„Kurische Nehrung“ von Volker Koepp
Den Fliehkräften entgegen

Renate aus Nida, Volker Koepp: „Kurische Nehrung“
Renate aus Nida, Volker Koepp: „Kurische Nehrung“ | © Edition Salzgeber

Verwunschene Landstriche wie die Kurische Nehrung ziehen den Dokumentarfilmer Volker Koepp magisch an. Auf der schmalen Landzunge in der Ostsee vermischen sich die Spuren jahrhundertelanger baltischer, deutscher und russischer Geschichte. „Kurische Nehrung“ blickt auf diese Vergangenheit, aber auch in die Zukunft.

Schon die ersten Bilder wirken wie vom Winde verweht. Die menschenleeren Aufnahmen im scheinbar ewigen Sturm vermitteln den imposanten Eindruck einer Landschaft, in der die Natur der Geschichte stets voranging. Seit Jahrtausenden ist die das kurische Haff von der Ostsee trennende Nehrung in steter Bewegung, sie zieht sich ihre Grenzen selbst. Die im Gezeitenlauf wandernden Dünen haben ganze Dörfer begraben, lange bevor sich nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auch die politischen Grenzen verschoben, manche Gebiete unzugänglich wurden und nach Flucht und Vertreibung nur wenige Menschen zurückblieben. Noch in der Zwischenkriegszeit hatten sich hier Künstler und Schriftsteller angesiedelt; Thomas Mann baute sich in Nida, dem schon nicht mehr ostpreußischen Nidden, ein Sommerhaus. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Halbinsel in zwei Hälften geteilt, in einen südlichen russischen und einen nördlichen litauischen Teil.

Sprachen und Delikatessen aus alter Zeit

Koepps Film freilich kennt keine Grenzen. Im Mittelpunkt seiner Gespräche mit Einheimischen steht Renate aus Nida, eine aufgeweckte Rentnerin mit einem kleinen Zusatzverdienst als Straßenkehrerin und einer bewegten Familiengeschichte.

Nach dem Krieg, als junge Frau, heiratete sie einen Russen. Die Eltern hatten nichts dagegen. Erst nach und nach – wie immer arbeitet Koepp ohne Einblendungen oder Erklärungen – stellt sich heraus, dass sie Deutsche ist. Sie muss die Sprache für sich neu beleben, in ihrer Familie wurde auch einmal Kurisch, später nur noch Litauisch gesprochen. Beim Abendessen mit ihrem Mann, sowie dem Dokumentarfilmer als gern gesehenem Gast, geht es sprachlich wild durcheinander. Nicht nur die dialektalen Lauthüpfer, auch die Gerichte klingen fremd und gelegentlich ulkig: Auf den Tisch kommen Wickelgamaschen oder „die Gemiesesuppe mit die Krähen“. Dabei verrät die karge Umgebung mehr über die aktuellen Nöte als Renates stets unbekümmerte Erzählung. In ihrer kleinen Küche wird einfach alles zur Delikatesse, natürlich aus der guten alten Zeit.

Ob sie den Filmvorführer aus Rybatschi kennt, drüben auf der russischen Seite? In seiner Küche sitzt er allein, seine einzige Liebe blieb der Film. Mit der Zigarette in der Hand spricht er vom Filmstudium in Moskau, das ihn schließlich doch wieder hierher verschlug, und den gebliebenen Sehnsüchten, den „schönen, lichten Träumen von Liebe, Frieden und einem kleinen Glück“. Es ist jene Melancholie, die Koepp in seinen Filmen sucht und verlässlich findet. Wo immer das geschieht, scheint er sich heimisch zu fühlen, stellt er nur wenige Fragen und lässt den Dingen ihren Lauf.

Erzählerische Harmonie mit Brüchen



Koepps sanftmütiger Ton, der gelegentlich ins Joviale kippt, hat ihm auch Kritik eingebracht. Seine beeindruckenden Bildkompositionen, die ruhige Kamera und seine vertrauensvolle Art der Gesprächsführung suggerieren eine Harmonie, die in erster Linie in seinem persönlichen Blick begründet scheint. Die Grenzziehungen nach 1945 folgten ja eben keinem harmonischen Naturprinzip. Sie kamen abrupt nach einem brutalen Zivilisationsbruch, dessen Wunden noch immer offenliegen, wenn man sehr genau hinhört und -sieht. Aus Renates Erzählung etwa muss man sich selbst erschließen, dass sie von den Eltern auf der Flucht zurückgelassen wurde. Als sie ihren Vater in Hamburg besuchte, bezahlte er mit dem „Begrüßungsgeld“ das Rückfahrticket. Sie erzählt das wie eine lustige Anekdote, und Koepp belässt es dabei. Bei der jungen Angestellten im Bernsteinmuseum hingegen fragt er nach, ob sie denn nicht einmal die russische Seite besuchen wolle. Dort sei „alles kaputt“, sagt sie mit schüchternem Lächeln, nur einmal vor vier Jahren habe sie sich das angesehen. Dass die Jugend die Grenze einfach so akzeptiert, irritiert ihn.

Poesie von Heimat und Verlust

Volker Koepp führt einen beharrlichen, manchmal auch humorvollen Kampf gegen das Vergessen. Seine frühen Filme in der DDR, wo er 1967 seine Arbeit begann, waren dabei noch einem strengeren Realismus verpflichtet. Bis heute berühmt sind seine fünf Wittstock-Filme über den harten Alltag im damaligen Bergbaugebiet. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zieht es ihn gen Osten. Herr Zwilling und Frau Zuckermann (1998), das rührende Porträt der letzten überlebenden Juden in Czernowitz, war sein wohl größter Publikumserfolg. In seiner poetischen Sprache von Heimat und Verlust erinnert er an W. G. Sebald, den deutsch-britischen Schriftsteller mit ähnlichem Themengebiet: Wo dieser einzelne Verlorene in ihrer äußeren und inneren Diaspora beschreibt, zeigt Koepp Zurückgelassene im inneren Exil. Weist Sebald die unheilbaren Brüche auf, stellt Koepp Zusammenhänge wieder her, knüpft gerissene Fäden zusammen. Anstelle ortloser Menschen sieht man hier menschenleere Orte, die doch Heimat sind.

„Die mittelosteuropäischen Gebiete sind wichtig für die Zukunft Europas“, sagt Koepp. Es ist dieses nachhaltige Interesse an der Region, das seine Filme über die nostalgische Bestandsaufnahme hinaushebt und darin bereits Effekte zeigt: In Kurische Nehrung freuen sich die Menschen über den Mann mit der Kamera, der etwas Leben in ihren Alltag bringt und schon dadurch etwas verändert. Ob beim Essen in der guten Stube oder beim Ausflug ins Grüne – sein unbefangener Blick weckt die Lust am Erzählen, ermöglicht den Dialog. Das ist das Versprechen und zugleich der Ansporn all seiner Filme, die den Fliehkräften der Geschichte entgegenwirken, in stiller Liebe zu den Orten, von denen sie erzählen.

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