Aigul Kemelbayeva
Berliner Tagebuch (Teil 2)

Das Schicksal wollte, dass ich mit eigenen Augen den Alexanderplatz, den Zentralplatz von Berlin, an der Kreuzung von mehreren Straßen, sehen konnte.

Vor der Reise nach Berlin hatte ich die Möglichkeit, im November 2016 als ein ausländischer Autor ein Eckchen der deutschen Literatur in Almaty zu besuchen. Es ist sehr wichtig, nötige Informationen rechtzeitig zu bekommen.

August 2016 hat man mich von dem Goethe-Institut Almaty angerufen. Man hat mir mitgeteilt, dass die deutsche Botschaft ein Projekt für kleinere Erzählungen, nicht größer als 1 500 Zeichen, zum Thema  „Die bessere Welt“, starten ließ, die dann ins Deutsche übersetzt und in einer Prosasammlung gedruckt werden sollten. Eine ganz kleine, im Computer gedruckt, nicht mehr als 1,5 Seiten. Es ist schwer, eine Erzählung zu schreiben als einen Roman, und eine ganz kleine Erzählung fällt dem Autor noch schwieriger.

Seit 2001 hatte ich die Idee einer Erzählung im Kopf, die Sujetlinie war sehr schön. Ich habe aber wegen der Beschäftigtheit immer keine Zeit gehabt, sie niederzuschreiben. Nun sollte sie nicht größer als ein paar Seiten sein. Also ich kam auf diese bereits 15 Jahre alte Idee zurück, die Gestalten lebten wieder auf. „Die Schneiderin“. Sie war die kürzeste aller meiner bisherigen Erzählungen und ließ sich ganz schnell schreiben. Aber ich brauchte noch 3-4 Tage, um sie zu kürzen und umzuarbeiten, damit sie den Anforderungen passte. Der Stil wurde geändert, dadurch habe ich eigentlich einen für mich neuen Weg gefunden, die Meisterschaft zu vervollkommnen. Es war besonderer Fleiß erforderlich, um das Gesetz der linguistischen Anpassung zu erreichen. Dann klingt das Prosastück eben wie ein gut gereimtes Gedicht, dadurch wird der Text noch schöner, es verwandelt sich ein poetisches Werk, erwirbt poetische Kraft. In der keltischen Mythologie gibt es einen Begriff wie „Der poetische Blick“, das beutet, dass man das Geschriebene wie ein Dichter, mit den Augen eines Künstlers in Farben betrachtet.

Nun war endlich die Erzählung fertig. Sie wurde in die internationale Sammlung der Werke von Autoren aus 57 Ländern «Glückliche Wirkungen». Eine literarische Reise in bessere Welten“ aufgenommen und in Berlin von Alida Bremer und Michael Krüger herausgegeben. Ich nahm diese Nachricht als ein gutes Zeichen, als den ersten Schritt der geistigen Möglichkeiten wahrgenommen, mit den Worten von A. Puschkin als „mein Fenster nach Europa“.

Am 20. Mai wurde im LCB-Haus der Alfred-Döblin-Literaturpreis vergeben. Der Konferenz-Saal, in dem fast 70 Mann Platz finden konnte, war voll. Von 10 Uhr morgens bis 19 Uhr abends besprachen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller die Werke der Autoren, welche die letzte Runde erreicht hatten. Abwechselnd lasen mehrere Autoren vor dem Publikum Auszüge aus ihren Werken vor, der Saal hörte ihnen aufmerksam zu. Es ist Traum eines jeden Literaten, hervorragende Traditionen und überwältigende Kraft der Literatur zu genießen. In diesem Jahr nahmen am Projekt fast 600 deutschschreibende Schriftsteller teil, alle hatten insgeheim Hoffnung, Preisträger zu werden. Am Ende hatte die Schriftstellerin Cecilia Barbetta Glück, die den Geldpreis von 15 000 Euro erhielt. Für dieses Geld kann man wohl unbesorgt ein ganzes Jahr sich mit literarischer Tätigkeit beschäftigen. Unter den Versammelten traf ich auch Alida Bremer und bedankte mich für ihre Bemühungen bei der Herausgabe unserer Sammlung. Es war für mich erfreulich, dass sie ein bisschen russisch spricht.  

Am 21. Mai kam aus Almaty die Mitarbeiterin des Goethe-Instituts Scholpan Kysaibaewa. Obwohl sie müde von der Reise war, lud sie uns abends in die Berliner Philharmonie ein. Ich habe mich wieder überzeugen können, wie sehr Deutsche die klassische Musik lieben. Der riesengroße Saаl war voll von alt und jung.

Es war Zeit des Orasa, des muslemischen Fastens. Nach dem Theaterbesuch kamen wir mit Azam und Nodira zusammen und aßen zu dritt auf der Terrasse draußen das Festessen. Uns gesellte sich später auch Anna. Das Knattern einer einsamen Ente begleitete unser Gespräch.

Am 22. Mai wurde ich um 7 Uhr von der Stimme eines Kuckucks geweckt. An diesem Tag besuchten wir die Stadt Göttingen, die mit der S-Bahn drei Stunden Fahrt von Berlin lag. An beiden Seiten der Stecke begleitete uns ein Mischwald mit mehreren Fichten. Auf dem Feld sah ich Pferde, die wie bei uns um die Wette galoppierten. Ob ihre Besitzer auch Stutenmilch trinken? Ab und zu sahen wir märchenhaft schöne Häuser. Als ich hörte, dass das relativ einfache Häuser sind und die schönsten Holzhäuser aus Alterszeiten in Bayern stehen, dachte ich, es soll nichts Besseres als Folklore geben. Heute, wo überall einander ähnliche Typenhäuser entstehen, lasse das Interesse nach und die Volkskunst unverdient vernachlässigt.

 Dieser Tag hat mir besonders gut gefallen. Göttingen, eine alte Stadt mit reicher  Geschichte an der Elbe, wird für eine internationale Wissenschaftsstadt gehalten. Die Stadt hat ihr mittelalterliches Antlitz nicht verloren. Wir besuchten den Verlag von Herrn Gerhardt Staidl. Für einen Schriftsteller ist ein Verlag kostbarerer als Tausend vergoldete Paläste. Den Inhaber des Verlags Gerhard Steidl trafen wir bei der Arbeit. Bei einem offiziellen Gespräch konnten wir ihm gleich ansehen, dass er ein Mann von hohem Intellekt, einfach und offen ist. Wir hatten Glück, ihn im richtigen Zeitpunkt zu treffen, denn er sollte am nächsten Tag nach Amerika fliegen. Seinerzeit hat er mit Heinrich Böll zusammen gearbeitet. Als sein Lieblingsbuch nannte er den Roman „Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow. Aus den Buchstaben entsteht ein Wort, aus den Wörtern - ein Satz, aus den Sätzen dann- ein Buch. Es führt die Menschen in die Zukunft.

In der Mansarde wurde ein Tisch gedeckt. Ein Koch, den man extra einlädt, wenn Ehrengäste kommen, hat für 8 Personen gekocht. Auf dem schneeweißen Tisch wurden vier Kerzen angezündet. Das Feuer reinigt die Seele. Es ist ein metaphorisches Element des Zoroastrismus, wurde dann in den Katholizismus, in die christliche Kirche und ins Christentum eingeführt. Einige Traditionen der Vorislamzeit sind bei den Kasachen bis heute aufbewahrt, zum Beispiel, die Braut muss Öl ins Feuer tun, wenn sie zum ersten Mal über die Schwelle tritt oder wenn Krankheiten oder Hexerei vertrieben werden sollen.

Jeder Künstler kann in den Verlag kommen und arbeiten. Jedes Detail wird mit ihm bis in die kleinsten Einzelheiten besprochen. Die Mitarbeiterin des Steidl-Verlags Claudia Glenewinkel erzählte uns über den Verlag. Als man diesen Verlag erworben hatte, war man interessiert, ihn ohne große Veränderungen als Denkmal aufzubewahren. Die Stände sind hier alle nummeriert, selbst die Mäuselöcher aus dem 13. Jahrhundert sind erhalten geblieben, das Holz ist verfault. Da sind auch ein Kaminofen aus dem 14. Jahrhundert, Schädel eines Pferdes, Holzleisten der Schuhe, Weinflaschen und Krüge aufbewahrt. Im Verlag erscheinen jährlich etwa 200 Bücher in verschiedenen Sprachen, 30 davon sind schöngeistige Literaturwerke. Derzeit wird dort ein Buch von Günter Grass gedruckt. In Deutschland gibt es keinen anderen Verlag, in dem Werke verschiedener Genres unter einem Dach fertig produziert werden.  Ganz nah dem Verlag befindet sich das Archiv von Günter Grass, der seine Übersetzer sehr hoch geschätzt hatte. Es steht unter dem Schutz der Göttinger Stadtverwaltung. Später habe ich auch in der Stadt Wittenberg Zeichnungen von Fischfiguren gesehen, die Günter Grass gern gemalt hatte.

An der Wittenberger Universität hatte einst Martin Luther als Lehrer gearbeitet. Er war Grundleger der deutschen Literatursprache, hatte die Bibel ins Deutsche übersetzt. Luther war eine Person, die vieles getan hatte, die Volkskultur aufzubewahren, ein guter Kenner der Theologie, Vater der Reformation, der in Europa den Weg in die Zukunft eingeschlagen hatte, Anhänger des Protestantismus, gehörte dem Schuhmachermeisterverbandes von Hans Sachs, einem Volksdichter an. Wenn man talentiert ist, so ist er talentiert in allen Bereichen. Am 31. Oktober 2017 begeht man den 500. Jahrestag der Reformation, die ihren Anfang bei Martin Luther genommen hat. Geoffrey Chaucer hat den Grundstein der englischen wie Abai bei uns der kasachischen Literatur gelegt.

Einen Katzensprung vom Verlag steht die Göttinger Universität, ihr Symbol ist Gänseliesel. Auf dem Marktplatz ist ein Brunnen mit der Figur von Gänseliesel, in einer Hand eine Gans und in der zweiten - ein Korb mit Gänselein. Ich blicke immer wieder auf die Figur dieser Gans, denn meine Erzählung „Die graus Gans“ wurde kurz vor meiner Reise nach Deutschland in die deutsche Sprache übersetzt. Eine Zusammenarbeit von Tanssulu und dem Österreicher Gerald! Ich habe mit dem Verlag über die Möglichkeit gesprochen, diese vor 7 Jahren im Oktober geschriebene Erzählung dort drucken zu lassen. Hoffentlich klappt es auch!

Unsere Fremdenführerin Ilona Grunеmayer, unsere ehemalige Landsmännin, war vor 25 Jahren aus Kirgisien ausgewandert. Sie traf uns freundlich, als sähe sie ihre Verwandten. Im Mittelalter war Göttingen ein reiches Städtchen, es überlebte mehrere Kriege und Epidemien. Die Gründung einer Universität verlieh dem Städtchen ein neues Gepräge. Hier studierten hauptsächlich Kinder edler Barone, sie kamen mit ihren Betreuern. Hier studierte auch Otto von Bismarck. Das städtische Rathaus sieht wie eine katholische Kirche aus, die Decke wie die Wände sind mit Ornamenten bemalt. Da gibt es Wappen von 55 Städten: jedes Fürstentum ließ darin seinen Orden zeichnen. Die Personen, die falsche Münzen hergestellt hatten, so auch Zauberer waren auf dem Platz verbrannt worden.

Am 23. Mai besichtigten wir eines der reichsten Viertel Berlins Friedenau. Es ist ein ruhiges Viertel, ein für Künstler sehr gut passendes Heim. Jekaterina übersetzte die Worte von Herrn Bienert. Er erzählte während des Rundgangs über bekannte Schriftsteller, die an diesen Straßen gelebt hatten. Wir kamen auch am Haus von Gerta Müller vorbei, die 2009 den Nobel-Literaturpries erhalten hatte. Das zweistöckige Literaturhotel, das von Blumen umgeben liegt, wird von der Schriftstellerin Christa Moog geführt. Sie saß mit einigen Gästen draußen und begrüßte uns freundlich. Jedes Zimmer trägt den Namen eines Schriftstellers. Im Foyer hängen  Porträts von etwa 20 Schriftstellern. Das war eigentlich kein richtiges Hotel, sondern ein Kulturhaus.

Am 26. Mai fand im Literaturhaus an der Fasanenstraße ein Treffen statt. Wir wurden zuerst von Lutz Dietrich begrüßt. In diesem Haus werden in der Regel neue Bücher deutscher Schriftsteller vorgestellt. Es werden oft Literaturabende durchgeführt, in diesem Sinne ist Berlin eine Stadt der Lesefreudigen. Die Abende, die hauptsächlich der modernen deutschen Literatur gewidmet werden, werden 2-3 Mal im Jahr veranstaltet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der faschistischer Diktatur fand Deutschland wieder den Weg zur Weltliteratur, wobei mehrere Literaturhäuser gebaut wurden. Auch in kleineren Städten wie Hannover gibt es ähnliche Häuser. In Marbach, der Geburtsstadt von Friedrich Schiller, wird im September ein internationales Literaturfestival durchgeführt. Das alles wird vom Staat finanziert. Auch die deutschschreibenden Schriftsteller aus anderen Ländern sind hier willkommen. So einer ist Rafik Schami, arabischer Herkunft, einer der populärsten Schriftsteller. Abbas Khider, der anfangs kein Deutsch konnte, hat in 7 Jahren diese Sprache erlernt und gehört nun zu denen, die ihre Werke deutsch schreiben. Er hat mehrere Stipendien bekommen und ist Träger einiger Literaturpreise.

In Deutschland gibt es etwa 200 Literaturpreise. Braucht man noch etwas, um zu beweisen, dass das Volk riesiges Glück hat, das die Kultur verehrt und wirklich liebt? Die Länder, die feste Traditionen und … werden nie verschwinden oder ...

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