Vitaly Kurennoy
Grenzen in einer grenzenlosen Welt

Fortschreiten der Zivilisation. Dagestan, Mai 2017. Tankstelle und Geschäft für Haushaltswaren aus zweiter Hand. Technische Geräte kommen aus Finnland nach Dagestan.
Fortschreiten der Zivilisation. Dagestan, Mai 2017. Tankstelle und Geschäft für Haushaltswaren aus zweiter Hand. Technische Geräte kommen aus Finnland nach Dagestan. | © Vitaly Kurennoy

Die Welt, in der wir leben, ist geprägt von zwei einander entgegengesetzten Tendenzen, und je nach unserer aktuellen Perspektive sind wir oft geneigt, die Bedeutung einer der beiden überzubewerten, in der Meinung, dass sie schließlich die Oberhand erlangen werde. Wir wollen sie eine nach der anderen genauer betrachten und danach zusammenführen – dialektisch, um einen alten Begriff aus der Philosophie zu bemühen.

Die erste der beiden ist die Tendenz, Grenzen abzureißen. In kulturphilosophischer Tradition wird dieses Bestreben als „Zivilisation“ bezeichnet.
 
Zivilisation: Grenzen verschwinden

Es existiert eine Vielzahl von Theorien und Geschichten über die Genesis der Moderne, und oft stehen sie im Widerspruch zueinander. Doch alle stimmen sie darin überein, dass im Beginn der Moderne der Abbruch von Grenzen steht. Im Sozialwesen zerschlägt die Moderne die Grenzen zwischen den Ständen: moderne Gesellschaften bestehen nunmehr aus einander ebenbürtigen Staatsbürgern. Im Rechtswesen stampft das neue System die Privilegien von Zünften und Ständen ein, es entsteht ein einheitliches Rechtssystem. Elemente der Gesellschaft sind nun nicht mehr Adelige, Bürger und Bauern, sondern einfach Staatsangehörige. Dies hat auch Auswirkungen auf das System zu verhängender Strafen, wie Michel Foucault es so eindrücklich beschrieben hat: an die Stelle verschiedener Strafklassen für Vertreter des jeweiligen Standes tritt eine Maschine bürgerlicher Gleichheit: die Guillotine. Im 20. Jahrhundert geht dieser Prozess auch über die Grenzen des Einzelstaates hinaus: ein internationales Rechtssystem legt in universeller Vereinheitlichung die allgemeinen Menschenrechte fest.

Unifizierung und Vereinheitlichung bringen allmählich auch Veränderungen in die Staatsverwaltung. Beamte, die ihr Einkommen zuvor nach einem ausgeklügelten System des „Fütterns“ bezogen, erhalten nun ein genormtes Gehalt, ferner wird das Steuersystem vereinheitlicht und ein allgemeingültiger Urkundenverkehr eingeführt.

Als besonders effektiv im Durchbrechen von Grenzen hat sich die kapitalistische Wirtschaft erwiesen. Geld wird zum universellen Mittel für jedweden Tauschhandel, es macht die verschiedenen im Wechsel durchzuführenden Rituale, die eine gewisse Kenntnis der üblichen Sitten und der verschiedenen ungeschriebenen Regeln verlangen, einfach obsolet. Es folgt eine Epoche großer geographischer Entdeckungen, entstanden aus wirtschaftlichem Interesse, und die Welt verliert rasch an weißen Flecken. Zum 17. Jahrhundert, so vermutet Immanuel Wallerstein, war die moderne Weltwirtschaft des Kapitalismus bereits in allen Grundzügen ausgebildet, d. h. sie wurde global. Waren, die auf dem europäischen Kontinent hergestellt wurden, gelangten nun auch in die entlegensten Winkel Afrikas. Moderne Makrohistoriker wiederholen somit die Beobachtungen, die Karl Marx bereits in seinem „Kapital“ niederschrieb: „Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals.“ Und das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Marx und Engels kündigte bereits die Geburt unserer heutigen globalen Massenkultur an: „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“ Es handelt sich hier allerdings nicht um eine besondere Hellsichtigkeit des Marxismus: zur selben Zeit zeichnete auch der Rechtshegelianer Karl Rosenkranz in seinem Essay über den Fortschritt in der Uniformität unserer Zivilisation ein umfassendes Bild von der Globalisierung der modernen Welt, in welcher Mode, Spiele, sportliche Wettkämpfe, Transportwesen, Militärtechnik, Verwaltungsstrukturen, Kommunikationsmittel und Journalistik, ja sogar Nutztiere und –pflanzen einen uniformen Charakter erhalten, der sich ungehindert über alle Grenzen hinweg verbreitet.

Im Bereich Wissenschaft und Technik bietet sich uns ein ähnliches Bild. Die große wissenschaftliche Revolution der frühen Neuzeit löste die Kosmologie des Aristoteles ab, welche von einer qualitativen Hierarchie verschiedener Seinsstufen ausging. Die Welt verwandelt sich in einen uniformen Raum und eine uniforme Zeit: es ist die Geburtsstunde der modernen Physik. Quantitative Methoden und zunehmende Mathematisierung halten Einzug in die Wissenschaft, während eine fortschreitende Monetarisierung die Wirtschaft erobert: Geld in der modernen Wirtschaft und quantitative Indikatoren in der modernen Wissenschaft sind zwei Seiten derselben Medaille.

Die Gesamtheit dieser Prozesse bezeichnet Max Weber als „Rationalisierung“ und „Entzauberung der Welt“. Rationalisierung ist zu verstehen als globale Standardisierung: von den Interfaces unserer Gadgets, Software-Programmen, all den verschiedenen Standards und Protokollen und der gesamten modernen Infrastruktur unserer Zivilisation. Unterscheiden sich doch die Flughäfen überall auf der Welt ebenso wenig voneinander wie die Autos, die wir mieten, oder die Hotels, in denen wir übernachten. Es ist dieser moderne Prozess der Rationalisierung der globalen Welt, den George Ritzer als fortschreitende „McDonaldisierung der Gesellschaft“ bezeichnet. Besuchen wir ein McDonald’s-Restaurant – gleich, in welchem Land es sich befindet –, so wissen wir bereits im Vorfeld, was uns dort in etwa erwartet. Dies macht es zum Symbol unserer globalen Zivilisation.

Aus einem regionalen Blickwinkel oder aus der Provinz betrachtet, scheint es oft, als stammen die Früchte der Zivilisation aus irgendeinem Zentrum. In Russland sieht man in ihnen „europäische“ Produkte, in Europa „amerikanische“, und im Iran wurden sie eine gewisse Zeit lang als „russische“ Produkte wahrgenommen. Doch ist dies ein Irrtum: die globale Zivilisation ist unabhängig von Orten. Jenes Zentrum, das die Zivilisation mit Innovationen bereichert, befindet sich in stetiger Bewegung. Im Falle der Kanalisation lag es in Rom, bei der Dampflokomotive in Europa, beim iPhone wiederum in Kalifornien, und schon morgen mag es vielleicht in China oder an einem ganz anderen Ort sein. Produkte der Zivilisation stehen in keinem Zusammenhang mit ihrem Entstehungsort oder der Geschichte, aus deren Kontext sie entspringen. Nur unter dieser Prämisse können sie sich ungehindert über die ganze Welt verbreiten.

Die Zivilisation hat unterdessen einen Gegenspieler: dies ist die genau konträr verlaufende Tendenz, Grenzen zu errichten. In kulturphilosophischer Tradition hat sich die Bezeichnung „Kultur“ etabliert.
 
Kultur: immer mehr Grenzen

Grenzen werden in unserer Welt jedoch bei Weitem nicht nur abgebaut, obgleich alle Größen der modernen Sozialtheorie ihr Hauptaugenmerk genau darauf legen. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass in keiner anderen Epoche jemals so viele neue Grenzen errichtet wurden wie gerade in der heutigen Zeit.

Betrachten wir zunächst Grenzen im wörtlichen Sinn. Die Zahl der unabhängigen Staaten auf dem Planeten Erde nimmt unaufhaltsam zu. 1945 gab es lediglich 50 UNO-Mitgliedsstaaten (wobei die UdSSR gleichzeitig durch die Russische Föderation, die Ukraine und Weißrussland vertreten war). Heute sind es 193 – nicht eingerechnet diejenigen, deren Status als Staat nicht oder nicht vollständig anerkannt ist, und derer gibt es viele. Eine eigene Staatsgrenze ist ein Gut, für das Gesellschaften nach wie vor bereit sind, jeden Preis zu zahlen, und die Zahl der Staaten nimmt weiter zu. Doch ist das Entstehen von unabhängigen Staaten nur die Spitze des Eisbergs. Allüberall beobachten wir zunehmenden Regionalismus und Separatismus. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union oder Sympathien für das Wahlprogramm von Donald Trump sind dabei nur einige Erscheinungsbilder dieses Phänomens, das im Begriff ist, riskante und radikale Formen anzunehmen.

Auch die Religionen erleben heute eine Zeit der Fragmentierung und zunehmenden Pluralisierung: die Zahl der verschiedenen Religionsrichtungen steigt ebenfalls, ergänzt durch unterschiedlichste quasi-religiöse Weltanschauungen. Einigen Quellen zufolge gibt es in Großbritannien inzwischen mehr Anhänger des „Jediismus“ – einer Strömung, die auf dem Fantasy-Epos „Star Wars“ basiert – als Anhänger des Buddhismus oder Judaismus.

Die meisten Grenzen entstehen jedoch eindeutig im Bereich Kultur. Nicht nur McDonald’s-Filialen florieren und prosperieren in unseren Städten: niemals zuvor entstanden so schnell so viele Restaurants und Etablissements, die verschiedene nationale Gerichte aus Ost und West anbieten. Kulinarische Reisen sind inzwischen ein moderner Tourismuszweig: die Menschen verlangen nach authentischen Produkten aus der regionalen Küche. Der Tourismus ist mit etwa 11% des Bruttoinlandsproduktes zu einer bedeutenden Komponente der modernen Weltwirtschaft geworden. Tourismus als solches hat seinen Ursprung in dem Wunsch des Menschen, Grenzen zu überschreiten. Und das tun wir selbst bei einem Ausflug in die Vorstadt: wir überschreiten dabei zwar keine Staatsgrenzen, lassen aber in jedem Fall die Grenzen unseres gewohnten Daseins und der alltäglichen Routine hinter uns. Als Reaktion auf dieses Bedürfnis entstand eine wahre Industrie für Grenzen aller Art: jede Stadt und jeder Ort produziert mit Hilfe vieler beteiligter Akteure verschiedenste regionale Geschichten, erfindet seine eigenen lokalen Koryphäen, „Kraftorte“ usw. usf. Museen – Bewahrer lokalen Gedächtnisses und einzigartiger, nur hier zu bewundernder Meisterwerke – werden für viele Städte zu wichtigen wirtschaftlichen Triebfedern. Die Prophezeiung von Walter Benjamin, dass nämlich im Zeitalter der „technischen Reproduzierbarkeit“ das Kunstwerk seine „Aura“ verlieren werde, bewahrheitete sich eindeutig nicht: je mehr Reproduktionen der Mona Lisa auf der Welt im Umlauf sind und je mehr Bilder von Gustav Klimt auf Keksdosen prangen, desto länger werden die Schlangen vor den Originalen dieser Werke, die im Übrigen in der Masse der Bewunderer deutlich schwieriger zu sehen sind als auf besagten Keksdosen. Dasselbe geschieht mit historischer Architektur: jede Ortschaft ist bestrebt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ihr einzigartiges, regional-historisches Antlitz zu bewahren oder gar zu rekonstruieren, um sich von anderen Orten abzuheben.

Dieses Phänomen betrifft nicht nur den Tourismus. Während die globale Zivilisation, die per definitionem nicht an ein bestimmtes Gebiet oder an eine regionale Geschichte gebunden ist, die Welt erobert, wächst in gleichem Maße das Bedürfnis nach Unterschieden und Grenzen, basierend auf Herkunftsgeschichten und Herkunftsorten. Es genügt ein Blick auf die Zahl der bereits erwähnten Museen: sie entstehen ohne jede wirtschaftliche Notwendigkeit, die auf den Zustrom von Touristen zurückzuführen wäre. Jede Firma und jede Gesellschaft legt sich ein eigenes Museum zu – niemand weiß, wie viele davon in Russland existieren. Auch das Interesse für Familiengeschichte war niemals so groß wie heute. Die Ahnenforschung und Erstellung von Stammbäumen ist in Russland zu einem eigenen Berufszweig geworden, in dem sich Absolventen der Geschichtsfakultäten des Landes betätigen. An türkischen Stränden begegnet man Menschen, auf deren T-Shirts auf Russisch „Tagil hat das Kommando!“ zu lesen ist – eine Anspielung auf einen beliebten Sketch über russische Touristen aus der Industriestadt Nischni Tagil, die im Türkeiurlaub auf höchst rüpelhafte Weise über die Stränge schlagen. Die Menschen sind bestrebt, ihre Identität zu bewahren und zu betonen, wenn sie die Grenzen ihres Herkunftsortes überschreiten. Die Erfindung und Konstruktion lokaler Identitäten ist aus der heutigen Welt ebenso nicht mehr wegzudenken wie das iPhone oder McDonald’s.

Das Streben danach, der eigenen Identität Kontur zu verleihen, ist auf allen Ebenen zu beobachten. Soziale Netzwerke testen immer neue Möglichkeiten, unsere persönliche Geschichte möglichst komfortabel in unser individuelles Profil einzubinden: Facebook erinnert uns täglich daran, was vor einem, drei oder fünf Jahren in unserem Leben geschehen ist. ‚Erinnere dich daran, wer du bist!‘ lautet die Botschaft dieser technischen Hilfsmittel. Regionale Gesellschaften, Berufsverbände, Menschen, Städte, Länder – alle befinden sich im Prozess des Akzentuierens ihres Unterschiedlich-Seins und meißeln ihre Grenzen in Stein.
 
Die Dialektik von Grenzen

Wie ist Klarheit in dieses Dilemma zu bringen? Wie oben erwähnt, geht die klassische Sozialtheorie davon aus, dass wir in einer Welt der fortschreitenden globalen Zivilisation leben. In der modernen Wirtschaft (Marx zufolge ist dies die kapitalistische Wirtschaft im Übergang zur kommunistischen) bzw. in der fortschreitenden Rationalisierung der Gesellschaft (nach Weber) scheint das Verschwinden aller Grenzen unausweichlich. Im Falle des Marxismus war es mit der reinen Theorie nicht getan: der Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ wurde für einige Zeit zum aktiv praktizierten politischen Programm. Gleichzeitig kennt die Gegenwart auch die genau entgegengesetzte Ideologie und Praxis, wenn nämlich als Antwort auf einen solchen Universalismus und Internationalismus Projekte des „eigenen Weges“ entstehen, die allem Fremden und Andersartigen bekanntermaßen mit tödlicher Feindschaft begegnen. Was aber ist der Grund dafür? Es mag sein, dass die Idee eines „eigenen Weges“ und einer Rückkehr zu (vermeintlich) traditionellen Wurzeln und Werten gerade dort entsteht, wo die Entwicklung der globalen Zivilisation ins Stocken gerät. Die Früchte der Zivilisation locken, doch aus irgendeinem Grund – sei er innerlich oder äußerlich beheimatet – können sie nicht erreicht oder reproduziert werden. In der Gesellschaft entsteht dann Frustration und als Reaktion die Ideologie eines eigenen bzw. besonderen Weges, einer wahren Religion o. ä. In jedem Fall handelt es sich um Extreme.

Der Normalzustand der Moderne ist eine dynamische Balance zwischen Kultur und Zivilisation, eine dialektische Verbundenheit der beiden Komponenten, die dabei im Wettstreit miteinander stehen. Die Produkte der Zivilisation verbreiten sich heute immer schneller und dringen immer intensiver in unser Leben ein. Dies ist durchaus nicht verwunderlich: wir wählen die Zivilisation, weil sie der Fortschritt ist. Nicht im Sinne einer hehren Ideologie aus dem Zeitalter der Aufklärung, sondern einfach und unmittelbar: die Zivilisation bringt Bequemlichkeit in unser Leben. Wer einmal von den süßen Früchten der Zivilisation gekostet hat – sei es die Kanalisation, warmes Wasser aus der Leitung, das Mobiltelefon oder die Anästhesie bei einer Operation – will nicht wieder zurück. Jedes zivilisatorische Downshifting ist eine marginale Erscheinung. Doch gleichzeitig bürdet uns die Zivilisation klar erkennbar auch Lasten auf: wir spüren den Verlust unserer historischen Identität, fühlen uns als funktionales Rädchen in einem neutralen, gesichtslosen Mechanismus und begreifen, dass wir in einer künstlichen, „nicht echten“ Welt leben, in der wir uns selbst „entfremdet“ sind. All dies ist der Grund für die großangelegte Kritik an der Zivilisation, sei es in Form der Verurteilung von „Großstädten“ oder in Form der Kritik an globaler Massenkultur oder am Lebensstil des „Bourgeois“, der die Bequemlichkeit einem Revolutionssturm vorzieht. Dies ist eine ehrenwerte Tradition, an deren Entstehung rechte und linke Persönlichkeiten gleichermaßen teilhatten: Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Spengler, Heidegger, Adorno usw. All diese Denker waren sich ungeachtet ihrer sonst sehr unterschiedlichen Ansichten darin einig, dass die moderne Zivilisation zerschlagen werden müsse (hier ist selbstverständlich auch der moderne religiöse Fundamentalismus einzureihen). Diese Zerschlagung ist jedoch, wie wir wissen, nicht im Sinne einer „geistigen“ Läuterung möglich, sondern nur als vollkommene Zerstörung – und was aus diesem Prozess hervorgeht, ist die Welt des Warlam Schalamow.

Die einzige Möglichkeit, die Moderne zu bewahren, liegt daher nicht darin, die Zivilisation zu zerschlagen, sondern sie in Balance zu bringen mit Hilfe der Kultur, das heißt mit Hilfe der genannten Mittel durch Generierung kultureller und kulturhistorischer Grenzen. Es ist durchaus möglich, dass dieser Prozess unter anderem bedeutet, dass auch die Zahl der Staatsgrenzen weiter zunimmt: je integrierter die Welt in zivilisatorischer Hinsicht ist, desto deutlicher wird auch das Streben einzelner ethnischer u. a. Gesellschaften, ihre eigene „Polis“ zu errichten und das Leben eines unabhängigen Staates zu führen. Doch folgt dieser dynamische Prozess seiner eigenen Logik und Ordnung. Das Streben nach kulturellen Grenzen entsteht erst, nachdem die Zivilisation in vollem Umfange Einzug gehalten hat. Gibt es in der Stadt keine Touristen, so findet man dort auch keine Restaurants mit regionaler Küche. Ohne globale Zivilisation entsteht kein Interesse daran, eine eigene historische Identität zu erwecken oder zu konstruieren. Mit anderen Worten: Historismus, Regionalismus und Hinwendung zur eigenen, lokalen räumlichen oder zeitlichen Identität schafft nur in dem Maße Grenzen, in welchem sich im betroffenen Raum eine unhistorische globale Zivilisation entfaltet. Andernfalls gilt das Interesse der Menschen gemäß den Gesetzen der modernen Welt nicht der regionalen Küche, sondern dem unerreichbaren Ideal von McDonald’s.
 

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