Körperlichkeit
Der Luxus der Gesunden

Skulptur einer Frau in Badeanzug und Schwimmmütze, gebeugt wie zum Springen ins Wasser
Foto (Ausschnitt): Pixabay

Jedes Mal, wenn ich auf einem Massagetisch liege, den Kopf in der Kissenschlaufe eingequetscht, denke ich darüber nach, was die Person, die mich massiert, wohl für ein Verhältnis zum Körper hat. Nicht zu meinem Körper, zum Körper an sich. Sieht diese Person, die ja den ganzen Tag nichts anderes tut, als Fremde zu kneten, nur noch abstrakte Fleischberge? Einzelne Muskelstränge, Sehnen, meterweise Haut? Ich habe mich noch nie getraut, zu fragen.

Von Theresia Enzensberger

Dabei wäre die Frage wahrscheinlich zu beantworten. Unsere Beziehung zu anderen, fremden Körpern ist gemeinhin klarer umrissen, als unsere Beziehung zum eigenen Körper. Das liegt unter anderem daran, dass dieses Verhältnis nicht stabil, sondern ständig im Wandel begriffen ist; manchmal vergessen wir unseren Körper, manchmal fixieren wir uns auf ihn, manchmal macht er sich von selbst bemerkbar.
 
Die Tage nach dem Corona-Lockdown verbringe ich auf der Couch. Ich verschwende Zeit, bewege mich ziellos im Internet. Ich starre auf mein Handy, entkörpert in einer digitalen Welt, aus der heraus tausende Bilder fremder Körper auf mich einstürzen, produziert und veröffentlicht von Leuten, die sich damit ihrer eigenen Körper vergewissern wollen. Ich sehe Anleitungen zur Optimierung des Körpers, Rezepte, Sportroutinen, Hautbehandlungen, schaue in eine unendliche Vielfalt von Dekorationen hinein, und lese Geschichten über Menschen, die sich bis zur Unkenntlichkeit haben operieren lassen. Eine besonders verstörende Geschichte handelt von Männern, die sich einem (auf mehreren Ebenen) unmöglichen Ideal von Männlichkeit verschrieben haben und meinen, ihr Status in der Gesellschaft sei abhängig von der Form ihres Kiefers. Sie unterziehen sich unzähligen Operationen, um ihrem Idealbild näher zu kommen. Einer von ihnen schreibt in ein Forum: „Ich will in der Praxis eines Schönheitschirurgen wohnen. Ich will einfach nur ein Bett in einem seiner Labore haben. Nur ein Bett, eine kleine Küche und eine Internetverbindung. Ich will mich in meinem Körper rein fühlen und mich selbst bestätigen, indem ich in den Spiegel schaue und den makellosen Schädel sehe. Wenn ich eine winzige Deformation entdecke, rufe ich den Chirurgen und er ist sofort da, mit seinem Assistenten und einem Messer in der Hand, um mich aufzuschneiden.“
 
Diese sehnsuchtsvolle Beschreibung fasziniert mich, weil sie eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Entfremdung und Vergewisserung ausdrückt. Aber vielleicht ist da gar kein Paradox, vielleicht ist der Akt der Entfremdung, der Versuch, den eigenen Körper als etwas Fremdes zu sehen, in Wirklichkeit ein Akt der Selbstbestätigung – eben weil der fremde Körper uns weniger mysteriös ist als der eigene. Was hier natürlich auch eine Rolle spielt, ist eine Vorstellung vom Körper, die uns seit der Aufklärung begleitet, oder zumindest seit der Entwicklung der modernen Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts: Der Körper als Maschine, als Funktion, als Objekt. Anhänger des „Biohackings“, die sich genau dosierte Hormone, Psychopharmaka und Vitamincocktails verabreichen, sehen den Körper gar als Computer. Vermutlich interessiert es sie wenig, dass Donna Haraway die Grenze zwischen Mensch und Maschine, zwischen Natur und Technologie schon 1985 in ihrem „Cyborg Manifesto“ als obsolet bezeichnet hat. Wichtig für die Biohackers, für die Incels und Instagirls, selbst für die Esoterikfraktion, die einem Krebspatienten schon mal die Schuld an der eigenen Krankheit gibt, ist vor allem eins: Dass der Körper manipulierbar ist, dass man ihn kontrollieren, ihn kennen kann.   
 
Diese Illusion muss man sich leisten können, sie ist ein Luxus der Gesunden, derjenigen, deren Körper sich abseits der weißen, männlichen oder schlanken Norm möglichst wenig ins Gedächtnis ruft. Susan Sontag schreibt: „Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen“ Die meisten Menschen tun allerdings ihr Bestes, ihren Aufenthalt im Reich der Kranken so schnell wie möglich wieder zu vergessen. In „On Being Ill“ wundert sich Virginia Woolf darüber, dass die Krankheit keinen größeren Platz in der Weltliteratur eingenommen hat und stellt fest: „mit wenigen Ausnahmen tut die Literatur ihr möglichstes zur Wahrung des Anspruches, es gehe ihr um den Geist; der Körper sei eine Glasscheibe, durch welche die Seele klar und offen herausschaut, und sei, abgesehen von ein, zwei Leidenschaften wie Lust und Gier, null und nichtig und vernachlässigbar und nicht vorhanden.“
 
Krankheit und Schmerz sind Erinnerungen, sie gemahnen uns nicht nur an die Sterblichkeit, sondern auch daran, dass der eigene Körper uns so allgegenwärtig wie unverständlich bleibt. Niemand weiß das besser als die chronisch Kranken. Über die Erfahrungen mit ihrer eigenen Krankheit schreibt die Künstlerin und Autorin Carolyn Lazard: „Der Körper ist zu sperrig, um in einen totalisierenden Diskurs zu passen. Manchmal ist mein Körper transparent, ein Beispiel für Karma, für Aktion und Reaktion. Manchmal ist er eine feste Masse undurchdringlicher, unbegreiflicher Materie. Aber immer bin ich mein Körper, egal, wie sehr er mir entgeht.“
 
Bei einer chronischen Erkrankung wird der Körper ubiquitär, er bringt sich kontinuierlich in Erfahrung – oft durch Schmerz.
 
Die meisten Frauen haben sich im Laufe ihres Lebens zwangsweise in der Machtlosigkeit gegenüber dem Schmerz geübt, haben also zumindest eine Ahnung, was es bedeutet, den eigenen Körper nicht kontrollieren zu können. Seit ungefähr zwanzig Jahren sucht mich einmal im Monat der Schmerz heim. Er ist unberechenbar; manchmal kann ich nicht aufstehen, muss mich den brüllenden Schmerzen in meinem Unterleib vollkommen hingeben, manchmal schaltet mein Körper das Notfallprogramm ein und ich werde ohnmächtig, und manchmal verharrt der Schmerz brodelnd, aber gnädig unter der Oberfläche und lässt mich zumindest den Tag bestreiten. In der Serie „Fleabag“ trifft die Protagonistin auf eine ältere Frau, die beinahe euphorisch darüber redet, ihre Wechseljahre hinter sich zu haben; sie muss den Schmerz nicht mehr ertragen. Sie sagt: „Frauen werden mit Schmerz geboren, es ist unser physisches Schicksal – Menstruationsschmerzen, wunde Brüste, Geburten, du weißt schon. Wir tragen den Schmerz unser ganzes Leben lang in uns. Männer nicht. Sie müssen Dinge wie Götter und Dämonen erfinden, sie fangen Kriege an, damit sie etwas fühlen und sich gegenseitig anfassen können. Und bei uns passiert das alles hier drinnen. Über Jahre hinweg tragen wir einen Kreislauf des Schmerzes in uns.“
 
Damit wir uns nicht falsch verstehen: So befriedigend es war, die eigene Erfahrung auf dem Fernsehbildschirm bestätigt zu sehen, so wenig glaube ich daran, dass diese Erfahrung „schicksalshaft“, also unabänderlich ist. Es bleibt ein Skandal des Patriarchats, dass das, was im Deutschen höhnisch-euphemistisch „Menstruationsbeschwerden“ genannt wird, nicht besser erforscht ist, dass die „Behandlung“ dieser Schmerzen sich immer noch auf ein paar Ibus und Buscopans beschränkt, die ich mir einverleibe wie Tropfen auf einen unerträglich heißen Stein. Es bleibt ein Skandal, dass Endometriose eine Krankheit ist, von der die Medizin weder die Ursache kennt, noch eine spezielle Diagnostik bereithält, geschweige denn eine Heilung versprechen kann.
 
Es geht hier also in erster Linie um einen Unterschied im Erleben des Körpers, der sich darin zeigt, ob wir die Überzeugung unserer eigenen Autonomie über die des Körpers stellen. Carolyn Lazard schreibt: „Es ist die radikale Autonomie des Körpers, die dazu führt, dass er nicht kommodifiziert werden kann. Er trotzt unserer optimalen Produktivität und wird krank.“ Das Wort „Krankheit“ bedeutet etymologisch gesehen vor allem „Schwäche“ oder „Schwachheit“, eine Bedeutung, in der die Stigmatisierung der Kranken schon mit eingepreist ist. Um Krankheit neu zu definieren, müsste man gleich das ganze Wertesystem des Kapitalismus umgestalten, ein Wertesystem, in dem Schwäche einer moralischen Verfehlung gleichkommt. Vielleicht ist der erste Schritt in diese Richtung, den Körper neu zu definieren, so wie Johanna Hedva das in „Sick Woman Theory“ tut, nämlich als „etwas, das immer und in erster Linie verletzlich ist […] Wenn man von der Prämisse ausgeht, dass sich der Körper durch seine Verletzlichkeit definiert, und nicht nur vorübergehend von ihr beeinträchtigt wird, dann folgt daraus, dass er fortlaufend auf Infrastrukturen der Unterstützung angewiesen ist, und dass wir die Welt im Hinblick auf diese Tatsache umgestalten müssen.“
 
Im Grunde ist es das, was angesichts der Corona-Pandemie auf der ganzen Welt geschehen ist. Für manche ist diese Umgestaltung eine Bedrohung. Die Tatsache, dass das Coronavirus potentiell alle betrifft, macht es außerdem unmöglich, eine Gruppe von Kranken zu ermitteln, um sie dann zu stigmatisieren – eine Taktik, die historisch gesehen gerne benutzt wurde, um Angst vor der eigenen Schwäche zu externalisieren.
 
In den Nachrichten sehe ich Videos von wütenden Menschen, von Nazis, Esoterikern, Sektenanhängern und noch mehr Nazis. Ich würde wetten, dass sie eines gemein haben: Schwäche ist für sie bedrohlich. Sie wollen sich ihre Illusion von einem manipulierbaren, funktionierenden, aber vor allem von einem kontrollierbaren Körper nicht nehmen lassen.
 

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