mehr noch Joseph und seine Brüder liebe).

Auf seine Begegnung im Hotel Elefant (Schauplatz eines Großteils der Handlung von Lotte in Weimar) und seine kleine List, die bei der Rettung des Kulturdenkmals geholfen hat, ist mein Vater bis zu seinem Tod sehr stolz gewesen. Am 14. Juli 1967 – beinahe am gleichen Tag, an dem Thomas Mann 37 Jahre zuvor zum ersten Mal in seinem Sommerhaus eingetroffen war – hat mein Vater das sorgfältig restaurierte Haus eröffnet. Danach hat er nicht mehr lange gelebt.

Das Sommerhaus wurde zunächst als Lesekabinett genutzt, während einige Räume einer musealen Ausstellung vorbehalten waren, manchmal haben in ihm auch Schriftsteller und andere Gäste von Nida übernachtet. Aus jener Zeit weiß ich eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Alexander Solschenizyn, ein anderer Nobelpreisträger, ist um das Jahr 1970 durch das Kaliningrader Gebiet (im einstigen Ostpreußen) gereist und hat Material für seinen Roman August Vierzehn gesammelt. Begleitet hat ihn Jefim Etkind, ein Petersburger (damals Leningrader) Professor und Literat, der später ins Exil ging und 1999 in Berlin gestorben ist. Sie nutzten einen Pkw und reisten mehr oder weniger inkognito, weil beide damals schon bekannte Dissidenten waren. In Nida kamen sie von Süden an – also von jenem Teil der Nehrung, der nicht zu Litauen, sondern zu Russland gehörte. Das Regime des Grenzzonensperrgebiets war bereits aufgehoben oder zumindest abgemildert, aber an der russisch-litauischen (vor dem Krieg deutsch-litauischen) Grenze stand noch immer eine Patrouille, die gelegentlich auch die Papiere kontrollierte.
„Um wen handelt es sich bei Ihnen?“, fragte die beiden der Sergeant.
„Einen Schriftsteller aus Leningrad mit seinem Freund.“
„Wohin reisen Sie?“
„In das Thomas-Mann-Haus.“
Der Sergeant winkte seine Untergebenen: „Durchlassen. Ein Leningrader Schriftsteller in Begleitung von Thomas Mann.“

Heute ist Nida wieder ein Kurort, beliebter als vor dem Krieg, und auch ziemlich teuer. Seit 1995 hat das Haus auf dem Schwiegermutter- oder Zauberberg den Status eines Museums und Kulturzentrums; soweit ich weiß, ist es eines von zwei Thomas-Mann-Museen auf der Welt – das zweite befindet sich in Lübeck, im Haus der Buddenbrooks. Hier, in Nida, findet jeden Sommer ein einwöchiges Festival statt, das Thomas Mann gewidmet ist. 2002 habe ich selbst an diesem Festival teilgenommen und sogar ein bisschen mit Frido Mann polemisiert, dem Nepomuk aus Doktor Faustus, der gerade im Hause seines Großvaters zu Besuch war.

Thomas Mann hat sein geliebtes Sommerhaus nicht wieder gesehen – darauf hatte, offen gesagt, auch keine Hoffnung bestanden. Aber seine Familie ist mit diesem Haus verbunden geblieben. So hat beispielsweise 1995 Elisabeth Mann Borgese in ihm geweilt, die Nida seit über sechs Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte. Sie musste erleben, dass in Nida keiner mehr die kurische Sprache spricht und die autochthone Einwohnerschaft durch Menschen aus anderen Gegenden von Litauen ersetzt worden ist, die aber eine lebendige und interessante Gemeinschaft bilden. Ansonsten war das alte Fischerdorf – die traditionellen Gebäude, die kleine Backsteinkirche, die eigenartigen Grabmäler, die Wimpel im Hafen und sogar das Hotel von Hermann Blode – noch recht gut wiederzuerkennen, am besten aber das Haus des Schriftstellers. Genau so sieht es auch heute noch aus. Die Kultur ist eine zähe Angelegenheit und vielleicht in erster Linie an jenen Orten, die von der Geschichte schmerzhaft gezeichnet sind.

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