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Wenn die Sexualität auf der Flucht zum Todesurteil wird

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts "Unprejudiced" mit Unterstützung des Östlichen Partnerschaftsprogramms und des Auswärtigen Amts im Herbst 2022 erstellt.
Autor: Cedrik Pelka

Die Flucht vor dem Krieg ist der letzte Ausweg für viele Menschen aus der Ukraine. Sie wollen nicht im Krieg sterben. Aber was ist, wenn selbst die Flucht zur tödlichen Gefahr wird? Und das nur, weil manchen die sexuelle Orientierung oder Lebensweise nicht passt? Zwei Beispiele von queeren jungen Menschen, die sich aus Angst vor dem Krieg auf eine gefährliche Flucht begeben haben.

„Ich hatte kein Leben in der Ukraine. Es war die Hölle und ich möchte mich nicht an die Zeit zurückerinnern.“ Das ist das Urteil von Rem. Sie ist 20 Jahre alt, Ukrainerin aus Odessa, studiert IT und sie ist eine trans* Frau. Das ist sie schon ihr Leben lang, nur leben konnte sie nie, wie sie wollte. Zu groß war die Angst. „In der Ukraine sind fast alle homophob und transphob. Selbst meine Familie weiß nichts von meiner begonnen Transition, nur enge Freundinnen und Freunde.“ Ein halbes Jahr vor dem Krieg beginnt Rem damit, sich die Haare wachsen zu lassen und sich ganz langsam mit dem Gedanken anzufreunden, bald vielleicht offen trans* zu sein. Dann kam der Krieg.

„In Mariupol soll Mann ein Mann sein. Das bedeutet: Am besten in einer Fabrik arbeiten und mit den Händen etwas erschaffen. Viele Menschen dort sind homofeindlich.“ Das berichtet der 23-jährige Sasha. Auch seine Eltern wissen bis heute nicht, dass er schwul ist. Und das solle, sagt Sasha, am besten so bleiben. „Die würden das nicht verstehen. Ich habe schon immer eine Rolle gespielt“, so Sasha. Einen Monat nach Kriegsbeginn macht sich der Kunst-Student auf den Weg zu seiner Mutter auf die Krim, denn er will fliehen und braucht dabei ihre Unterstützung. Völlig ausgehungert kommt er dort an. Er verdient mit kleinen Arbeiten illegal Geld. Er spart, um sich die Flucht leisten zu können. Als er später weiterzieht und in Donezk ankommt, trifft er seine eigentlich beste Freunden. Heute ist sie die Ex-beste Freundin. Sie wusste als eine von wenigen von seiner Sexualität und sagte plötzlich Dinge wie: „Finde endlich eine Frau.“ Oder: „Deine Sexualität ist nur eine Phase.“ Sie sei Pro-Russin, erklärt Sasha. Und das war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird.

Todesangst an der Grenze

Rem wusste ganz genau, was auf sie zukommen könnte. In Deutschland finden zwar seit Kriegsbeginn jeden Tag viele Frauen aus der Ukraine eine Zuflucht. Doch für Rem wird die Flucht bis zu ihrer neuen Heimat zu einer besonders großen Herausforderung, die die anderen nicht haben. In ihrem ukrainischen Pass ist bis heute das Geschlecht eingetragen, das ihre Eltern ihr zugeteilt haben: männlich. Deshalb durfte sie die Ukraine nicht verlassen und fliehen, als der Krieg begann. „Vom ersten Tag an habe ich überlegt, wie ich hier weg komme. Da war mir eigentlich schon klar, dass das auf legalem Wege nicht gehen wird.“ Die Soldaten an der Grenze wiesen sie zurück. Rem hatte Angst sich als trans* zu erkennen zu geben, denn sie erlebte die Situation als sehr bedrohlich: „Es war sehr gefährlich, denn die ukrainischen Soldaten sind alle sehr transfeindlich.“ Sie dürfe das Land wegen ihres eingetragenen Geschlechts nicht verlassen, müsse wohl bald selbst kämpfen. So laute das Gesetz in der Ukraine. „Wir sagen bei uns: Die Soldaten schenken dir ein Ticket für den Krieg, weil sie dich manchmal sofort in ein Ausbildungscamp schicken. Ich hatte Glück, dass ich sie davon abhalten konnte“, erinnert sich Rem. Während sie die Ablehnung akzeptieren muss, sieht sie, wie andere junge Frauen das Land verlassen. Darunter auch Freundinnen, die ohne sie in Richtung Westen aufbrechen dürfen. Ganz legal. Sie selbst muss als junge Frau in der Ukraine bleiben. Zehn Tage nach Kriegsbeginn entschiedet sich Rem, ihr Geburtsland über die sogenannte grüne Grenze zu verlassen. Sie rennt abends über ein Feld. Illegal.

Sasha durfte fliehen. Er ist ein Mann. Doch fast wird seine Flucht aus Mariupol zu seinem Grab. Da seine Heimatstadt damals von den Russen kontrolliert wird, konnte ihm die Ukraine als junger Mann nicht verbieten das Land zu verlassen. An der Grenzen zwischen Russland und Lettland angekommen, wird Sasha allerdings von tschetschenischen Truppen kontrolliert. Er wusste, dass der Grenzübertritt der gefährlichste Teil der Flucht werden wird. Stundenlang halten sie ihn fest und fragen ihn aus. „Das war der Moment, an dem ich wirklich Todesangst hatte“, sagt er. „Sie haben mich gefragt, warum meine Haare blond gefärbt seien und warum ich ein Ohrpiercing habe. Das hätten Männer schließlich nicht.“ Sasha wurde außerdem gefragt, ob er „zu denen“ gehöre. Er sah sich schon im Gefängnis oder im Arbeitslager. Als ehrenamtlicher Helfer in einem Community Center für LGBTQ in Mariupol hörte er täglich von anderen schwulen Männern, die verschleppt und gefoltert werden. Manche sind nie wieder aufgetaucht. Aber die Gefahr nahm er in Kauf, denn eine Zukunft im russisch besetzen Kriegsgebiet konnte er sich nicht vorstellen. An der Grenze redete er sich damit heraus, so formuliert er es, dass er Kunst studiere. „So sehen wir Studierenden nun einmal aus, sagte ich.“ Er wolle weiter nach Polen und dort in Frieden sein Studium beenden. Die Grenzsoldaten lassen ihn schließlich passieren.

Schwieriger Start in Deutschland

Rem nimmt durch ihre illegale Flucht eine hohe Strafe und Gefahren in Kauf. Doch das sei besser als das Leben im Krieg, sagt sie: „Ich bin das Risiko eingegangen, weil es eine Chance war. Ich war bereit dafür zu sterben.“ Ihr Weg führt schließlich über die Republik Moldau nach Nürnberg, wo sie Freundinnen trifft, die dort zu ihrer Familie geflohen sind. Endlich wieder bekannte Gesichter, dachte sich Rem. Doch die Freude währt nicht lange: Rem darf nicht bleiben. „Die Familien meiner Freundinnen hatten etwas dagegen. Ich weiß bis heute nicht warum“, berichtet sie, und weiter: „Ich war alleine und verloren.“ Sie liest im Internet von Hilfsorganisationen wie Quarteera. Eine Organisation aus Berlin, die sich an russischsprachige Flüchtende aus der LGBTQ-Community richtet. Rem zieht dank deren Hilfe zu einer Familie nach Berlin und kommt in Kontakt mit anderen queeren Flüchtenden, die ihre Probleme verstehen. Svetlana Shaytanova aus dem Vorstand von Quarteera setzt sich mit ihren Kolleg:innen für mehr Hilfe ein. „Politiker:innen geben Versprechen ab, dass sich die Situation für queere Flüchtende verbessern soll. Aber durch die Bürokratie dauert alles sehr lange. Viele Menschen, die mit Flüchtenden arbeiten, haben auch kein Verständnis für die besondere Situation von queeren Menschen. Sie haben oft noch ein zusätzliches Trauma erlebt, wie wir durch Geschichten wie die von Rem ja erleben können. Das ist alles ziemlich frustrierend, aber wir kämpfen, damit sich schneller etwas ändert“, so Shaytanova.

Sasha lebt jetzt in Köln und ist seit einigen Monaten mit seinem Freund zusammen. Die Menschen hier greifen ihn nicht für seine Sexualität an. Er ist glücklich, sagt er: „Ich weiß, dass es hier auch Homophobie gibt. Aber in Mariupol sind Leute ermordet worden, weil sie schwul waren. Das ist kein Vergleich.“ Hilfe und Unterstützung hat er von Anfang an beim Kölner Verein Rubicon bekommen, der für und mit queeren Menschen arbeitet. „Wir haben sofort ein Ukraine-Team eingerichtet mit russischsprachigen Mitarbeitenden. Jeden Tag kamen viele Anrufe und Mails bei uns an“, erklärt Tanya Parvez. Sie leitet im Rubicon die Gruppe Baraka, die sich zu kleineren Events trifft und zum Beispiel Erstausstattungen für Geflüchtete organisiert. Die Gruppe ist aber nicht nur offen für Flüchtende aus der Ukraine, sondern für alle. „Wir wollen alle Menschen miteinander vernetzen, egal aus welchem Land“, so Parvez. Der Verein unterstütz auch bei den bürokratischen Vorgängen und medizinischen Angelegenheiten“. Dort hat Sasha Freund:innen gefunden. Jetzt lebt er bei einem schwulen Mann und sucht nach einer eigenen Wohnung.

Auch Rem sucht nach einer eigenen Wohnung. Sie lebt in Berlin bei einer Familie und kann endlich offen als trans* Frau leben. „Ich bin hier viel freier. Ich kann sein, wer ich will.“ Trotzdem, in Berlin begegne ihr immer wieder Feindlichkeit, berichtet sie, vor allem in verschiedenen Ämtern: „Ich habe noch ein Foto aus einem anderen Leben in meinem Pass. Mir wird oft vorgeworfen, ich wäre jemand anderes.“ Als sie im Sprachkurs darum bat, man solle sie bitte bei ihrem Namen Rem ansprechen, verlor sie sogar ihren Platz. „Einen Monat durfte ich nicht mehr mitmachen.“ Wieso? Weiß sie nicht. Man bestand zunächst darauf, dass sie bei ihrem Deadname angesprochen wird, also bei dem männlich konnotierten Namen, den ihre Eltern ihr gegeben haben. Zurück in die Ukraine kann sie wohl nicht, sagt sie: „Meine Eltern respektieren mein Leben so nicht. Ich glaube, ich habe keine Eltern mehr.“ Im Moment richtet Rem also all ihre Konzentration auf ihre Transition in Deutschland, erzählt sie: „Ich möchte Deutsch lernen und dann schnell einen Job finden, um meine Operationen zu bezahlen. Ich habe neue Freundinnen gefunden und ich glaube, ich kann mir hier ein neues Leben aufbauen.“
 
Logos Unprejudiced
© Goethe-Institut

 

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