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Oliver Rohe
Gegenangriff

Von Oliver Rohe


„Nach unseren letzten Informationen“, so sagt mir der Rechtsanwalt, „soll er mit dem Islamischen Staat sympathisiert, ja sogar den Treueeid geschworen haben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob das stimmt. Er will nicht mehr mit mir sprechen. Niemand, den ich aus seinem Umfeld kenne, ist mehr bereit, mich auf dem Laufenden zu halten. Weder seine Frau und seine Kinder noch seine ehemaligen Arbeitgeber oder seine Bekannten aus der Moschee. Die Sozialbehörden haben seine Spur verloren, die sie ohnehin nie groß verfolgt haben. Er hat keinen festen Wohnsitz mehr, wenn Sie so wollen, niemand weiß, wie es ihm geht und wo er sich aufhält, auch wenn es heißt, er sei in Ungarn oder Österreich. Oder in Bosnien. Natürlich werden diejenigen, die den Vorgang nicht oder zu gut kennen – die, die ihn von Anfang an verleumdet haben, Regierung, Polizei, Presse, egal ob rechts oder bürgerliche Mitte, manchmal auch links – diese Hinwendung zum Islamischen Staat, zum Terror, als Ergebnis seiner Entwicklung werten, als logische Folge seines Lebenswegs, sie werden sagen, dass der Kreis, der mit seinen Ansichten in seiner Jugend begann, als er 1982 oder 1983 im Libanesischen Bürgerkrieg für eine radikalislamische Bewegung kämpfte, dass sich dieser Kreis nun schließt, dass sich letztlich alle Skepsis, alle Verdächtigungen ihm gegenüber als gerechtfertigt erwiesen hätten.

Der Autor Oliver Rohe © C. Hélie (éd. Gallimard) Rückblickend würde er ja eigentlich sogar verdienen, was die CIA ihm vor mehr als fünfzehn Jahren angetan hat, als sie ihn nach Verhör und Prügel durch die örtliche Polizei vor diesem schäbigen Hotel in Rumänien entführt und in ein Gefängnis in Afghanistan gesteckt hat. Sechs Monate lang war er verschwunden. Sechs Monate. Sie verstehen noch überhaupt nichts von der ganzen Geschichte“, sagt er zu mir, „Sie sind gerade erst darauf gestoßen, Sie gingen damals noch zur Schule, als das alles passierte, Sie kennen die Details nicht — die erst Jahre später Stück für Stück ans Licht gekommen sind, hier ein Bericht, dort eine interne Mitteilung der CIA —, all die erschreckenden Details über seine Gefangenschaft, Sie wissen nichts von den Demütigungen, den Schlägen und der Folter, die er dort erlitten hat, im Geheimen, verlassen und, davon bin ich überzeugt, mit dem Wissen des deutschen Staates, und das, obwohl mein Mandant, wie Ihnen bekannt ist, ein ganz normaler Bürger unseres Landes ist, ein Deutscher wie Sie und ich, aber eben mit dieser Einschränkung, diesem Makel, erst seit 1995 oder 1996 Deutscher zu sein, Deutscher, ja, sicher, aber vorher eben Libanese, was er zwangsläufig immer noch ein bisschen ist — jeder hat ja die libanesischen Männer hier vor Augen, die alle Drogendealer sind, Autodiebe, Betrüger und Sozialhilfeempfänger, die ein derart schlechtes Image haben, dass sogar die Syrer, die gerade erst in Deutschland angekommen sind, von deren schlechtem Ruf wissen und alles daransetzen, nicht mit ihnen verwechselt zu werden. Wo war ich gerade?“

„Bei der Gefangenschaft.“

„Sechs Monate wird er gefangen gehalten. Er bittet darum, einen deutschen Botschaftsangehörigen zu sprechen, tritt dafür sogar in Hungerstreik, schließlich kreuzt ein Typ bei ihm auf, der sich ihm als deutscher Beamter vorstellt und einen Vornamen hat, der deutscher nicht sein könnte: Hans. Der verhört ihn und verspricht ihm, er werde bald entlassen. Niemand weiß heute, ob dieser Hans tatsächlich Deutscher war oder nicht, ob er wirklich von der Botschaft kam oder ein CIA-Agent war, der sich als Deutscher ausgab. Angenommen, er wäre es, er wäre Deutscher gewesen, der für unsere Botschaft oder den Geheimdienst tätig war, dann wusste unser Staat davon, dass mein Mandant gefangen gehalten wurde, und hat nichts dagegen unternommen, geschweige denn, ihn herausgeholt. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Hans mit der späteren Freilassung meines Mandanten nichts zu tun hat. Die CIA-Leute haben irgendwann selbst bemerkt, dass der Mann, den sie in Rumänien entführt und in Afghanistan gefoltert haben, gar nicht der Al-Qaida-Kämpfer war, den sie haben wollten, dass sein einziges Vergehen letztlich darin bestand, denselben Namen zu tragen wie ein gesuchtes mutmaßliches Al-Qaida-Mitglied. Sie haben sich schlicht und einfach geirrt, den falschen Kerl erwischt, die CIA hat einen Mohammed entführt, aber eben den falschen Mohammed. Als ihnen sechs Monate später ihr Irrtum klar wurde, haben sie meinen Mandanten aus dem Kerker geholt, in den sie ihn geworfen und in dem sie ihn gefoltert hatten, und ihn im Niemandsland ausgesetzt, irgendwo in Rumänien. Mit ein paar Dollar in der Hemdtasche, mit denen er sich durchschlagen sollte. Und vielleicht mit einem Klaps auf den Rücken, der so was sagen sollte wie: Komm schon, nichts für ungut. Sie fragen sich bestimmt: Wie hat er nur zurückgefunden in seine deutsche Heimat?“

„Nein, ich habe gerade eher an seine Frau und seine Kinder gedacht.“

„Die Frau mit den Kindern tappte vollkommen im Dunkeln. Sie ist zu den ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes gegangen, hat überall, wo er sich früher regelmäßig aufhielt, nach ihm gesucht, in Cafés, in Gemüseläden, sie hat mit den Verkäufern gesprochen, den Hausarzt der Familie gefragt, ob ihr Mann ihm von seinen Fluchtplänen erzählt oder sich irgendetwas an seinem Gesundheitszustand verändert hatte, ob er eine schwere Krankheit hatte, die seine Flucht erklären könnte, sie hat alle Überlegungen und Gerüchte zusammengetragen, die in der Nachbarschaft in Umlauf waren, sie hat ständig überall angerufen, nichts. Sie ist mehrmals bei der Polizei gewesen und bekam zur Antwort, sie wüssten nichts, dann hieß es, man würde ermitteln, aber eigentlich nichts wissen — was durchaus sein kann, vielleicht tappte auch die Polizei im Dunkeln. Die Frau hat alles Erdenkliche getan, um den geliebten Menschen zu finden. Danach hat sie sich mit der Situation abgefunden, ist zu dem Schluss gekommen, dass das Schmerzlichste und zugleich Gewöhnlichste passiert sein musste: Ihr Mann hatte sie von einem Tag auf den anderen wegen einer anderen verlassen, einer jungen, hübschen Frau, einer Deutschen, warum nicht, er ist in eine andere Stadt gezogen, in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent, er hat sich einen neuen Namen zugelegt. Ihr gemeinsames Leben, die gemeinsame Wohnung und die Kinder, unter all das hat er einen Schlussstrich gezogen, ohne schlechtes Gewissen. Sie hatte keinen Grund mehr, in Deutschland zu bleiben, wo es für sie nur noch Leid gab. Also hat sie ihre Sachen gepackt und ist mit den Kindern in den Libanon zurückgegangen.

Eine freiwillige Heimkehr, stellen Sie sich das mal vor, der Traum unserer rechten Parteien. Und so wartete an dem Tag, als mein Mandant wieder vor seiner Wohnungstür stand, niemand auf ihn. Nach dem Martyrium der Gefangenschaft begann jetzt ein zweites Martyrium für ihn, das kein Ende nehmen sollte. All seine Klagen vor amerikanischen Gerichten blieben erfolglos, obwohl ihn verschiedene Organisationen und einflussreiche Anwaltskollegen unterstützt haben. Keine Chance, ein Schuldeingeständnis der Verantwortlichen für seine Leidenszeit zu bekommen. Er habe keinen Anspruch auf irgendeine Entschädigung, und sei sie nur symbolisch, noch nicht einmal auf eine Entschuldigung, denn die USA hätten kein Verbrechen an ihm begangen. Na los, hau schon ab. Als sein unglaublicher Fall in Deutschland bekannt wurde, hat unsere Regierung sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre direkte oder indirekte Verantwortung für das Schicksal des eigenen Staatsbürgers zu schmälern oder zu verschleiern. Wir wissen jedoch, dass Deutschland den Flugzeugen der CIA das Überfliegen seines Luftraums gestattet hat und somit höchstwahrscheinlich über die weltweite Entführungspraxis informiert war, über dieses Parallelsystem einer außerrechtlichen Strafverfolgung. Wir wissen, dass mehrere europäische Länder im Rahmen dieses Programms geheime Gefängnisse auf ihrem Territorium bewilligt haben. Wir wissen, dass die Moschee, in der mein Mandant gebetet hat, von amerikanischen Geheimdiensten überwacht wurde, mit oder ohne Wissen des deutschen Geheimdienstes, der die Moschee ebenfalls beobachtete. Wir wissen, dass jemand — wir? die Amerikaner? irgendjemand… — der rumänischen Polizei mitgeteilt haben muss, dass mein Mandant irgendeiner Sache verdächtigt wurde, weil die Rumänen ihn dann drei Wochen lang ohne Rechtsgrundlage verhörten. Wir wissen, dass Deutschland unter dem Druck der amerikanischen Verbündeten darauf verzichtet hat, die verhängten Haftbefehle gegen CIA-Agenten zu vollstrecken, die in die Entführungen verwickelt waren.
Illustration Oliver Rohe
Trotz dieser Tatsachen, trotz all dieser belastenden Indizien versteckt sich unsere Regierung weiterhin hinter der Staatsräson. Und daraus folgt“, so sagt mir der Anwalt, „dass mein Mandant keine noch so geringe finanzielle Entschädigung erhalten hat, um ein neues Leben zu beginnen, und vor allem keinerlei Unterstützung oder Betreuung bekommt bei seinem fortschreitenden psychischen Verfall. Er schläft die ganze Zeit, und wenn er nicht schläft, brüllt er herum, er schafft es nicht, bei einem Job zu bleiben, sich an die Arbeitszeiten zu halten, er hat Panikattacken, es kann passieren, dass er mitten im Gespräch plötzlich aufsteht und geht, dass er sehr aufbrausend reagiert, er hat gewalttätige Schübe, krasse Wutausbrüche, in einem Geschäft, in dem man sich nicht für ein fehlerhaftes Kleidungsstück entschuldigen will, richtet er erheblichen Schaden an, er ohrfeigt einen Typen in der Post, wie Sie vielleicht in der Presse gelesen haben, weil der ihm angeblich einen abschätzigen Blick zugeworfen hat, er schlägt einen polnischen Baustellenleiter zusammen. Er wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, zuerst mit, dann ohne Bewährung, er sitzt im Knast und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Er beschimpft und bedroht die Patienten, schlägt seine Pfleger, zerstört Möbel im Speisesaal und in seinem Zimmer. Erst wurde er am Gericht als Kläger abgewiesen, als Opfer einer fürchterlichen Ungerechtigkeit, einer internationalen Staatsverschwörung, dann wurde er als Kleinkrimineller vorgeladen bzw. als jemand, der infolge seiner psychischen Verfassung auffälliges Verhalten an den Tag gelegt hat. Das Gericht wies seine Klagen ab, eine nach der anderen. Er aber fand Mittel und Wege, immer wieder ans Gericht zurückzukommen, dann allerdings als Angeklagter, als Schuldiger, so, als suche er ständig den Kontakt zum Gericht, als versuche er unaufhörlich, sich vor dem Gesetz Gehör zu verschaffen, irgendwie etwas mitzuteilen, das, was ihm zustand, zu bekommen, und sei es über eine Strafe. Seine Gefangenschaft in Afghanistan wird niemals anerkannt werden, sein sechsmonatiges Martyrium hat er nicht durchlebt, er hat es nur geträumt. Er ist ein Lügner.“

„Aber gibt es denn keine Beweise für seine Entführung?“

„Sie haben recht. Ihre Aufmerksamkeit ehrt Sie. Wie soll man einem Mann Glauben schenken, der behauptet, im Urlaub von der CIA entführt und in Afghanistan gefoltert worden zu sein? Wer kann eine solche Ungeheuerlichkeit einfach so akzeptieren? Warum nicht gleich von Marsmenschen entführt werden? Die Beweise“, sagt der Anwalt, „finden sich in seinen Haaren. Sein Körper hat für ihn gesprochen. Die Haaranalyse hat ergeben, dass er mehrere Monate in der asiatischen Klimazone war, in der Afghanistan liegt. Seine Haare zeugen von der seelischen Verzweiflung, von Folter und Hunger. Aber Sie sind nicht der Einzige, der Beweise fordert, der zweifelt. Dieser Zweifel, den die Staaten aus Eigeninteresse nähren, ist fest in unseren Köpfen verankert, er steckt in allem, was über die Geschichte gesagt und geschrieben wird. Viele Leute in Deutschland und den Vereinigten Staaten, Freunde und Bekannte, junge Journalisten, denen ich davon erzähle, stellen weiterhin infrage, dass mein Mandant die Wahrheit sagt, trotz allem, was bereits über das Entführungsprogramm veröffentlicht wurde, trotz der öffentlich gewordenen internen CIA-Mitteilungen und der Aussagen von Mitgefangenen in Afghanistan. Sie zweifeln die Aussage meines Mandanten an und verweisen gleichzeitig auf seine weit zurückliegende Vergangenheit als Islamist im Libanon oder auf seine Verbindung zu einer deutschen Moschee, die auch von mutmaßlichen Al-Qaida-Mitgliedern besucht wurde, und rechtfertigen so über seine Vergangenheit die Entführung, an die sie eigentlich keinesfalls glauben wollen. Sie stellen einerseits die willkürliche Gefangennahme infrage, andererseits stützen und verteidigen sie sie. Oder sie ignorieren die zeitliche Abfolge: Die kriminellen Handlungen und Wahnzustände meines Mandanten, die allesamt nach seiner Gefangenschaft in Afghanistan kamen, seien unbestreitbar Ausdruck seiner politischen Radikalität oder seiner Veranlagung dazu. Aber selbst der schlechteste Psychologe weiß, dass diese Form von Gewalt nur die Reaktion auf ein erlebtes Leid beziehungsweise die ständige Negierung dieses Leids ist — wie ein Nachbeben bei einem Erdbeben. Aber auf alle Fälle hat er, so die Zweifler, zu denen Sie hoffentlich nicht gehören, sein Schicksal herausgefordert. Er hat es verdient.“

„Sie unterschlagen, dass er jetzt wieder verschwunden ist, dass er kürzlich zugegeben hat, mit noch Schlimmerem als mit Al-Qaida zu sympathisieren.“

„Sein erneutes Verschwinden ist, so denke ich, eine Art, das ihm zugedachte Schicksal endlich selbst in die Hände zu nehmen. Er ist unter grauenvollen Umständen zum Verschwinden gezwungen worden, ohne dass sich irgendwer darüber aufgeregt hätte, ohne dass man ihm geglaubt oder sein Schicksal anerkannt hätte, jetzt verschwindet er aus eigenen Stücken, er verschwindet nach seinen Regeln, so wie er selbst es will. Er schlüpft in die Rolle des Ausgestoßenen. Er bekennt sich zu dem, was ihm zuerst fälschlich vorgeworfen wurde, und zwar mit einer Verbissenheit, die gleichermaßen moralisch abstoßend wie gesetzeswidrig ist. Er wird zum Sympathisanten der Radikalen.“

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