Matthias Nawrat
Sibirien-Tagebuch (Teil 3)

Sibirien-Tagebuch (Teil 3)
© Matthias Nawrat

In der dritten Woche der Autorenresidenz verlässt Matthias Nawrat Nowosibirsk und unternimmt eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Krasnojarsk. Im folgenden Blogeintrag berichtet er aus dem Zugabteil und schreibt über seine Eindrücke und die Entstehungsgeschichte der Stadt am Jenissei. Auch dem Dorf Owsjanka, in dem der Schriftsteller Wiktor Astafjew einige Lebensjahre verbrachte, stattete er einen Besuch ab.

Ankunft
Der Blick aus dem Fenster des Schlafwagens am Morgen überrascht mich, obwohl ich genau diesen Blick erwartet hatte. Am Fenster gleitet Birkenwald vorbei, in dem Nebel hängt, minutenlang nur Wald – und darüber ein blasser Himmel, der am rechten Fensterrand ins Hellblau und Rosa übergeht, aber nur dort, der Übergang bliebt immer am rechten oberen Bildrand. Der Blick geht in die Tiefe zwischen den Baumstämmen und kann sich im Nebel an nichts festhalten, wird schon weiter gezogen, in einen neuen Ausschnitt des Waldes. Dann tauchen ein paar verstreute Häuser auf, aus Latten und Holztüren zusammengeschusterte Schuppen, aus deren Blechkaminen Rauch aufsteigt, ins hohe Gras geduckt ein paar Strommasten, die umzukippen drohen. Dann wieder Wald. Andrej, Dimitrij und Mischa wachen auf. Man steht gähnend im Gang, mit Handtuch und Zahnbürste. Später kauft man in der Kabine der Schaffnerin einen Teebeutel, bekommt eine Tasse und füllt sich am Samowar heißes Wasser ein. Man zieht die Jogginghose aus und die Jeans wieder an. Erste Plattenbauten huschen am Fenster vorbei, ein rauchender Fabrikschlot. Dimitrij trägt jetzt ein weißes Hemd und spitze Lackschuhe. Good bye, Matthias, sagt er und gibt mir die Hand. Gute Tage in Krasnojarsk.

Von Kosaken, Katholiken und Gastronomen
An der Mündung des Nebenflusses Kača in den Jenisej ließ der Kosakenhauptmann Andrej Dubenski 1628 von 300 Mann eine Holzfestung errichten, um die stromabwärts gelegene Pelzhändlerstadt Jenisejsk vor den Angriffen der Ureinwohner zu schützen. Diese erste Siedlung brannte im 18. Jahrhundert ab, von ihr zeugt heute nur das Denkmal eines Pferdes – Freund, Kampfgefährt und im Notfall Nahrungsquelle eines Kosaken. Anna, meine Dolmetscherin, führt mich von hier aus den Prospekt Mira (Friedensprospekt) entlang in die jüngeren Stadtbezirke, an den Holzhäusern der ersten Händler und an den Jugendstilgebäuden der Familie Gadalov vorbei, die die Elektrizität in die Stadt brachte und von den Bolschewiken enteignet und teilweise in Gulags gesteckt wurde. Der letzte Bürgermeister, erzählt sie, hatte eine Leidenschaft. Wir stehen am Brunnen „Valentin und Valentina“, an dem ein junges Paar aus Bronze sitzt, kurz darauf kommen wir an „Die Flüsse Sibiriens“ vorbei, in dem die Flüsse Sibiriens als Frauengestalten aus Bronze im Wasser stehen. Mehr als hundert solche Wasserspiele gibt es seit ein paar Jahren in der Stadt.

Neben einigen orthodoxen Kirchen mit Kuppeldächern gibt es auch eine katholische. Unter dem Zaren wurden Aufständische aus Kongresspolen hierher geschickt. Die Kirche wurde nach der Revolution zwangskollektiviert und für verschiedene praktischere Zwecke benutzt. Heute darf die Gemeinde der polnischen Nachfahren sie ein paar Tage in der Woche anmieten, in den restlichen Tagen ist das Gebäude ein Saal für Orgelkonzerte.
Am Jenisej-Ufer liegt der Dampfer, auf dem Lenin 1897 zu seinem Verbannungsort Schuschenskoje südlich von Krasnojarsk gefahren ist. Ein Stein erinnert neben dem Kulturhistorischen Zentrum, das gegen Ende der Sowjetzeit gebaut wurde und eigentlich ein Lenin-Museum werden sollte, an die Opfer der Repression. Um ihn sind auf den Asphalt orange Flammen gemalt, zwischen denen menschliche Silhouetten ausgespart sind. Die Farbe der Flammen blättert ab, immer unkenntlicher werden damit auch die Aussparungen.

Im Grillrestaurant Ogon i Led (Feuer und Eis) erfahre ich später von Mascha, meiner Gastgeberin hier, dass fast alle Restaurants in der Stadt einem von zwei Besitzern gehören. Wir profitieren von ihrer Konkurrenz, sagt sie. Die beiden müssen sich immer was Neues einfallen lassen.

Allgemeine Überlegung
Müssen die europäischen Länder angesichts der neuen Migranten nicht die eigene Kultur schützen?, fragte mich vor ein paar Tagen eine Journalistin. Das kommt mir sehr bekannt vor. Das ist die neue Utopie der europäischen Welt. Immer mehr Menschen in Deutschland berufen sich auf eine Mischung aus völkischem Mumpitz und angeblicher Aufklärung. Immer mehr Menschen in Russland oder Polen berufen sich auf völkischen Mumpitz gemischt mit einem idealisierten Christentum (Polen hat jetzt die härtesten Abtreibungsgesetze Europas, in Nowosibirsk wurde ein Theaterstück abgesetzt, weil die Orthodoxen eine nackte Frau an einem Kreuz anstößig fanden.) In Russland und Polen ist die Folge ein autokratischer Staat mit einem nationalen Messias an der Spitze, der seine Bürger mit populistischer Propaganda füttert (das christliche Europa geht unter, wir müssen uns verteidigen etc.). In Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern haben wir eine pseudoaufgeklärte Volksdemokratie zu erwarten, ebenfalls populistischer Prägung. Beiden Varianten liegt derselbe Identitätsmythos zugrunde: Das Volk als unbedingt zu schützende Kategorie, die bestimmte Werte vereint, eine Kategorie bis in alle Ewigkeit, ungeachtet aller globalen Veränderungen und allen menschlichen Denkfortschritts.

Die fernen Jahre der Kindheit
Gestern fuhr ich mit Anna und dem Fotografen Ivan nach Owsjanka bei Krasnojarsk, das Dorf, in dem Wiktor Astafjew seine Kindheit verbracht hat. Hier steht das Haus, das er sich Jahrzehnte später kaufte, um darin in den Sommern zu wohnen und zu arbeiten, nach einem langen Leben in anderen Teilen Russlands. Es ist ein niedriges Bauernhaus aus Holz, grün und gelb gestrichen und mit Schnitzereien um die Fenster. Darin gibt es eine Küche mit einem großen Steinofen, ein Arbeitszimmer mit einem Bett und eine Wohnstube mit einem Bücherregal, einem Sofa und ein paar Sesseln. Einer der Sessel ist aus Elchgeweihen gebaut, ein Geschenk aus dem Ural, wo er nach seinen Jahren an der Front des II. Weltkriegs mit seiner Frau und seinen zwei Kindern gelebt hat, von denen dann später das Mädchen starb. Diese Räume zu sehen, in denen er einsame Wochen verbrachte mit seiner Arbeit, hat mich seltsam ruhig gestimmt. Im Garten des Hauses hat er Gemüse gezüchtet. Es ist ihm gelungen, eine sibirische Zirbelkiefer anzupflanzen, was sehr schwer sein soll. An Owsjanka fließt der Jenisej vorbei, durch das Tal, das er in diesen Ausläufer des Ostsajan gegraben hat. Astafjew kehrte an den Ort zurück, an dem seine Erinnerungen aus „Ferne Jahre der Kindheit“ spielen und an dem er nach der Enteignung der Eltern, der Inhaftierung des Vaters und dem Ertrinken der Mutter im Jenisej bei seinen Großeltern wohnte, deren Haus (als Rekonstruktion) heute Teil des Museums ist. Auf einem Foto an der Wand schüttelt der Präsident Jelzin einem alten Mann die Hand, dem der Krieg, die jahrelange Arbeit bei der Bahn, als Schlosser und im Fleischkombinat in der Stalinzeit und der Verlust eines Kindes Spuren ins Gesicht gegraben haben. Er war ein Freund von Solschenizyn. Er schrieb Bücher über seine Jahre an der Front, man zensierte ihn immer wieder. In den Sommern zog er sich bis zuletzt in dieses Haus zurück, pflegte seinen Garten und arbeitete.

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