Gegenwarten reformieren
Säkularisierung und Globalisierung

Gegenwart Reformieren - Spiel zum Westfälischen Frieden, LWL-Museum für Kunst und Kultur
Gegenwart Reformieren - Spiel zum Westfälischen Frieden, LWL-Museum für Kunst und Kultur | Foto: © Andrea Wöhr

Ausgehend vom Begriff der Säkularisierung beschreibt Giacomo Marramao die gegenwärtige Ersatzfunktion von Religion. In einer polarisierten Weltmodernität setzt der Philosoph auf den Universalismus der Unterschiede und eine Politik der Übersetzung zwischen verschiedenen Ethiken und Lebensformen.

Luthers Lehre begründet eine klare Trennung zwischen den „zwei Regimenten“, der „Zeit Gottes“ und der „Zeit der Menschen“: Beide sehen sich nunmehr auf die unterschiedlichen Topografien des Körpers und des Geistes verteilt.
 
Kant sah in der Zäsur des Christentums, die mit der Reformation vor 500 Jahren stattfand, bekanntlich den Beginn der Aufklärung als Prinzip der Autonomie des Gewissens; während Hegel darin jenen Moment des Bruchs mit den Fesseln der Tradition erkannte, der den Ursprung der Neuzeit als Epoche der Freiheit des Subjekts kennzeichnet.

Wir stehen hier vor einer entscheidenden Etappe im Entwicklungsprozess von der mittelalterlichen zur modernen Mentalität. Seit Luther wird die Person zum Gegenstand einer ganz besonderen Aufmerksamkeit. Priester und Pastor müssen auf neue, andere Weise „disziplinierend“ eingreifen, und man beginnt sich zu fragen, auf welche inneren Bereiche sich die von Michel Foucault so genannte christliche „Pastoralmacht“ richten muss. Die augustinische Lehre erlangt in diesem historischen Moment dank Luther wieder eine zentrale Stellung im europäischen Christentum.

Ohne die „Gutenberg-Galaxis“ und die Revolution, die sie bei den Urhebern wie den Adressaten der Kontrollinstrumente bewirkte, hätte das alles nie geschehen können. Die Herausbildung des modernen Intellektuellen im 16. Jahrhundert besiegelte den Niedergang der großen Prediger – Trumpfkarten des klösterlichen Einflusses – und führte zur Überlegenheit des Buches, dem entscheidenden Medium des modernen Bewusstseins. Ein Wissen, das nicht mehr aufgerufen war, den trockenen, abstrakten Mustern der Scholastik zu entsprechen, sondern die Wege des Heils selbst erkundete, benötigte kaum mehr die auctoritas des Bischofs von Rom und seiner bevollmächtigten Prediger, sondern in weit größerem Maße das Buch als Hilfsmittel.

Prüfung durch das geschriebene Wort

Jede mündlich vorgetragene Behauptung, auch die Aussagen einflussreicher Theologen, wurden jetzt der maßgeblichen Prüfung durch das geschriebene Wort unterworfen – dem unverzichtbaren Instrument, um die Fragen der Erlösung zu erklären und neue Verhaltensregeln für das praktische Leben aufzustellen. So wurde das Buch seit der deutschen Übersetzung der Bibel durch Luther das bevorzugte Transportmittel für Ideen, die zuvor auf Straßen und Plätzen in Umlauf gewesen waren.

Auf katholischer Seite stellt die  Lehre und die Bildung der Jesuiten die wirkungsvollste Antwort der katholischen Kirche auf die lutherische Herausforderung dar. Ihre großartige Anleitung zum Lernen, die Ratio studiorum, bestätigt das Prinzip der zweifachen Kontrolle über beide Bereiche, das Äußere und das Innere: eine kühne Widerlegung der – als künstlich angesehenen – Dichotomie, welche die Protestanten zwischen Individuum und Gemeinde, Glauben und Ritus errichtet hatten.

Unter diesem Gesichtspunkt bildet der barocke Synkretismus die effektvolle Darstellung des jesuitischen Programms einer Wiederversöhnung der protestantischen Dualismen im Schoß der Volksfrömmigkeit. Während Luther „Provinzen und Reiche umstürzte“, wie einer der bedeutendsten Historiker der Gesellschaft Jesu, der Jesuit Daniello Bartoli, schreibt, „wurden jene gebraucht, die durch Predigt und Unterricht, schreibend und disputierend Schulen gegen Schulen wenden, Kanzeln gegen Kanzeln, und indem sie dergestalt Stimme gegen Stimme, Wissen gegen Wissen und Bücher gegen Bücher stellen, die Katheder der Ketzerei umstürzen und ihre Lehrer niederschlagen.“ Gemäß dem Plan der Jesuiten musste die Autorität der Kirche von der bloßen Wiederholung ritualisierter Formen befreit werden, damit sie der Macht des Wissens anvertraut werden konnte. 

SäKulARISIERUNG UND vERWELTLICHUNG

Das angesprochene Thema der Säkularisierung verweist jedoch auch auf die langfristigen Auswirkungen des Bruchs in der Christenheit, den die Reformation herbeiführte: Europa hörte auf, eine „Res Publica Christiana“ zu sein, weil das Christentum nach Luther kein Bindemittel der europäischen Gemeinschaft mehr war, sondern sich in ein Terrain radikaler Konflikte verwandelte, die in Konfessionskriege zwischen den Bürgern mündeten. Den politischen Wendepunkt nach über einem Jahrhundert blutiger Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten bildete der Westfälische Friede von 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete. Während der Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück benutzte der französische Gesandte Longueville den Begriff der „Säkularisierung“ (séculariser) in einer umfassenderen Bedeutung als jener, die er ursprünglich im kanonischen Recht innehatte, wo er den Übergang eines Geistlichen von der „Ordensregel“ in das „weltliche Leben“ bezeichnete, von der klösterlichen oder Regularstellung in die Stellung eines Säkularprälaten.

Das Lemma „Säkularisierung“ erhält jetzt die Bedeutung einer Aneignung kirchlicher Güter und Besitztümer durch einen laizistischen, konfessionslosen Staat, der nach dem Prinzip territorialer Souveränität strukturiert ist. So führte die von der Reformation erzeugte Spaltung der Christenheit zu einer neuen politischen Ordnung des Kontinents: das paneuropäische System souveräner Staaten, das an die Stelle des einheitlichen Gefüges des Heiligen Römischen Reiches trat.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sollte sich mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie und dem Begriff der „Verweltlichung“ jedoch eine noch weitere Ausdehnung der Bedeutung von Säkularisierung durchsetzen, bis Max Weber die Säkularisierung dann zum Indikator eines komplexen Prozesses der Modernisierung und Rationalisierung der Gesellschaft machte. 

POLARISIERTE wELTMODERNITÄT

Doch in welchem Ausmaß und in welcher Form hat sich demgegenüber unsere Gegenwart verändert – die Gegenwart eines Europas, das in die „postnationale Konstellation“ (J. Habermas) der globalisierten Welt eingebunden ist?

Radikal verändert hat sich die Beziehung zwischen den einst entgegengesetzten Polen der katholischen und der protestantischen Christenheit. Denn beide sehen sich heute mit demselben Szenarium konfrontiert: Die Prozesse der Säkularisierung schließen die Religionen als konstitutive Momente jener Ethiken, die Grundsätze für das menschliche Handeln in der Wirtschaft wie in der Politik liefern, nicht mehr aus, sondern problematisieren sie neu.

Das große vergleichende Bild, das Max Weber in seiner Religionssoziologie entwarf, gewinnt damit wieder Aktualität. Ein noch immer unverzichtbarer Vergleich. Dennoch muss auch er korrigiert und aktualisiert werden, angesichts einer Welt-Modernität, die zwar sehr viel komplexer ist als die Nationen-Modernität, aber – im Gegensatz zur landläufigen Meinung – alles andere als beweglich ist.  Eben weil sie von ethisch-religiösen Gruppierungen polarisiert wird, die durch das Verschwinden der Ideologien wieder aus den Tiefen der Geschichte aufgetaucht sind.

RELIGION ALS sURROGAT / MAX wEBER ÜBERDENKEN

Die Globalisierung scheint heute weniger durch ein „einheitliches Denken“ oder eine allgemeine „Beweglichkeit“ charakterisiert als durch eine „multipolare“ und zuinnerst konfliktträchtige Struktur, in der die Religionen nicht nur als universalisierende Triebkräfte, sondern auch als postideologische Quellen fungieren.

Als solche fördern sie Prozesse symbolischer Identifikation, die hochgradig differenziert und in ihren Zielen teilweise drastisch entgegengesetzt sind. Es handelt sich nicht um das Phänomen des clash of civilizations, von dem Samuel Huntington sprach, sondern um die Rolle, die die Religion heute als Surrogat von Ideologie und Bindemittel unterschiedlicher Identitäten spielt. Man denke nur an den Islam, vor allem aber an die Funktion, die der (freilich neu definierte und modernisierte) Konfuzianismus für das Wirtschaftswachstums Chinas hatte – ein Phänomen, das heute mit Blick auf den Religionsvergleich von Weber gründlich überdacht werden muss. Denn Weber zufolge war die konfuzianische Ethik mit ihrem anti-individualistischen und paternalistisch-gemeinschaftlichen Geist ungeeignet für die Entwicklung einer dynamischen, produktiven Wirtschaft. So paradox es denjenigen erscheinen mag, die noch immer der These von der prästabilierten Harmonie zwischen protestantischer Ethik und Genese des Kapitalismus anhängen, der chinesische Kommunitarismus scheint den Imperativen der Produktivität und des globalen Wettstreits heute sehr viel besser zu entsprechen als das individualistische Konkurrenzprinzip des Westens.

In dieser Phase eines „Interregnums“ zwischen dem Nicht-Mehr der alten internationalen Ordnung souveräner Staaten und dem Noch-Nicht einer neuen, supranationalen Ordnung, die sich noch nicht abzeichnen will, zeigt sich das globale Szenarium als Aufgliederung der Welt in große Gebiete. Es sind nicht nur und nicht zwingend geopolitische Räume (obwohl manche Philosophen mit ihrer Behauptung, uns stünden die Dreißiger Jahre bevor, eine Rückkehr der Großraumpolitik beschwören), nein, eher „geoökonomische“ und „geokulturelle“ Regionen, die nicht mehr mit Nationen-Staaten, sondern mit Kontinent-Staaten zusammenfallen: von den USA bis China, von Russland bis Indien und Brasilien. 

Und Europa?

Und Europa? Die europäische Union sieht sich heute im Zangengriff einer doppelten Herausforderung durch die beiden antithetischen Modelle der Globalisierung: dem individualistischen Konkurrenzprinzip Amerikas und dem kommunitaristisch-autoritären Prinzip Asiens. Dank seiner großen kulturellen und politischen Geschichte hätte Europa die Möglichkeit, ein alternatives tertium zwischen beiden Modellen zu entwickeln, indem es seiner Tradition die Idee eines Individuums entnimmt, das nicht nur erwirbt und konkurriert, sondern auch solidarisch ist, außerdem das Modell einer nicht paternalistisch-autoritären Gemeinschaft, die die kreativen Ressourcen der Besonderheit ausschöpft.

Eine solche Alternative zu verfolgen, würde bedeuten, einer „großen Politik“ den Weg zu bahnen, die das Problem der Migration meistern kann, indem sie eine mögliche Form der Staatsbürgerschaft jenseits des Dualismus zwischen dem republikanischen Assimilationsmodell und dem multikulturellen „Mosaikmodell“, also zwischen dem neutralen Universalismus des Modells „République“ nach französischem Vorbild und dem Antiuniversalismus des „Londonistan-Modells“ entwirft. Nur eine solche Politik hätte die Kraft, das universelle Potential der Religionen zu nutzen, indem sie das destruktive, exkludierende Moment ihrer Identitären Obsessionen durch die Aussicht auf einen Universalismus der Unterschiede und eine Politik der Übersetzung zwischen verschiedenen Ethiken und Lebensformen entschärft (vgl. dazu G. Marramao, The Passage West: Philosophy After the Age of the Nation State, Verso, London/New York 2012).

Doch abgesehen von ein paar bedeutsamen Ausnahmen in Deutschland und Italien, scheint die politische Klasse Europas derzeit Lichtjahre von einer solchen Aufgabe entfernt.
 

Giacomo Marramao, Professor für Philosophie an der Universität Rom III, studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Florenz und der Frankfurter Goethe-Universität. Er war zudem Humboldt-Stipendiat in Frankfurt (in den 70er Jahren) und in Berlin (in den 80er Jahren) sowie Gastprofessor an verschiedenen europäischen, amerikanischen und asiatischen Universitäten. Vom französischen Präsidenten erhielt er im Jahre 2005 die Auszeichnung „Palmes Académiques“ und von der Universität Bukarest den Titel „professor honoris causa“. 2013 wurde er von der Universität Córdoba mit dem Titel „doctor honoris causa“ ausgezeichnet.

Zu seinen in die deutsche Sprache übersetzten Bücher zählen:
„Macht und Säkularisierung“ (Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main), „Minima temporalia: Zeit, Raum, Erfahrung“ (Passagen Verlag, Wien), „Die Säkularisierung der westlichen Welt“ (Insel Verlag, Frankfurt am Main-Leipzig).

Die jüngst erschienenen Bücher in englischer Sprache lauten:
„Kairós: Towards an Ontology of Due Time“ (Davies), „The Passage West: Philosophy After the Age of the Nation State“ (Verso), „Against Power: For an Overhaul of Critical Theory“ (John Cabot University Press).
The Bewitched World of Capital (Brill - forthcoming).



 
 

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