Mauerfall
Wie die DDR im "Burgfrieden" unterging

30th Anniversary of the Fall of the Berlin Wall
© Goethe-Institut Thailand

Die heutige Direktorin des Goethe-Instituts Thailand, Maren Niemeyer,  erlebte als junge Westberliner Radiojournalistin die Nacht der Maueröffnung am 9.11.1989 zufällig in Ostberlin.

Auf Einladung des DEFA Regisseurs Heiner Carow besuchte sie mit ihrem Freund die Premiere des Spielfilms „Coming Out“ im Kino International. Da die Premierenparty in unmittelbarer Nähe zum Grenzübergang Bornholmer Strasse stattfand, hatte Maren Niemeyer das historische Glück genau in dem Moment vor Ort zu sein als die Mauer fiel und der Grenzübergang erstmals für alle Ostberliner geöffnet wurde.   

Vor zwanzig Jahren hat sie ihre Erlebnisse und Eindrücke dieser Ausnahme-Nacht für die Tageszeitung „Die Welt“ aufgeschrieben.


Am 9. November 1989 wollte Heiner Carow die Premiere von "Coming Out" feiern - aber etwas kam dazwischen

Die Premiere war für den 9. November angesetzt. Der Film hieß "Coming Out". Es ging um die Selbstfindung eines homosexuellen Lehrers in der DDR. Heiner Carow wollte seinen Film abends um halb acht im Uraufführungskino "International" zeigen - eine Stunde also, nachdem ein paar Straßen weiter Günter Schabowski das Coming Out der ganzen DDR von seinem legendären Zettel abgenuschelt hatte. Die Brisanz von Carows "Coming Out" war bis zu dieser Stunde eine erhebliche gewesen, und so erschien es den Beteiligten immer noch: der erste Schwulenfilm der DDR. Nach siebenjährigem Berufsverbot hatte Carow, SED-Dissident und Regisseur der Plenzdorf-Verfilmung "Die Legende von Paul und Paula", wieder einen Kinofilm drehen dürfen. Ein im Osten mit Spannung erwartetes DEFA-Projekt. Carow hatte uns mehrfach zu Recherchegesprächen in West-Berlin besucht.

Um 18 Uhr ist alles wie immer am Übergang Bornholmer Straße. Es wird spät werden. In die Rubrik "Ausreise" tragen wir darum den 10. 11. ein, und die Grenzer stellen uns routinemäßig als "Anlage zum Westberliner Personalausweis" ein entsprechendes "Visum" aus. Die Zoll- und Devisenerklärung trägt die Nr. 2455198. Winkelgänge durch Abfertigungsbarrieren, kleine Luken, in die Zwangsumtauschgebühren hinein- und Reisedokumente herausgereicht werden. Hinter jedem Grenzer ein zweiter, der den Vorgang und die Einreisenden sorgfältig mustert. Hochgeschlagene Militärkragen in der Novemberkälte.  
 

  •  © Maren Niemeyer
  •  © Maren Niemeyer
  •  © Maren Niemeyer
  •  © Maren Niemeyer
Das Kino "International" vibriert vor Erwartung. Am Vortag ist nach der Regierung auch das SED-Zentralkomitee zurückgetreten, sind Walter Jankas Erinnerungen im Deutschen Theater und live im DDR-Rundfunk vorgelesen worden - das Eis schmilzt schnell. Und nun ein Schwulenfilm. In den Hauptrollen die bereits populäre Dagmar Manzel und Matthias Freihof und Dirk Kummer als Debütanten. Einzelne bekennende Homosexuelle zeigen sich - so etwas hat man in der DDR bei einem offiziellen Anlass noch nicht gesehen. Ein wenig verschämt noch, in der Maske des Kulturkommunarden der Hauptstadtintelligenz. Hier ein Halstuch, dort ein Ohrring, und der Duft etwas weniger herrenhaft.

Der Film erhält stürmischen Beifall, wohl weniger wegen seiner soliden, unaufgeregten Erzählweise. Die Signale von Wahrhaftigkeit, die Carow setzt, werden euphorisch begrüßt. Das Künstlervolk beklatscht seinen eigenen Aufbruch, den es mit der Großdemonstration vom 4. November manifestiert hat und den Carow nun mit Bildern von kultureller Enge und deren Überwindung krönt. Seht her, auch wir können jetzt alles zeigen, und wir können noch viel mehr. Gerührt nimmt Carow die Ovationen entgegen, jedes "Bravo" ein Akt der Rehabilitierung für den 60 Jahre alten SED-Kritiker, den untreuen Getreuen, der gegen Land und Partei immer loyal blieb und dem dafür seine Obrigkeit die Renitenz nachsah.

In einen seiner Drehorte, eine Schwulenkneipe am Prenzlauer Berg, 15 Minuten Fußweg von der Bornholmer Brücke, lädt Carow den engeren Kreis zur Premierenfeier. Derweil schicken die Agenturen schon den Traumstoff um die Welt: In Berlin fällt die Mauer. Aus dem über zweistündigen Nachrichtenloch der Kinovorführung bringt uns ein Schwarz-Taxi zur Party, die gerade auf etwas anstößt, was es nie wieder geben wird: eine nationale Filmpremiere der DDR. Man feiert ausgelassen - niemand weiß, was sich vor der Kneipentür abspielt. Weiß es wirklich niemand, oder will es bloß keiner wissen?
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Doch die neue Wirklichkeit da draußen ist zu ungeheuerlich, um Inseln des Gestern in Frieden zu lassen. In Gestalt eines struwwelhaarigen Mittdreißigers stürzt sie herein. "Die haben die Mauer aufgemacht!" Die halb aufgerissene Kneipentür im Kreuz, die sprachlos am Tresen Stehenden vor sich, verharrt der ungebetene Gast, die Wirkung seiner Worte erwartend. Doch niemand glaubt ihm. "Trink eenen, und denn isset jut", beruhigt ihn die Wirtin. Der Mann enteilt, kopfschüttelnd. Erst ein zweiter Auftritt dieser Art bringt die Festgesellschaft dazu, einmal selbst vor der Tür nachzuschauen.

Sogar durch die kleine Nebenstraße schiebt sich eine schier unüberblickbare Schlange von Wartburgs und Trabbis auf ein Ziel zu, das uns aus offenen Seitenscheiben zugerufen wird: "Zur Brücke! Die Bornholmer ist auf, wir fahren rüber." Rasch zieht sich die Party ins Lokal zurück. Wie magnetisierte Teilchen richten sich die Gäste auf Carow aus, bange Blicke türwärts werfend. Wer und was wird in dieser unheimlichen Nacht noch alles Eintritt begehren? Es droht hier eine andere Regie, ein anderer Film, das spürt jeder. Allgemeines Beratschlagen setzt ein. So ist das also. Die Mauer wankt. Die Mauer fällt. Was bedeutet das? Was wird werden? Aus dem kleinen, grauen Land; aus seinen Kulturmenschen; aus mir? Zum ersten Mal fällt das Wort von den "Siegern". "Ja, da habt ihr - ja, ihr aus dem Westen - da habt ihr es ja geschafft!"

Der Rumor, die Unruhe formen sich zum trotzigen Entschluss: Wir laufen nicht über, wir gehen nicht einmal raus. Wir bleiben jetzt hier. Wir machen die Tür zu und unsere eigene DDR auf. Was auch komme, die Premiere geht weiter. Sie geht ihren Gang. Der Hauptdarsteller bekräftigt es, die anwesende Filmkritikerin, die weibliche Hauptdarstellerin, der Regisseur selbst. Wer die Sprache wiederfindet, äußert Befürchtungen. Die Filmkritikerin Margit Voss: "Das geht alles viel zu schnell." Hauptdarsteller Dirk Kummer: "Mensch, hoffentlich schießen die nicht!" Heiner Carow spricht seinen Wintergästen Mut zu: "Es wird alles sehr viel Zeit brauchen, kein Grund zur Eile." Nur Drehbuchautor Wolfram Witt formuliert eine Hoffnung: "Vielleicht komme ich jetzt endlich an die Medikamente ran, die ich so dringend brauche." Witt ist schwer krank.

Wir hielten es nicht mehr aus. Wir gingen. Unsere Party lief an der Grenze. Der mitternächtliche Menschenstrom, der wie im Traum durch eine sonst um diese Zeit völlig ausgestorbene "Hauptstadt" wogte, schob uns auf die Bornholmer Brücke zu. Das Unfassbare geschah: Sprachlos, beinahe reglos ließen die Grenzer den Autoverkehr passieren. Durch eine breite Schneise schoben sich ausgelassene Menschen an ihren Grenzhäuschen vorbei von Ost nach West, von West nach Ost. Der Schlagbaum war oben, und man konnte sich nicht vorstellen, dass er sich je wieder senken würde. Berlin, das getrennte Paar, stürzte geradezu körperlich aufeinander zu - mehr als einmal hatten wir Mühe zu erklären, dass wir zwar von Osten, nicht aber als Ostler den entmachteten Grenzstreifen überquerten.

Eine Stunde lang etwa ließ uns das Ungeheuerliche um uns her vergessen, was uns an diesem Abend nach Ost-Berlin geführt hatte. Dann trieb uns die Neugierde zurück zu Carows Premierenfeier. Tatsächlich - alle waren in der Kneipe geblieben. Die Musik war jetzt aus. Leise, in kleinen Gruppen, unter Tränen teils, beriet man immer noch die neue Lage. Unsere Schilderungen vom Schauplatz der Grenzöffnung interessierten niemanden. "Jetzt sind wir von dem Ast gefallen, an dem wir 40 Jahre gesägt haben", würde der Ost-Berliner Kabarettist Peter Ensikat am nächsten Tag von der Bühne sagen. "Coming Out" - der Filmtitel hatte sich anders als gedacht und sehr zum Erschrecken unserer Gastgeber in dieser Nacht eingelöst und unsere DDR-Visa in Billets für eine Schlussvorstellung verwandelt, mit ratlosen Darstellern. Das Lokal, in dem wir die traurigste Einheitsfeier dieser Nacht erlebten, hieß übrigens "Zum Burgfrieden".
Die Filmkritikerin Margit Voss - sie hatte Carow zur Beschäftigung mit dem Filmstoff angeregt - arbeitet heute für den Mitteldeutschen Rundfunk und das "Neue Deutschland".

Drehbuchautor Wolfram Witt sah sich später dem Vorwurf der Zuarbeit für das MfS ausgesetzt und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.

Dirk Kummer ging in die Schweiz, brach dort eine Schauspiel-Ausbildung ab und lebt heute als Regisseur in Süddeutschland.

Heiner Carow starb im Februar 1997. Er hat nach der Wende nicht an seine DDR-Erfolge anknüpfen können.