Dresdner Modell
Demokratie braucht Bürgerbühne

„Ich armer Tor“ nach Goethes Faust (Regie: Miriam Tscholl), Bürgerbühne Staatsschauspiel Dresden, v.l.: Valentin Steinhäuser, Sebastian Eckhardt, Sandro Zimmermann, Benno Fritz, Kai-Uwe Kroll, Bertolt List, Armin Biedermann
„Ich armer Tor“ nach Goethes Faust (Regie: Miriam Tscholl), Bürgerbühne Staatsschauspiel Dresden, v.l.: Valentin Steinhäuser, Sebastian Eckhardt, Sandro Zimmermann, Benno Fritz, Kai-Uwe Kroll, Bertolt List, Armin Biedermann | Foto (Ausschnitt): Matthias Horn

Die Idee einer Bürgerbühne im weiten Sinne bewegt seit der Aufklärung die deutsche Theaterszene. Eine Beschreibung der Dresdner Bürgerbühne anlässlich der Tagung „Was kann eine gute stehende Bürgerbühne eigentlich wirken?“ im Januar 2013.

Friedrich Schillers Schrift Was kann eine gute stehende Bühne eigentlich wirken entwarf Theater als feste Institution der Volks- und Bürgerbildung. Die zu errichtende „stehende Bühne“ sollte ein „Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ sein. „Aufklärung des Verstandes“, „Bildung der Sitten“, „Sublimierung der Sinne und Leidenschaften“ waren die Ziele, die nach Schiller eine „harmonische Ausbildung aller Kräfte“ des Menschen bewirken können. Eine mögliche Dramaturgie für dieses Konzept hatte sein Dramatikerkollege Lessing schon Ende des 18. Jahrhunderts mit dem bürgerlichen Trauerspiel geliefert. Helden, die mit den Zuschauern „von gleichem Schroth und Korne“ sein sollten, waren geeignet, Nähe und Einfühlung zwischen Zuschauer und Figur zu intensivieren. Das zielte auf eine mimetische Identifikation und eine damit verknüpfte Selbsterkenntnis des Zuschauers. Aber weder Lessing noch Schiller hatten im Sinn, Theaterlaien auf die Bühne zu holen. Sie waren zu jener Zeit vielmehr bemüht, den Schauspielern der fahrenden Theatertruppen ihren Dilettantismus auszutreiben.

Laiendarsteller auf der Bühne konnten erst nach der Etablierung der Stadt- und Staatstheater und der damit einhergehenden Professionalisierung ihrer Darsteller sozial und ästhetisch interessant werden. Im Gefolge der 1968er-Bewegung entwickelte die Theaterszene ein neues Theaterverständnis: Mit der Kritik am bestehenden Regie- und Intendantentheater ging das Interesse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit einher. Laien auf der Bühne waren nicht nur zugelassen, sie waren erwünscht. Theater mit Lehrlingen, Dorfbewohnern, Strafgefangenen, Senioren, Migranten oder Behinderten wurden an verschiedensten Orten erprobt und meist als freie Projekte realisiert. Authentizität war die Begründung und ästhetische Zauberformel, die von da an auch zunehmend das etablierte Profitheater erfasste.

Die Bürgerbühne: das Dresdner Modell

Laien auf den Bühnen der Stadt- und Staatstheater kamen seit den 1990er-Jahren in Mode. Daraus wurde eine theatrale Volksbewegung, die in den Projekten von Rimini Protokoll mit ihren „Experten des Alltags“ oder Volker Löschs Bürgerchören gipfelte, ihre breite Basis aber in den Jugendclubs oder vielen einzelnen Bürgerprojekten der Theater hatte.

2009 wurde dann erstmals unter dem Dach eines Staatstheaters eine Bürgerbühne als neue eigene Sparte eingerichtet. Auf der Dresdner Bürgerbühne können sich seither die Bürger der Stadt selber, als auch die sie betreffenden Themen, Probleme und Theaterstücke darstellen. Neu ist also nicht „Hauptdarsteller des Lebens“ auf die Bühne zu holen. Neu ist, dass sie ihr eigenes Theater bekommen, einen „Identifikationspunkt, einen Ort bei uns“, so Intendant Wilfried Schulz. Die strukturelle Einbettung dieser Theaterform in ein Staatstheater hat weitreichende Konsequenzen. Dieses nämlich schafft für seine spielfreudigen Bürger professionelle Produktionsbedingungen, stellt Probenräume, Programmangebote, Regisseure, Bühnenbildner und Dramaturgen bereit, die mit den jeweiligen Laiendarstellern gemeinsam eine Inszenierung erarbeiten. Das ist für das Theaterverständnis aller Beteiligten meist eine soziale und ästhetische Herausforderung. Die Profis fragen sich, warum bei einem bestimmten Thema oder Stück sich die Bürgerbühne als Aufführungsort anbietet. Sie haben die Eigen- und Besonderheiten ihrer Darsteller, deren sogenannte Authentizität, zu entdecken, wollen deren szenische Artikulationsfähigkeit stärken und entfalten. Die Bürgerbühnendarstellerinnen und Bürgerbühnendarsteller wiederum sind mit Darstellungsaufgaben konfrontiert, die vom selbsterfahrenen und -erfundenen Ehespiel Ja, ich will bis zu Goethes Faust reichen können, in dessen Adaption Ich armer Tor sieben Männer ihre eigene Midlife-Crisis entdecken und spiegeln. Und sie präsentieren sich mit ihren (mehr oder weniger) szenisch transformierten Biografien in bis zu 20 Vorstellungen einer Produktion ihren Mitbürgern, die dieses spezielle Programmangebot offenbar begeistert annehmen (Sie machen inzwischen fast 10 Prozent der Gesamtzuschauerzahl des Dresdner Staatsschauspiels aus).

Die Dresdner Bürgerbühne umfasst fünf Produktionen des Gesamtspielplans, für die die Schauspielerinnen und Schauspieler in einem sorgfältigen Entdeckungsprozess ausgewählt werden, der dann in eine fast zweimonatige Probenzeit übergeht. Geprobt wird wegen der beruflichen Verpflichtungen der Spieler meist am Abend und an ausgewählten Wochenenden. Acht sogenannte Clubs der Bürgerbühne mit so poetischen Namen wie „Club der verliebten Bürger“ oder „Club der neuen alten Meister“ arbeiten unter Anleitung von Theaterpädagoginnen, Regieassistenten oder Schauspielern des Ensembles einmal in der Woche themenzentriert. Ihre szenischen Ergebnisse werden in Werkstattaufführungen präsentiert. Als Format neu erfunden wurde Das Bürgerdinner. Am großen Esstisch treffen sich etwa 80 Dresdner Bürger, von denen die Theatermacherinnen und Theatermacher meinen, dass sie einmal miteinander reden und spielen sollten – Hebammen mit Bestattern, Pastoren mit Huren oder Banker mit Punks. Nicht zuletzt gibt es bei der Bürgerbühne ein reiches Angebot, in dem auch die Lehrer zu Theaterschülern werden dürfen.

Insgesamt ist die Dresdner Bürgerbühne ein sehr lebendiges Theaterbiotop, dessen kreativer Formenreichtum nicht absehbar ist. Fest steht allerdings jetzt schon, dass an die 1.200 Dresdner Bürger, die sich bisher auf dieses Theaterexperiment eingelassen haben, ein Potential an Theaterkennern darstellen, die mit erweitertem Blick auch andere Produktionen „ihres Hauses“ auf den Bühnen der Regie- und Schauspielkunst besuchen und diskutieren.

Der gesellschaftliche Kontext der Bürgerbühne

Stellt man die Bürgerbühne in einen größeren aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang, wird sichtbar, dass diese „Probebühne des Lebens“, deren Ziel es ist „Gelebtes auf den Kopf zu stellen“ – so die Leiterin der Dresdner Bürgerbühne Miriam Tscholl – Teil eines gesellschaftlichen Diskurses ist, der unter dem Etikett der „Neuen Bürgerlichkeit“ derzeit geführt wird. Zu einer Bürgergesellschaft, die einfordert, sich an gesellschaftlichen und politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen, gehören auch theatrale Erprobungsräume. So scheint naheliegend: Eine partizipatorische Demokratie braucht partizipatorische Theaterformen. In einer demokratischen Bürgergesellschaft braucht es eine Bürgerbühne, die Bürger unterschiedlichen Alters, verschiedener sozialer Herkunft, diverser Milieus und Berufe zusammenführt, miteinander ins Gespräch bringt und in ein gemeinsames Theaterspiel verwickelt.

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