Moskau
Greg Yudin, Philosoph

Von Greg Yudin

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Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in Ihrem Land?

Die Anthropologie kennt den Begriff der Liminalität. Er bezeichnet die besonderen Verhältnisse einer Gesellschaft zwischen zwei Epochen – wenn die eine Epoche bereits vorbei ist und die andere noch nicht angefangen hat. Der Begriff impliziert, dass beim Überschreiten der Schwelle von einem Zustand zum anderen – wenn sich die frühere Normalität schon verflüchtigt hat und die neue Normalität erst noch hergestellt werden muss – eine tiefe Verwirrung herrscht. Die Aufhebung der Routine erzeugt die Erwartung, dass etwas vollkommen Neues kommt – daraus resultiert die weit verbreitete Gewissheit, dass „die Welt nie wieder sein wird, wie sie einmal war“, eine Vorhersage, die darauf angelegt ist, zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden.
 
Unsicherheit, radikale Offenheit der Zukunft, die Durchkreuzung von Plänen und Gewohnheiten, die vielleicht nie wieder aufgegriffen werden – in Russland haben alle Erfahrungen von Liminalität, die die Welt im Lockdown gerade erlebt, eine zweite Bedeutung. Das Land befindet sich aufgrund der Verfassungsreform, die kurz vor der Pandemie begonnen und noch nicht abgeschlossen wurde, in einem Zustand doppelter Liminalität. Ein bedeutendes politisches Ereignis, das Wladimir Putin praktisch zum Präsidenten auf Lebenszeit machen kann, ist zum einen beendet, weil das Parlament die geplante Reform schon verabschiedet hat, wodurch sie nach dem Gesetz sofort in Kraft tritt. Zum anderen ist sie gleichzeitig noch nicht abgeschlossen, weil zusätzlich eine Volksabstimmung abgehalten werden muss, um diese Entscheidung zu legitimieren. Das Land ist gespalten zwischen denen, die bereit sind, Putin für immer an der Regierungsmacht zu halten, und denen, die sich damit beschäftigen, ihn zu ersetzen. Es ist weiterhin gespalten zwischen der Quarantäne, die nie offiziell verhängt wurde, und der Quarantäne, die faktisch eingeführt wurde, zwischen den beiden Versionen der Verfassung, die gleichzeitig in Kraft sind, zwischen der stabilen Vergangenheit vor dem Lockdown und einer ungewissen Zukunft nach dem Ende des Lockdown.

Wie wird die Pandemie die Welt verändern? Welche langfristigen Folgen der Krise sehen Sie?

Wir befinden uns bereits in einer Welt, in der das biologische Leben der Menschen zum höchsten Wert geworden ist, der alle anderen Überlegungen einfach überragt. Dies wird nun durch die Vorstellung verstärkt, dass zwischenmenschliche Kontakte in ihrer körperlichen Materialität ansteckend und gefährlich sind und streng überwacht werden sollten. Wenn sich diese ideologische Verknüpfung durchsetzt, werden wir künftig wahrscheinlich in Gesellschaften leben, in denen epidemiologische Risiken dauernd präsent sind und sich die trennende Macht des Staates mit seinen Überwachungsapparaten ständig vergrößert.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Auch wenn Isolation und Trennung schon als die politisch-epidemiologische Strategie der kommenden Monate und Jahre dargestellt werden, haben die Kontaktbeschränkungen dazu geführt, dass wir die Offline-Interaktion in vielen Bereichen neu bewerten und wertschätzen – vom Bildungswesen bis zum Sport, von den öffentlichen Verkehrsmitteln bis zur Politik. Wenn uns die Theorie der Liminalität etwas lehren kann, dann, dass die Zeit der Stillstellung kollektiver Energien begrenzt ist. Es besteht die begründete Hoffnung, dass ihr eine Zeit der politischen Kreativität folgen wird – vielleicht wird uns das dabei helfen, gemeinsam eine bessere Gesellschaft aufzubauen, in der alle Menschen Hilfe und eine Gesundheitsversorgung bekommen, ohne überwacht, kontrolliert und isoliert zu werden.

Was ist Ihre persönliche Strategie, damit umzugehen?

Meine persönliche Situation ist noch durch eine weitere Liminalität geprägt. Mein Großvater ist kurz vor dem Lockdown in Deutschland verstorben, und es gab keine Möglichkeit, die Beisetzungszeremonien in Russland abzuschließen. Das ist ein Paradebeispiel für Liminalität: Die meisten Kulturen schreiben ein doppeltes Begräbnis, also  zwei zeitlich versetzte Zeremonien vor, damit eine Gemeinschaft in die Trauerphase eintreten und diese später hinter sich lassen kann. Diese seltsame Vorhölle eines nicht endenden Verlusts erleben nun alle, die keine Möglichkeit hatten, ihre Verwandten, die am Corona-Virus oder im Zeitalter des Corona-Virus gestorben sind, zu betrauern und zu begraben. Das ungewöhnlichste Element des derzeitigen Schwellenzustands ist die unfreiwillige Isolation, die von den biopolitischen Autoritäten gefordert wird, wobei die physische Distanzierung geschickt in eine „soziale Distanzierung“ umgewidmet hat. Liminalität ist dann erträglich, wenn sie eine kollektive Erfahrung darstellt, die alle bis dahin existierenden gesellschaftlichen Unterschiede aufhebt und eine emotionale Verbundenheit erzeugt. Stattdessen durchleben wir jetzt eine Zeit, in der verhindert wird, dass selbst normale Grenzerfahrungen wie der Tod oder auch Bildungsabschlüsse und Geburtstage ein Gefühl von Zusammengehörigkeit auslösen. Die einzige Möglichkeit, diese Lage zu bewältigen, ohne die menschliche Fähigkeit zu verlieren, die Kontaktbeschränkungen zu durchbrechen, besteht darin, das Gemeinschaftsgefühl zu bewahren und es so oft wie möglich in die Praxis umzusetzen.
 

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