„Ageism beginnt in Russland schon mit 40”

Sonja Maximenko | © Goethe-Institut Moskau

Die soziale Unternehmerin und Aktivistin Tatjana Drosdowa beschäftigt sich seit 2015 mit dem Leben älterer Menschen, schafft eine Plattform für sie und entwickelt spezielle Bildungsprogramme und Angebote. Um Stereotypen gegen das Altern zu begegnen, hat sie 2018 gemeinsam mit Ekaterina Kuraschewa das Festival „Young Old: новые старшие“ ins Leben gerufen. Im Interview für das Online-Dossier „Horizonte des Alters“ berichtet sie von der Spezifik des Ageism in Russland und darüber, warum es noch immer totgeschwiegen wird.

Von Elena Barysheva

Ageism funktioniert, wenn ich das richtig verstanden habe, in beiden Richtungen – also können sowohl ältere als auch jüngere Menschen aufgrund ihres Alters diskriminiert werden?

Wenn Sie damit den Arbeitsmarkt meinen, ist das richtig. Ich beschäftige mich allerdings konkret mit der Diskriminierung von Menschen fortgeschrittenen Alters. Die Probleme junger und älterer Menschen auf dem Arbeitsmarkt unterscheiden sich stark voneinander. Jüngere werden als perspektivreich, aber nicht ausreichend erfahren wahrgenommen. Und Ältere als Mitarbeiter*innen, die nicht mehr in der Lage sind, verantwortungsvolle Positionen zu bekleiden. Daran sehen Sie: es gibt starke Unterschiede. Ageism ist die negative Wahrnehmung von Menschen fortgeschrittenen Alters, die mit etwas Schlechtem, Traurigem, Ineffektivem assoziiert wird, etwas, das keine Zukunft, Bedeutung und Subjektivität hat. Und so etwas kann die letzten 25 Jahre eines Lebens vergiften.
 
Gibt es, was Ageism angeht, russischen Besonderheiten?


Ich würde sagen, dass Ageism in Russland vor allem nicht als solcher erkannt wird. Das Problem hat erst in den letzten Jahren Fürsprecher bekommen und wurde von den Medien und auf Konferenzen aufgegriffen. Wir bekommen nicht selten zu hören, dass es in Russland überhaupt keinen Ageism gibt, weil hier „ältere Leute noch geschätzt werden“. Aber was soll das heißen? Ihnen im Nahverkehr einen Sitzplatz anzubieten, „Guten Tag“ und „Bitteschön“ zu sagen? Das Problem des Ageism ist ja nicht, dass man dir nicht höflich begegnet oder an deinem Geburtstag keinen Toast auf dich ausspricht. Das wird gemacht, aber es bedeutet nicht, dass es in Russland keinen Ageism gibt. Ebenso verhindert die Schweigekultur in Russland, das Problem von Gewalt gegen ältere Menschen als ein solches anzuerkennen. Denn es ist unangenehm, darüber zu sprechen, dass ein alter Mensch in der Familie geschlagen wird oder dass man seine Rechte einschränkt. Und zuletzt ist der Ageism in Russland ziemlich jung – und zwar in dem Sinne, dass bereits Menschen mit 40-45 Jahren große Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben.
 
Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie man Ageism im Alltag erkennt?


Das zeigt sich zum Beispiel auf der Sprachebene. Wenn wir sagen: „Du siehst aber jung aus“, wollen wir jemandem damit ein Kompliment machen. Das impliziert, dass es schlecht ist, wenn man alt aussieht. Oder Bemerkungen wie: „Das Alter ist kein Zuckerschlecken“. Man hört auch öfter, dass erwachsene Kinder zu ihren betagten Eltern sagen: „Mama, misch´ dich da nicht ein, ich komme schon klar. Du musst das nicht wissen.“ Von außen kann es so wirken, als wehrte sich hier jemand gegen Bevormundung, aber das eigentliche Thema ist, dass hier jemandem das Recht auf eine freie Meinungsäußerung genommen wird. Ein anderes Beispiel: wenn einem älteren Menschen ungefragt die Rolle aufgedrängt wird, die Enkelkinder zu hüten. Oder wenn jemand zum Auszug gedrängt wird, damit Wohnraum frei wird, was anderen Familienmitgliedern ein komfortableres Leben ermöglicht.
 
Und schließlich zeigt sich Ageism im Job, wenn ältere Kolleg*innen nicht mehr zu Fortbildungen geschickt werden oder keine kreativen Aufgaben mehr bekommen, die den Einsatz neuer Technologien erfordern. Und dabei ist es offensichtlich, dass jemand den Anschluss verlieren kann, wenn man ihm die Chance auf Herausforderungen im Bereich neuer Technologien nimmt.
 
Gibt es in der Weise, wie eine Gesellschaft das Altern wahrnimmt, einen Genderaspekt?


Wenn wir von der Arbeitswelt sprechen, haben Frauen früher mit Altersdiskriminierung zu kämpfen. Das hängt auch mit Sexismus zusammen und mit der Vorstellung, dass Frauen ein Mindesthaltbarkeitsdatum haben.
 
Aber beim Eintritt ins Rentenalter stellt sich dann oft heraus, dass Frauen im Vergleich zu Männern ein größeres Spektrum an Freizeitangeboten und Bereichen haben, in denen sie gebraucht werden. Es gibt konventionelle Aufgaben, die eher Frauen zugeschrieben werden: sich um die Enkelkinder zu kümmern oder ins Theater zu gehen. Für Männer fällt dieses Spektrum eher schmal aus. Es beschränkt sich im Prinzip auf „Angeln und Garagen“. Deshalb kann es für Männer nach dem Eintritt in das Rentenalter schwieriger sein, eine neue Identität zu finden und ihrem Leben Sinn zu geben.
 
Wer sind die Hauptakteure für Veränderung im Kampf gegen Ageism: Aktivist*innen oder Menschen fortgeschrittenen Alters selbst?


Sowohl als auch. Ich finde es völlig in Ordnung, dass Leute mit großen sozialen Ressourcen für die Rechte von Menschen mit kleineren sozialen Ressourcen kämpfen. Die Aufgabe solcher Aktivist*innen sollte es aber sein, Ältere zu motivieren, für ihre Rechte einzutreten, sie zu inspirieren und dabei zu unterstützen, dem Altern angstfrei entgegen zu blicken. Und natürlich ist es gut, nach Vorbildern zu suchen, die eine hohe Symbolkraft für die ältere Generation haben.
 
Menschen fortgeschrittenen Alters selbst können auf mehreren Ebenen gegen Ageism aktiv werden. Auf der persönlichen Ebene ist das eine große psychologische und seelische Herausforderung, die mit einer Identitätssuche im neuen Lebensabschnitt verbunden ist. Damit, sich als flexibel genug zu erweisen, noch Neues zu lernen und einen festen inneren Halt zu haben, der sicherstellt, dass man sich nicht verliert.
 
Auf der Community-Ebene haben Menschen fortgeschrittenen Alters ein großes Potenzial, was das Community-Management und die Organisation von Initiativen angeht. Wenn sie nicht mehr arbeiten gehen, haben sie viel Freizeit und gleichzeitig auch genug Charisma und Standhaftigkeit, Probleme anzusprechen. Diese Rolle möchte man nicht jedem oder jeder aufbürden, aber sie ist bei vielen ein Thema.
 
Welche Reaktionen ruft das medial vermittelte Bild finanziell gut gestellter europäischer Rentner*innen bei ihren russischen Altersgenoss*innen hervor?


Es gibt sehr unterschiedliche russische Senior*innen. Manche lassen sich von solchen Bildern inspirieren. Andere sagen sich, Mensch, die haben einfach mehr Möglichkeiten und Geld, und deswegen stößt es sie eher ab. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es in der Provinz meist besser ist, europäische Rentner*innen gar nicht zu erwähnen. Es ist effektiver, auf lokale Probleme einzugehen und keine Bilder von Erfolgsgeschichten des Altwerdens zu zeichnen, auch wenn uns das persönlich vielleicht naheliegend erscheint.
 
Ich bin 30. Aus dieser Perspektive heraus scheint mir, als ob die Kluft zwischen den Generationen in der Zukunft nicht mehr so groß sein wird wie zum Beispiel die zwischen mir und meiner 80-jährigen Oma, die kein Smartphone hat. Oder ist das eine Illusion?


Ich denke, nein. Die Generation, die mit dem Smartphone in der Hand in Rente geht und es auch bedienen kann, fällt weniger leicht in ein Informations- und Weltanschauungsloch als die Menschen, die nur eingeschränkt an der Digitalisierung teilhaben. Selbst auf der familiären Ebene ist das so: davon, ob es einen Familien-Chat auf WhatsApp gibt, kann vieles abhängen.
 
Eine andere Sache ist es, dass wir niemandem Technologien und Kommunikation aggressiv aufdrängen können. Man kann nämlich durchaus im Alter auf die Idee kommen, die eigenen Kontakte zu begrenzen und nur noch mit Leuten aus dem engsten Bekanntenkreis zu kommunizieren. Und das kann eine ganz bewusste und freie Entscheidung sein. Das ist für uns dann wichtiger als all diese Vorstellungen eines gelungenen Älterwerdens, die man so im Kopf hat.

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