Interview
Ingo Schulze: „Ein Schriftsteller war in der DDR so etwas wie ein Dissident“

Ingo Schulze
Foto: Gaby Gerster

Von Tatjana Socharjewa

Im Rahmen seiner Lesereise durch Russland, die vom Goethe-Institut Moskau organisiert wurde, stellte der Schriftsteller Ingo Schulze den Lesern seinen neuen Roman Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst vor. Beschrieben wird die Geschichte eines Mannes, der im Kinderheim aufgewachsen ist und fest an den Sozialismus glaubt, jedoch nach dem Fall der Berliner Mauer durch eine Schicksalsfügung zum Millionär wird. Die Literaturkritikerin Tatjana Socharjewa sprach mit Ingo Schulze über seinen neuen Roman, die Lage von Schriftstellern in der DDR und Erinnerungen an den Sozialismus.

Ingo, sagen Sie, was passiert in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft mit der Erinnerung an den jüngsten Sozialismus? Der Begriff „Ostalgie“ wurde einmal häufig verwendet, ist er heute noch angesagt?

Ehrlich gesagt spreche ich nicht gerne von Ostalgie, weil dieser Begriff vor allem in Westdeutschland aktuell war – dort erinnern sich noch alle an die gesegneten Zeiten und daran, wie gut es sich bis zur Wiedervereinigung lebte. Die Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, nehmen die Geschichte etwas anders wahr. 1989 entstand bei uns die Hoffnung, dass wir endlich Freiheit bekommen – in erster Linie eine wirtschaftliche. Ich war der Meinung, dass in der DDR so etwas wie eine sozialistische Demokratie entstehen könnte. Alle damals ablaufenden Prozesse habe ich aus der Position eines linken Intellektuellen heraus kritisiert. Und im gegenwärtigen Deutschland gibt es, wie ich meine, ebenfalls ziemlich viele Probleme, die man sich aus dieser Perspektive einmal ansehen sollte.

In Russland hat die Nostalgie in Bezug auf das Sowjetische eine ganze Reihe an Phänomenen ausgelöst. Darunter sind Cafés, die im Stil von Sowjetlokalen gehalten sind und Ausstellungen zum sozialistischen Realismus, die man wie eine Art romantische Geste betrachten soll. All dies wird aktiv kommerzialisiert. Wie stehen Sie dem gegenüber?

Und, ist die Bedienung in diesen Cafés genauso ruppig, wie das zu sowjetischen Zeiten der Fall war? (Er lacht). Ehrlich gesagt fällt mir so etwas in Deutschland selten auf. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist das wohl nicht so üblich.

Was haben Sie gesehen, als Sie in den Neunzigerjahren nach St. Petersburg kamen? In einem alten Interview haben Sie gesagt, dass in Russland zu dieser Zeit alles ganz ähnlich ablief wie in Deutschland.

Ja, das war Ende 1992, Anfang 1993. Das Schicksal wollte es so, dass ich – jemand, der im Sozialismus aufgewachsen war – die Rolle eines typischen West-Unternehmers einnehmen sollte. Diese Geschichte erzähle ich ausführlich im Buch 33 Augenblicke des Glücks. Damals hatte ich überhaupt nicht den Gedanken daran, aus dieser Geschichte einen Roman zu machen, weil es mir schien, als würden die Russen ja besser als ich verstehen, was da bei ihnen vor sich geht. Aber mit der Zeit ging mir auf, dass meine Erfahrung auf ihre Weise ebenso einzigartig ist und für die Leser interessant sein kann. In Russland hatten die Perestroika und die mit ihr verbundenen Prozesse einen globalen Charakter. In Deutschland zogen sich die Reformen ja nur über ein Jahr hin. Allen war mehr oder weniger klar, dass Ostdeutschland sich an Westdeutschland anschließen würde, und das war´s dann. Bei euch aber hat niemand verstanden, wohin diese Veränderungen führen würden, alle hatten Angst, dass der Putsch sich wiederholen könnte …

Für die Leute in der Sowjetunion stellte sich der Westen als eine ideale Welt dar, als ein Traum – und wie war das mit der Generation, die in der DDR aufgewachsen ist?

Oh, diese Frage beschäftigte uns sogar noch mehr als die Menschen in der Sowjetunion. Alle wollten ja in den Westen. Und der war ganz in der Nähe – man kann sagen, in der Straße nebenan. Wenn man Lust hatte, konnte man zur Mauer gehen und sich ansehen, was auf der anderen Seite so vor sich ging. Das ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl, weil die Leute aus der DDR zwar irgendwie auch in dieser Welt lebten, aber nicht aus ihrem Käfig herauskonnten.

Ingo Schulze stellt sein Buch „Peter Holtz“ vor
Ingo Schulze stellt sein Buch „Peter Holtz“ vor | © Elena Tupikina
Die Hauptfigur Ihres letzten Romans, Peter Holtz, bemüht sich, die sozialistische Ideologie mit dem Kapitalismus in Einklang zu bringen. Wie stehen Sie diesem Ansatz gegenüber?

Peter Holtz spielt erst sehr geschickt mit Ostdeutschland und der dortigen Ideologie, und im Anschluss mit der westlichen. Im Sozialismus wollte er heiliger als der Papst sein, und dann aber ungern im Kapitalismus sein Gesicht verlieren. Im Ergebnis musste er sich komplett umstellen, um sich an die neue Realität anzupassen. Peter ist in einem Kinderheim aufgewachsen und nimmt daher die ganze Gesellschaft als seine Familie wahr. Für ihn ist es wichtig, dass alle glücklich sind, und er ist bereit, für seine Überzeugungen zu kämpfen. In diesem Sinne ist er sehr organisiert. Das macht ihn mir natürlich sympathisch.

Wie entstand diese Figur? Gibt es Vorbilder für sie?

Ich denke, dass in jedem Menschen ein bisschen etwas von Peter Holtz steckt. Ich hatte ja selbst diesen naiven Glauben, dass man alles für das Wohl der Gesellschaft tun sollte. Zum Beispiel, als wir in der Schule Altpapier gesammelt und abgegeben haben: Da habe ich das nicht getan, um irgendwelche Groschen zu bekommen, sondern weil ich der Ansicht war, dass es richtig ist. Oder einmal wurde ich zum Beispiel gebeten, eine Zeitungsspalte mit einem Bericht über die Initiative einer deutschen Firma zu füllen, die irgendwelchen Partnern fünf Milliarden Euro für den Ausbau ihres Geschäftsmodells geben wollte. Ich habe mich gegen diese Idee gestellt und ironisch geschrieben: Also ich als Bürger einer sozialistischen Gesellschaft kann diesen Vorgang nicht gutheißen. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wem ich mein Geld geben könnte, um der Gesellschaft zu helfen, und dann geht eine so unangemessene Summe wer weiß wohin. Man hat mich aber nicht verstanden, und der Text wurde nicht veröffentlicht. Na, und Peter Holtz ist eben auch so ein Soldat Schwejk. Er ist sehr naiv, und er denkt auch wirklich so.

Mir kam es so vor, als sei Peter Holtz so eine Art ostdeutscher Don Quijote. Sehen Sie das auch so?

Ich würde sagen, dass in ihm einige bekannte Figuren anklingen. Zum Beispiel hat er etwas von Dostojewskis Idiot. Er möchte sehr gerne ein guter Mensch sein – sowohl im Sozialismus als auch im Kapitalismus. In der DDR gab es ziemlich viele Privathäuser, die für ein paar Pfennige vermietet wurden. Wenn die Eigentümer merkten, dass sie den Erhalt der Gebäude nicht mehr stemmen konnten, gaben sie sie dem Staat. Und so kauft Peter, der dem Sozialismus so gerne helfen möchte, 15 solcher Häuser und wacht nach der Wiedervereinigung sozusagen als Millionär auf.
Lesung mit Ingo Schulze am 02.10.2018 an der philologischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität
Lesung mit Ingo Schulze am 02.10.2018 an der philologischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität | © Elena Tupikina
Ein Protagonist aus einem Ihrer wichtigsten Bücher, „Neue Leben“, ist ein verzweifelter Schriftsteller, der nach der Wiedervereinigung in der neuen Welt für sich keinen Platz finden kann. Ist es vielen Autoren aus Ostdeutschland so gegangen?

Ein Schriftsteller war in der DDR so etwas wie ein Dissident – jedenfalls, wenn wir hier von ehrlichen Schriftstellern sprechen. Als Deutschland wiedervereinigt wurde, hatte man plötzlich keine Verwendung mehr für viele bekannte Autoren. In der DDR stand man eben als Held im Mittelpunkt, der keine Angst hatte, die Wahrheit zu sagen und der Einfluss auf die Gesellschaft hatte – und in der BRD als Manager. So unterschiedlich waren die Hierarchien. In meinem Roman wollte ich mir ansehen, wie jemand, der plötzlich kein Dissidenten-Schriftsteller mehr ist, sich neu erfindet.

Haben die beliebten Autoren aus Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung weitergeschrieben?

Da gab es unterschiedliche Geschichten. Unter denen, die zu sich finden konnten, ist in erster Linie Christoph Hein zu nennen. Er ist jetzt ziemlich bekannt. Nach der Wiedervereinigung wurde er weiter gedruckt, aber das System hatte sich natürlich stark verändert. Das Interesse für ostdeutsche Literatur war merklich zurückgegangen. Viele wurden gar nicht mehr gedruckt – besonders diejenigen, die schon in der DDR nicht besonders viel gelesen wurden.

Sie werden oft mit den russischen Postmodernisten verglichen – mit Wiktor Pelewin und Wladimir Sorokin. Verfolgen Sie, was diese gerade schreiben?

Sorokin gefällt mir sehr, ich schätze sein Werk außerordentlich; von Pelewin habe ich ehrlich gesagt nur sehr wenig gelesen. Gerade in der letzten Zeit. Dafür lese ich Sorokin regelmäßig immer wieder. Ich mag seine Erzählungen sehr, Marinas dreissigste Liebe und Der Tag des Opritschniks – das sind sehr starke Werke. Bald erscheint sein neues Buch auf Deutsch, in dem die Hauptfigur exquisite Gerichte zubereitet, wobei sie den Grill mit Büchern anheizt (Managara, Anm. d. Red.). Darauf warte ich schon sehr. Sorokin scheint mir eine Art Mythenbeschwörer zu sein, er arbeitet sehr interessant mit Mythen.

Wer von den russischen Autoren ist Ihnen noch nahe?

Da würde ich Wenedikt Jerofejew nennen. Außerdem entdeckt man in Deutschland gerade viele neue Namen von Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die entweder noch nie gedruckt wurden oder bisher nicht übersetzt waren. Mich hat zum Beispiel Andrej Platonow sehr interessiert. Das klingt vielleicht für Sie seltsam, weil ihn ja in Russland alle kennen und sich schon lange mit ihm auseinandersetzen. Das ist genauso, als würde ich einem Deutschen sagen, dass ich kürzlich Kafka für mich entdeckt habe und ihn mit Vergnügen lese. Aber es ist die Wahrheit. Platonow ist für mich sehr wichtig, und ich denke viel über ihn nach. Ich würde mir gerne vorstellen, dass mein Peter Holtz ein entfernter Verwandter der Platonow-Charaktere ist.

Wie lebt es sich jetzt als deutscher Autor? Der deutsche Buchmarkt gilt als einer der am besten entwickelten der Welt.

Na ja, man muss sagen, dass ich zu meiner Zeit ein außerordentliches Glück hatte. Seit ich mein erstes Buch geschrieben habe, geht meine Karriere als Schriftsteller steil bergauf. Ich kann jetzt absolut von den Honoraren existieren, die ich für meine literarischen Leistungen bekomme. Das ist für einen Autor ein großes Glück. Längst nicht alle schaffen das. Und dennoch besteht gerade ein großer Teil des Marktes aus übersetzter Literatur – darunter auch russischer. Die Namen, von denen wir gesprochen haben, sind in aller Munde. Wer sich für Gegenwartsliteratur interessiert, kennt sie.

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