Institutionen und die Vorstellung von Selbstorganisation

Üblicherweise stellen wir uns eine künstlerische Selbstorganisation als Gegenpol zu den großen Institutionen der Gegenwartskunst vor. Während eine Institution ein breites Publikum, klar strukturierte Hierarchien und ein finanzstarkes Budget voraussetzt, liegen der Selbstorganisation horizontale Strukturen zugrunde, sie existiert „in den Nischen des Kapitalismus“ und ist bestrebt, alternative Methoden für die Entstehung von Kunst zu schaffen. Aber sind die beiden Konzepte wirklich so gegensätzlich? Was, wenn der Konflikt zwischen Institutionen und Selbstorganisationen nur in den Köpfen von Kunstschaffenden existiert, nicht aber in der Realität?

Boris Kljuschnikow, Philosoph und Experte für Gegenwartskunst, äußert sich skeptisch über die heutige Bedeutung von Selbstorganisationen und regt an, sie als Teil einer modernen Ideologie zu betrachten. Wir veröffentlichen hier seinen Text über Kunstinstitutionen als Imagination und Aufgabe eines neuen Modus für Institutionskritik.

Die Internet-Plattform syg.ma erstellte diesen Beitrag für das Projekt „Raum für Kunst“, ein Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts und des Moskauer Museums für Moderne Kunst (MMOMA).

Von Boris Kljuschnikow

Meine Meinung zu Künstler-Selbstorganisationen ist bekannt aus der Diskussionsrunde „Selbstorganisation und ihre Unannehmlichkeiten“, die in der Kunstzeitschrift „Chudoschestwenny schurnal“ veröffentlicht wurde. Ich habe dort in Zweifel gezogen, inwieweit der Begriff der Selbstorganisation überhaupt angebracht ist und wie angebracht seine Verwendung in Russland ist. Damals habe ich auf das Konzept von Gilles Deleuze aus „Tausend Plateaus“ verwiesen, genauer gesagt: Kapitel „Mikropolitik und Segmentarität“ [1]. Deleuze stellt dort die These auf, dass zwischen Zentrum und Nicht-Zentrum, zwischen großen Institutionen und kleinen Segmenten gar keine offensichtliche Verbindung existiert. Hier möchte ich diese Zweifel noch vertiefen und historisch begründen.

Ich denke, die ganze Geschichte der sowjetischen und postsowjetischen Kunst kann als eine Art besondere Wechselbeziehung zwischen künstlerischen Arbeiten (Kunstwerken) und einem Modell für Kunstinstitutionen betrachtet werden. Peter Osborne hat das interessant formuliert: „es ist die gegenseitige Beeinflussung der Ontologie des Kunstwerks und sozialer Beziehungen des Kunstraums, die Gegenwartskunst ermöglicht“ [2]. Das bedeutet, dass im Kunstwerk (in seiner Morphologie) auch ein bestimmter externer Raum abgebildet wird, in dem dieses Kunstwerk ausgestellt ist: der Bedingungsraum des Kunstwerks. Ich möchte diese Vorstellung über die Funktionsweise eines Kunstwerks mit einem Gedanken von Louis Althusser zusammenführen, dass nämlich die Ideologie das imaginäre Verhältnis zu den realen Existenzbedingungen repräsentiert [3]. Das bedeutet: obschon wir real in die Produktions- und Konsumprozesse eingebunden sind, haben wir dennoch niemals direkten Zugang zu ihnen, unser Verhältnis zu ihnen ist stets imaginär. Mit anderen Worten, wir haben lediglich ein Bild davon, wie wir mit den Bedingungen interagieren. Und Kunst ist dementsprechend ein Bild von der Interaktion des Künstlers mit sozialen Räumen, in denen er Kunst erschafft. So lässt sich das Kunstwerk als imaginäres Verhältnis zu seinen realen institutionellen Funktionsbedingungen verstehen.

Das Kunstwerk lässt sich als imaginäres Verhältnis zu seinen realen institutionellen Funktionsbedingungen verstehen.

Verfolgen wir mit diesem Gedanken die Entwicklungslinie der sowjetischen und später der postsowjetischen Kunst, so sehen wir in den Arbeiten höchst signifikante Besonderheiten, und sie eröffnen sich von einer ganz unerwarteten Seite. Boris Groys war der erste, der den Gedanken aufbrachte, sowjetische Kunst sei Kritik nichtexistenter Institutionen. Im amerikanischen Kontext existierte beispielsweise die modernistische Tradition des „White Cube“, der in den 1950er und 1960er Jahren Neoavantgarde, Konzeptkunst und Pop-Art begeisterte, um die Grenzen dieser Konvention zu umreißen. Dort konnte durchaus von einer Wechselwirkung zwischen Kunstwerk und White Cube die Rede sein, wobei letzterer das Element ist, welches das Kunstwerk ermöglicht. In der sowjetischen Kunst gab es diese modernistische Konvention nicht, und doch problematisierte das Kunstwerk gleichermaßen den Kontext, in dem es stand: den Kontext eines fehlenden White Cube.

Sowjetische Kunst war Kritik nichtexistenter Institutionen.

Beginnend mit den Arbeiten „Tür“ oder dem Bild „Fliesen“ von Michail Roginski verschmilzt das Kunstwerk gleichsam mit bekanntem Alltag. Der Unterschied zwischen dem Kunstwerk und einem gewöhnlichen Objekt ist auf Anhieb nicht mehr auszumachen – Kunst tritt hier zwar nicht ins Leben hinein, ist aber untrennbar mit diesem verbunden. Dasselbe gilt auch für die frühen Arbeiten von Ilja Kabakow, in denen die Kunstwerke rein morphologisch für die Untrennbarkeit von gewöhnlichem Küchen-Objekt und Kunstwerk stehen: „Whose Pot is this?“, „Whose Grater is this?“. Oskar Rabin hat seine Arbeiten beispielsweise in der Vorstellung gefertigt, dass sie im Kontext sowjetischer Leere ausgestellt werden, in düsterer Alltäglichkeit, in der nach dem Künstler kein Hahn mehr kräht. In diesen Arbeiten wird die soziale Isolation des Künstlers sichtbar, in den Augen von Rabin sind sie untrennbar verbunden mit Alltäglichkeit. Doch schon hier sehen wir, dass Kabakow, Rabin und Roginski uns eine bestimmte imaginäre Vorstellung dessen mitgeben, was ihre Kunst tut.

Es wird deutlich, dass der Künstler dem White Cube niemals losgelöst vom geschichtlichen Kontext begegnet.

Nach der „Bulldozer-Ausstellung” veränderten sich die realen Ausstellungsbedingungen sowie auch ihr Abbild in den Kunstwerken. Hierzu möchte ich zwei symptomatische Arbeiten nennen. Die eine ist eine Arbeit der Gruppe „Gnesdo” („Nest”). Wir können sie wohl als erste Arbeit bezeichnen, die einen neu genehmigten Ausstellungsraum für Künstler reflektiert. Sie stellten ein Nest aus, und setzten sich selbst hinein. Daneben stand ein Schild mit der Aufschrift „Ruhe! Experiment läuft“. Allen war klar, dass dies ein fragiler Raum war, in dem die Künstler sich nicht frei fühlten, und dass hier etwas passierte, was für die Kunst von großer Wichtigkeit war. In der Arbeit sehen wir ein Abbild der problematischen Beziehungen zu den Institutionen. Dasselbe gilt auch für eine Arbeit von TOTART: die Künstler banden in einer Wohnung die Konturen eines Würfels mit weißen Binden ab und zerschnitten sie anschließend. Damit simulierten sie den White Cube, der ihnen niemals zur Verfügung stand, und gleichzeitig kritisierten sie ihn als virtuellen Raum. Bezogen sich die abstrakten Expressionisten und die spätere Tradition der Konzeptkunst auf den White Cube als reale Arbeitsbedingungen, so erreichte die Gruppe TOTART das Verständnis, dass der White Cube ein Raum ist, der nicht selbstverständlich garantiert wird und dem man kritisch gegenüberstehen kann. In dieser Arbeit wird deutlich, dass der Künstler dem White Cube niemals losgelöst vom geschichtlichen Kontext begegnet. Gerade die Situation in der Sowjetunion, in der es keine modernistische Autonomie gab, ermöglicht es uns, diese Situation als imaginär zu erfassen. Meiner Ansicht nach ist dies die prinzipielle Beziehung russischer Künstler zum institutionellen System. Bei uns wird das Institutionelle weniger in der Realität errichtet als in den Köpfen.

Bei uns wird das Institutionelle weniger in der Realität errichtet als in den Köpfen.

Die nächste wichtige Station in der Geschichte sind natürlich die 1990er Jahre, als sich in Russland neue Ausstellungsmöglichkeiten eröffneten. Damals wusste niemand genau, ob wir schon einen Kunstmarkt haben oder doch noch nicht, doch die Künstler stellten sich vor, dass er existiert. Das heißt, sie erschufen eine imaginäre Vorstellung dessen, was wäre, wenn ein solcher Markt existierte. Mit anderen Worten: in den 1990ern passierte mit dem Markt dasselbe wie in der Sowjetunion mit der Institution des modernistischen White Cube. Es gab noch keine Institutionen für Gegenwartskunst, doch die Möglichkeit einer solchen Initiative lag schon spürbar in der Luft. Man konnte sie also irgendwie abbilden. Und genau das taten damals die Künstler vom Trjochprudny Pereulok: sie demonstrierten, wie eine Institution für Gegenwartskunst in Russland aussehen könnte. Sie generierten eine neue morphologische Struktur für ihre Arbeiten: ein Ausstellungs-Eröffnungs-Kunstwerk. Also eine Ausstellung, die selbst ein Kunstwerk war und die die Ritualität der Gegenwartskunst thematisierte, öffentlicher wurde als das noch in den 1980ern der Fall war. Besonders gefällt mir ihre Aktions-Ausstellung „Umsturz in der Kunst“, bei deren Eröffnung alle auf ein Rembrandt-Portrait starrten, das auf dem Kopf stand. Hier wurde das modernistische Pathos parodiert, es wurde zur imaginären Vorstellung. Die Künstler vom Trjochprudny Pereulok erklärten ganz offen, dass sie die Kunsthallen parodierten und versuchten, kleine europäische Institutionen zu spielen.

Niemand wusste genau, ob wir schon einen Kunstmarkt haben oder doch noch nicht, doch die Künstler stellten sich vor, dass er existiert.

Dann änderte sich wieder etwas in den 2000er Jahren, als die großen Player der Institutionswelt von sich reden machten. Es entstanden Winsawod und Garage. Allerdings müssen wir die Geschichte vermutlich bei Art Moscow 2001 beginnen und bei der damals neuen Vorstellung, Kunst brauche nun Form und bunte, fröhliche und gut installierte Objekte. Manche Künstler standen der Idee kritisch gegenüber. Insbesondere das Projekt "non-spectacular art" von Anatoli Osmolowski ist als Kritik zum imaginären Bild der Institution anzusehen.

In den 2000er Jahren gibt es meiner Meinung nach zwei wichtige Künstlerinnen, die das Modell, die Institution als imaginär zu betrachten, umsetzten. Ich spreche von Irina Korina und Anna Zhelud. Achten Sie mal darauf, wie falsch die beiden dargestellt wurden, wenn man von der Institutions-Ideologie ausgeht. Es wurde behauptet, ihre Werke seien Skulpturen. Man hat versucht, sie modernistisch und in erster Linie als Objekte zu definieren. Tatsächlich aber glaube ich, dass Anna Zhelud etwas ganz anderes und viel Wichtigeres tut. Sie hat Ausstellungsprojekte, bei denen sie nur die Konturen ihrer Arbeiten skizziert, d. h. sie zeigt, dass eine Ausstellung ein bestimmter konkreter Ort ist, der bereit ist, mit imaginärem Inhalt gefüllt zu werden. Oder anders ausgedrückt: eine Ausstellung ist das, was wir aus ihr machen. Und das betont sie, indem sie leere Templates zeigt. Die Ausstellung als Modell, und das sehr konkret, steht bei ihr im Vordergrund. Ich glaube, das hat zuvor noch niemand ernsthaft durchdacht. Aus Sicht von Althusser ist solche Kunst ganz sicher Teil der Ideologie, doch macht sie auch die Ideologie von innen spürbar. Wenn wir auf Ausstellungen von Anna Zhelud gehen, können wir quasi die imaginäre Institutionalität von innen spüren. Hier scheint uns jemand am Arm zu zupfen und zu sagen: „Du bist auf einer Ausstellung in Russland, wo alles entsteht, und du kannst Teil dieser Ideen-Ekstase rund um die Institution sein.“

Eine Ausstellung ist ein bestimmter konkreter Ort, der bereit ist, mit imaginärem Inhalt gefüllt zu werden.

Warum aber ist diese Linie des imaginären Verhältnisses zu den realen Existenzbedingungen in der Kunst so wichtig, wenn wir über das Phänomen künstlerischer Selbstorganisationen der letzten Jahre sprechen? Weil diese Selbstorganisationen sich oft selbst als Erben der 1990er Jahre wahrnehmen. Eine Beschreibung dieser Prozesse steht im Text „The Cultural Contradictions of the Tusovka“ von Viktor Misiano [4]. Darin erklärt Misiano, dass es in den 1990er Jahren an Wichtigkeit gewinnt, dass sich eine Gruppe gewissermaßen manifestiert, während die Figur des Kritikers auf Emotionalität hinausläuft, auf emotionale Sublimation. Kunst entsteht für die eigene Gruppe, bleibt verschlossen innerhalb bestimmter Kreise. Diese Widersprüche bestehen auch für die Selbstorganisationen der 2010er Jahre noch fort. Die Linie, die ich in der Geschichte gezogen habe, ist wichtig, weil auch die Selbstorganisation ein bestimmter Typus eines imaginären Verhältnisses zu Institutionen ist. Ein junger Künstler zu sein bedeutet, ein bestimmtes Bild dessen zu errichten, gegen was du dich positionierst oder was du kritisierst. Von Selbstorganisationen ist häufig zu hören, sie kritisieren irgendeinen Mainstream oder große Institutionen. Sie versuchen „in den Nischen des Kapitalismus“ zu existieren, wie es in den 2000er Jahren gerne hieß. Diese Rhetorik ist meiner Meinung nach Erbe eines anarchischen Impulses, der stets den Akzent auf die Gemeinschaft, auf horizontale Beziehungen setzt. All das ist auch ein ideologisches Modell für eine Beziehung zu dem, was wir uns unter Institutionen vorstellen.

Worin aber liegt das Problem einer solchen Positionierung? Erstens scheint mir, dass heute bereits recht offensichtlich ist, dass du allein über diese Geste der Initiierung, die Geste der Kritik, zum Künstler wirst, der letztendlich in eine große Institution geraten könnte. Das heißt, es existiert eine Resonanz zwischen den verschiedenen Teilen der Kunstszene – auch bei Deleuze ist das zu lesen. Am besten hat das Terry Smith in seinem Konzept des „Ausstellungskomplexes“ [5] ausgedrückt. Er schreibt, dass in einer großen Stadt wie New York (doch für Moskau gilt das ebenso gut) verschiedene Kunstformationen existieren: große modernistische sowie alte klassizistische Museen und Zentren für Gegenwartskunst, außerdem Artist-Run Spaces, selbstorganisierte Initiativen, politische Kunst, Kunstaktivismus und Public Art. Und all das zusammen ist in Wahrheit ein einziger, wenn auch segmentierter Organismus, der davon lebt, dass Ressourcen und Arbeitskraft aus einem Bereich in einen anderen verlegt werden. Und obwohl der Konflikt zwischen den verschiedenen Teilen dieses Ausstellungskomplexes in unserer Vorstellung existiert, so ist er auf struktureller Ebene gar nicht vorhanden. Darin besteht meine grundsätzliche These.

Ich glaube, dass tatsächlich gar kein ontologischer oder morphologischer Unterschied zwischen Institutionen und Selbstorganisationen besteht. Außerdem scheint mir die Tatsache bezeichnend, dass die Selbstorganisation gar keine alternativen Kunstformen anzubieten hat, da es keinen Unterschied in ihren realen Existenzbedingungen gibt. Bedenken Sie, dass eine neue Institution immer auch ein neues Verständnis dessen generiert hat, was Kunst eigentlich ist. Heute herrscht ein gewisser Konsens, der stets bemüht ist, als Gegensatz wahrgenommen zu werden. Wir können also sagen, es gibt einen unechten Gegensatz zwischen großen Institutionen und Selbstorganisationen.

Betrachten wir die Organisation des modernen Kapitalismus und seine Funktionsweise, so sehen wir, dass er gerade selbstorganisierte Initiativen fördert. Oder anders ausgedrückt: er wirkt durch die Förderung der Selbständigkeit seiner verschiedenen Bestandteile. Meine Kollegin Elena Ischenko verwendete in ihrem Text das Zitat „Die Zukunft ist selbstorganisiert“. Mir scheint, diese These entspricht vollkommen dem kapitalistischen und neoliberalen Mainstream darüber, dass wir die Zukunft in unsere Hände nehmen und uns auf unser eigenes Leben und unsere eigene Arbeit konzentrieren sollen. Wichtig ist, dass eine Selbstorganisation sich als Alternative darstellt, tatsächlich aber hängt die Ordnung der modernen neoliberalen Gesellschaft unmittelbar von Selbstorganisation ab. Deshalb scheint mir, dass wir auch das Konzept der Selbstorganisation als Teil der modernen Kunstideologie kritisieren müssen, wenn wir produktive Kritik an der Institution Kunst üben und ein Umdenken im Kunstprozess anstreben wollen. Ich glaube auch, dass in dieser Logik der Selbstorganisation, sowie in der zentrifugal orientierten Rhetorik und Taktik ein Russland-spezifisches Moment steckt.

Eine Selbstorganisation stellt sich als Alternative dar, tatsächlich aber hängt die Ordnung der modernen neoliberalen Gesellschaft unmittelbar von Selbstorganisation ab.

Welches Alternativmodell könnte ich wohl anbieten? Wie wäre Kunst zu denken, wenn wir sie nicht durch die Dichotomie von Zentrum und anarchischer Selbstorganisation denken wollten? Ich orientiere mich hier an einigen Modellen, die mir zeitgemäß erscheinen, wenn auch nicht im unveränderten Zustand sondern natürlich mit bestimmten strategischen und lokalen Korrekturen für die Situation in Russland. Erstens scheint es mir interessant, Kunst über den Begriff des „Ausstellungskomplexes“ zu denken, der bei Terry Smith heterogen und doch eine Einheit ist. Andererseits scheint mir auch die Position von David Joselit wichtig, die im letzten Kapitel seines Buches „After Art“ [6] beschrieben ist, in welchem er letztendlich institutionelle Kritik kritisiert. Er beschreibt, dass Künstler der 1970er Jahre, insbesondere Hans Haacke, für uns einfach die Bedingungen aufgestellt haben, wie Kunst gemacht ist, und sie uns vor Augen halten: „Seht her, wer wir sind und wie Kunst funktioniert.“ Sie konfrontieren uns mit einer Entlarvung. Heute funktioniert eine solche Entlarvung nicht, wie auch die Erklärung nicht funktioniert, dass du selbstorganisiert bist und dich gegen die globale Situation, gegen den Kapitalismus stellst.

Ich glaube, die Entlarvung allein genügt nicht, und auch Joselit betont das. Er spricht davon, dass große Institutionen der Gegenwartskunst, zu denen auch NCCA, Garage, V-A-C und Winsawod gehören, nach spezifischen Regeln funktionieren und an Finanzkapital gebunden sind. Worin genau ihre Spezifik besteht, ist vermutlich niemandem wirklich klar. Niemand vermag genau zu sagen, was in diesen Räumen geschieht, denn sie sind noch relativ neu. Es ist noch nicht besonders viel Zeit vergangen seit der Globalisierung der Gegenwartskunst, und wir können nicht prognostizieren, welche Folgen die bloße Existenz dieser Räume noch haben wird. Das Ergebnis steht noch aus. In diesen Räumen können noch ganz unvermutete Beziehungen geknüpft werden. Viel wichtiger ist aber, dass die Macht, die in diesen Institutionen akkumuliert – ein zweifellos großes Publikum, die Aufmerksamkeit von Netz-Communities sowie von Print- und anderen Medien –, verwendet werden kann, um Aufmerksamkeit zu erregen oder Diskussionen über Themen anzustoßen, die außerhalb des Bereichs Kunst liegen. Künstler können ihre Position als Figuren des öffentlichen Lebens einsetzen, um wirklich wichtige politische Themen anzusprechen und etwas in dieser Welt zu verändern, oder sie können die Kunst-Institution für politische Zwecke nutzen, vielleicht sogar für Agitationszwecke, Kunst am ursprünglichen Zweck vorbei präsentieren.

Künstler können ihre Position als Figuren des öffentlichen Lebens einsetzen, um wirklich wichtige politische Themen anzusprechen und etwas in dieser Welt zu verändern.

Hierzu ein interessantes Beispiel: Im 19. Jahrhundert fand in London die Weltausstellung statt, eine staatlich organisierte Ausstellung. Doch just an diesem Ort lernte Marx einige Arbeiter kennen, die zu der Ausstellung angereist waren. Niemand ahnte, dass dieses Treffen stattfinden würde, doch steht außer Frage, dass es folgenreich war. Die Existenz des Raumes – Kunst – hatte es möglich gemacht. Gerade dieses Potential, das in den Institutionen nirgends niedergeschrieben ist, halte ich für höchst wichtig.

Ich betone immer wieder, dass Kunst – Jameson und Althusser thematisieren das – irgendwie funktioniert. Andererseits führt Kunst uns auch vor Augen, dass sie irgendwie funktioniert. Sie funktioniert in unserer Vorstellung und in der Realität. Und mir scheint, dass Kunst in Wahrheit sogar eine subversive Wirkung hat, doch wir begreifen nicht ganz, wo und wie, denn wir blicken in die falsche Richtung. Genau wie mit Marx und den Arbeitern, die ihr Treffen der Kunst zu verdanken hatten, was jedoch niemand bemerken konnte, denn die Institution wurde hier nicht erwartungsgemäß genutzt. Und das scheint mir wichtig zu sein, in diesen großen Institutionen existiert irgendein real funktionierendes Protokoll, und das gilt es zu nutzen.

Was wir brauchen, ist eine neue Morphologie des Künstlerischen, anderes künstlerisches Arbeiten. Ich habe einige Ideen dazu, wie wir uns das vorstellen können. Wir müssten versuchen, die Akzente innerhalb der Institution zu verschieben, hin zu ihren marginalen und unerwarteten Aspekten. Der Künstler soll nicht entweder einfach die Institution kritisieren (seht, woher sie ihr Geld bekommen!) oder sich der Selbstorganisation widmen, ins Zelt gehen und sich außerhalb der Institution arrangieren. Stattdessen soll er innerhalb der Institution arbeiten und darin alternative Methoden der Interaktion finden. Es gibt schon Ansätze in dieser Art, doch mir ist nicht klar, wie durchdacht sie zum jetzigen Zeitpunkt sind. Ich spreche von Künstlern, die sich nicht auf den imaginären Gegensatz zwischen Selbstorganisation und großen Institutionen konzentrieren. Sie arbeiten mit großen Institutionen zusammen, behalten dabei jedoch im Blick, wie sich diese unter Umgehung ihrer zentralen Logik nutzen lassen. Meiner Ansicht nach ist das deutlich produktiver. Denn Selbstorganisationen machen oft Objekte, die gewissermaßen als Test- oder Demonstrationsbetrieb dienen, bevor die Arbeit von Institutionen beginnt. Doch Arbeiten im Keller zu fertigen, die später von großen Institutionen als Objekte vereinnahmt werden, ist reaktionär. Darin besteht ein großes Problem.

Und so verbindet meine Methode für die heutige Gegenwartskunst die Geschichte der institutionellen Kritik, gelesen durch die ideologischen Konzepte Althussers und Jamesons, mit den späteren Büchern von Joselit über Kunst und Macht. Ich finde, wir müssen diese Ansätze zusammenfassen und sie in der Kunst verwenden. Althusser selbst konnte das nicht tun, denn seine Arbeiten über die Ideologie sind älter als die institutionelle Kritik. Er sah Kunst nicht so, wie wir sie heute sehen. Er schrieb über Bilder, über Theater, er war auf das Objekt konzentriert. Wir aber können sein Verständnis des Ideologischen auf Institutionen als Kunstwerke ausweiten. Und wir können Institutionen analysieren als imaginäre Verhältnisse, als ideologische Konstrukte.

Die Gegenwartskunst hat uns alle verändert, doch wissen wir nicht genau wie.

Andererseits, ungeachtet dessen, dass jede Kunst das imaginäre Verhältnis zu den realen Existenzbedingungen repräsentiert, haben diese realen Existenzbedingungen dennoch auch ihre Wirkung und verändern uns irgendwie. Und nicht immer wissen wir, wie genau. Ein interessantes Detail ist, dass die Gegenwartskunst uns alle verändert hat, doch wissen wir nicht genau wie. Jeder Mensch hat ein Bild dieser Veränderung. Was kann ich vollbringen für die Gegenwartskunst? Was bedeutet Kunst für mich? Es ist immer ein Bild. Doch wissen wir nie, was sich in unseren realen Existenzbedingungen verändert hat im Hinblick auf den Ausstellungskomplex. Darauf zu achten ist Aufgabe des neuen Modus für institutionelle Kritik, bei dem der Vektor nicht mehr an den Grenzen von Institutionen liegt, sondern durch den wir alternative Möglichkeiten bereits funktionierender Mechanismen entdecken, die wiederum der Existenz von Institutionen zu verdanken sind.

[1] Deleuze G., Guattari F.: Tausend Plateaus; Kapitalismus und Schizophrenie, 2010

[2] Osborne P.: Contemporary art is post-conceptual art, 2010, T. 20

[3] Althusser L: Ideologie und ideologische Staatsapparate // Neprikosnowenny sapas, 2011, T. 77, Nr. 3.8

[4] Misiano V.: The Cultural Contradictions of the Tusovka // Chudoschestwenny schurnal, 1999, Nr. 25, S. 17-24

[5] Smith T.: Thinking Contemporary Curating // Ad Marginem Press, 2015, T. 272

[6] Joselit D.: After Art, 2017

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