Die Thaländische Übersetzung von Olga
Literatur, Liebe und politische Ideologie

Olga
© Goethe-Institut Thailand

„Der Roman ähnelt Khang Lang Phap von Sri Burapha, der eigentlich den Titel Kirati tragen könnte, so wie dieser Roman Olga heißt.”
Eine Besprechung von Bernhard Schlinks Olga im Kontext der thailändischen Gesellschaft mit Artch Bunnag.
 

Können Sie die Geschichte für uns zusammenfassen?
Das Buch besteht aus drei Teilen. Es beschreibt das Leben einer Frau namens Olga, die bis zu ihrem Tod zwar unverheiratet, jedoch keine Jungfrau bleibt (lacht). Ihre Geschichte wird von Ferdinand erzählt, was bedeutet, dass seine Ansichten über Olga zugegebenermaßen etwas voreingenommen sind. Der Autor ist ebenfalls ein Mann, daher ist das Buch selbst von einem männlichen Standpunkt aus geschrieben.

Da ich einen asiatischen Hintergrund habe und eher mit asiatischen Kontexten vertraut bin, habe ich mich nicht auf eine bestimmte Seite der Handlung geschlagen und habe recht neutrale Ansichten.

Alle drei Teile des Romans sind ziemlich unterschiedlich. Der erste Teil ist eine Liebesgeschichte, während der zweite Teil realistischer wirkt. Er ist im Vergleich zum ersten Teil „maskuliner”. Der dritte Teil besteht aus einer Auswahl an Briefen, und liest sich daher beinahe wie Sachliteratur, wie eine historische Aufzeichnung oder die Biografie einer berühmten Person.

Reden wir über die Romanfiguren.
Olga erinnert mich an Khang Lang Phap von Sri Burapha, die Geschichte einer weiblichen Protagonistin erzählt von einem Mann. Khang Lang Phap könnte eigentlich den Titel Kirati tragen, so wie dieser Roman Olga heißt. Khang Lang Phap zeigt ein größeres Maß an Voreingenommenheit, da der Erzähler Nopphon in Kirati verliebt ist. Olga ist in dieser Hinsicht ausgeglichener.

Trotzdem ist Ferdinand ein unzuverlässiger Erzähler, da Olga ihn großgezogen hat und er ihr liebevoll zugeneigt ist. Man merkt auch, dass beide Männer unerfahren sind und Frauen nicht komplett verstehen.

Ich beziehe mich hier nur auf den Roman und nicht auf den Autor oder dessen Absichten. Meine Kritik befasst sich nur mit dem Text selbst. Anderen Leserinnen und Lesern steht es frei, ihre eigenen Interpretationen zu entwickeln, aber ich persönlich liebe böse Mädchen oder Antiheldinnen und ich stehe immer zu ihnen.
Veröffentlichung der thailändischen Übersetzung von Olga Foto: Graham Meyer © Goethe-Institut Damit meinen Sie Viktoria, stimmt’s?
Genau. Viktoria kommt im Roman nicht sehr oft vor, aber ich mochte sie. Für mich war sie eine wirklich schillernde Figur. Ferdinand trifft sie eigentlich nie persönlich, es ist Olga, die ihm von Viktoria erzählt. Natürlich möchte Olga nicht schlecht dastehen, sondern sich als die Heldin der Geschichte darstellen. Olgas Vorgeschichte klingt in der Tat wie die einer Heldin einer romantischen Tragödie. Sie ist eine Waise, verliert ihre Eltern und muss so bei Verwandten aufwachsen. Aber sie beißt sich durch, kämpft und ist wissbegierig, lernt zum Beispiel Klavier und Orgel zu spielen und liest sehr gerne. Das ist alles sehr bürgerlich und ähnelt auf einer Ebene der thailändischen Mainstream-Literatur von Autorinnen und Autoren der Mittelschicht, wo alle diese Dinge hinein gepackt werden müssen. Wenn man das Buch liest, bemerkt man auch, dass es voller literarischer Referenzen ist, dieses „Ich kenne diesen und jenen Schriftsteller“, und zwar deshalb, weil Schlink das Prestige und den Wert der Literaturkultur hervorheben will. Das ist in dieser Art von Genre, die man als ernste Literatur oder E-Literatur bezeichnen könnte, üblich.

In der thailändischen Mainstream-Literatur greifen bürgerliche Autorinnen und Autoren gerne auf diesen Topos zurück und verwenden literarische Referenzen, was dazu beiträgt, ihren Status als Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu festigen. Wenn wir das bei Olga sehen, hat es aber auch die Funktion, ihren Charakter als gebildete und belesene Frau zu etablieren und ihre Forderungen nach Frauenrechten und ihre sehr klaren politischen Ansichten zu betonen. Sie ist unerschrocken, freimütig und offen, verkörpert ein sehr modernes Frauenideal. Anbetracht des Zeitalters, in das sie geboren wurde und der gesellschaftlichen Normen, die damals vorherrschten, ist sie ungewöhnlich mutig.

Zu dieser Zeit, obwohl die Geschichte in der westlichen Welt spielt, waren die Menschen noch religiös und Sex vor der Ehe war nicht erlaubt. Im Roman hatte Olga nicht nur vorehelichen Sex, sondern ließ Männer auch für sie kämpfen. Sie ging sogar so weit, einem Mann zu erlauben, bei ihr zu wohnen, im Schlafsaal der Schule.
 
Ich denke, die meisten Frauen würden Olgas Leben nicht führen wollen, obwohl der Autor sie als sehr schön und eine Art Frauenideal beschreibt.
Der Autor hat eine Figur erschaffen, die in vielen Aspekten sehr bewundernswert und attraktiv ist. Beim Lesen habe ich jedoch „Oh nein…!” gedacht. Im dritten Teil begann ich zu glauben, dass sie sich vieles ausdachte. Man liest ihre Briefe an ihren Geliebten Herbert, der auf eine Expedition in die Arktis aufgebrochen ist. Damals war eine Reise dorthin extrem beschwerlich und dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass er sich seinen Eltern beweisen wollte. Diese wollten, dass er eine “bessere” Frau heirate. Seine Eltern waren sehr ehrgeizig und gemessen an der Art, wie sie sich verhielten, hätte man meinen können, sei seien Aristokraten. In Wirklichkeit waren sie jedoch nur Gutsbesitzer.
Kommen wir nun zu Olga. Sie wurde nur durch die Augen von Männern beschrieben. Einer von ihnen ist Ferdinand, und er hat sie nicht wirklich durchschaut. Er sieht sie vielmehr immer noch so, wie sie sich darstellt. Doch sie bildet sich Dinge ein und ist in Wirklichkeit kalt und unnahbar.
 
Das überrascht mich.
Olgas Briefe an Herbert beginnen mit den Worten „Lieber Herbert“, aber dann gibt es plötzlich einen, der mit „Mein lieber Ehemann“ beginnt. Ich habe das gelesen und dachte: „Moment mal. Haben sie geheiratet?“ Wenn sie ihn “mein lieber Ehemann“ nennt, wird er dann zu einem? Akzeptiert Herbert das? Sie hatten nur eine Affäre, aber sie stellt sich vor, dass er ihr Ehemann ist. Eigentlich ist er ein bisschen ein Verliertyp und hat keinen Erfolg, also flüchtet er in die Arktis und die beiden hören auf, sich Briefe zu schreiben – bis 1936. Nach 15 Jahren Funkstille schreiben sie sich wieder Briefe.
Veröffentlichung der thailändischen Übersetzung von Olga © Diogenes Verlag/Library House Was glauben Sie, ist in dieser Zeit mit Olga passiert? Hat sie versucht, sich eine neue Geschichte auszudenken?
Nun ja, nach 1913 war Olga mit Arbeit beschäftigt. Sie ist umgezogen, um in einer örtlichen Schule zu unterrichten und hatte genug zu tun. Als sie älter wurde, wurde sie entlassen und hatte nichts anderes zu tun als ein bisschen zu nähen, und so dachte sie zurück an ihren früheren Liebhaber. Aber als ich das las, dachte ich: “Hä?”. Wenn sie nie wieder einen Partner hatte, bedeutet das, dass sie vielleicht gar nicht so hübsch war? Wenn sie wirklich so gut aussah, hätte sie Herbert sicher inzwischen vergessen.
Nach dieser langen Funkstille hat Olga Herbert wieder geschrieben, aber da er nicht antwortete, nahm sie an, er sei gestorben. Sie versuchte, durch ein paar Vereine für Forschungsreisende herauszufinden, was passiert war, doch sie bekam keine Informationen und schrieb weiterhin ihrem „lieben Herbert“, um ihm zu berichten, was geschah… Aber beim Lesen dachte ich, vielleicht ist Herbert gar nicht tot.

Er könnte in Grönland sein, wo er sich niedergelassen und eine Familie gegründet hatte, während Olga weiterhin glaubte, dass er bis zu seinem Tod ihn sie verliebt war. Wie Kirati, die sagt: „Ich sterbe ohne den Mann, den ich liebte, aber ich bin glücklich, jemanden geliebt zu haben”. Hat Herbert sie aber geliebt? Kirati hat für Nopphon den Berg Mitake gemalt, Olga hat ein Aquarell für Herbert gemalt. Die beiden Protagonistinnen machen wirklich Ähnliches durch.
 
Und was ist mit Liebe und politischem Engagement? Eigentlich können wir das Thema Liebe beiseite lassen, da sie sich vieles selbst eingebildet hat.
Das ist eigentlich auch eine Art von Liebe. Wenn wir Liebeskummer haben und Liebesgurus wie Siranee oder p’Ooy und p’Chod anrufen, erwarten wir dann wirklich Lösungen für all unsere Probleme? Das glaube ich nicht.

Olga ist auch so. Sie dachte, sie sei so verliebt, wie sie es sich erträumt hatte. Sie war intelligent, sie wusste, wie sie andere dazu bringen konnte, an das Bild zu glauben, das sie von sich präsentierte. Warum sie Eik vernachlässigt hatte, war, weil er nicht auf sie hörte und nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Er hatte ganz klar politische Überzeugungen, die im Widerspruch zu ihren standen.

Etwas Ähnliches erleben wir heute in Thailands Gesellschaft. Wenn Menschen unterschiedlicher Meinung sind, kündigen sie einander deshalb die Freundschaft auf. Auf der anderen Seite hat Ferdinand getan, wie ihm geheißen wurde, da sie ihn mit Informationen fütterte und eine eigene Welt für ihn errichtete. Als hätte sie ihm einen Chip eingepflanzt, um ihn zu steuern. Und das ist ihr gelungen.

Die Handlung des Romans spielt in der ferneren Vergangenheit. Sie beginnt vor dem Ersten Weltkrieg, erstreckt sich über den Zweiten Weltkrieg bis in die jüngere Vergangenheit (Artch: bis in die 1970er). Glauben Sie, dass es Anknüpfungspunkte mit der aktuellen Situation in Thailand gibt?
Für unsere Gesellschaft auf jeden Fall. Es gab im Dialog und in Olgas Nörgelei viele Punkte, die in der Art und Weise, wie sie unsere gegenwärtige politische Situation widerspiegeln, sowohl für die Jüngeren als auch für die Älteren wie eine Ohrfeige wirken. Ein relevanter Punkt für die thailändischen Gesellschaft ist der Altersunterschied und die ideologische Kluft zwischen den Generationen. Man merkt aber, dass Schlink aus seiner eigenen Erfahrung schreibt, denn diese Probleme sind in der heutigen Zeit allgegenwärtig. Die Generationenkluft besteht seit Ewigkeiten. Es ist kein neues Phänomen und das gilt auch für Thailand.

Haben Sie das Buch gelesen?

Mir gefiel Ferdinands Erzählung im zweiten Teil des Romans. Sie wirkte sehr lebhaft und dynamisch. Ich mochte vor allem den Abschnitt, in dem Olga und Ferdinand Viktoria treffen und sie ihm erklärt, dass Viktoria weiß, es sich zu richten und sie es nur deshalb so weit gebracht hätte.
So ist Olga nun einmal. Sie weiß, wie sie sich über Wasser halten kann, um andere zu kritisieren, aber in ihrem Herzen spürt sie vielleicht, dass Viktoria es besser erwischt hat, weil sie einen reichen Ehemann hat, während Olga nicht weiß, wo ihrer ist, und stattdessen als alte Jungfer endete. Wissen Sie, damals war es irgendwie beschämend, eine alte Jungfer zu sein. Daher verdrehte sie ihre Geschichte ein wenig, indem sie behauptete, Lehrerin gewesen zu sein und sich ihren Kindern gewidmet zu haben, und dass sie vor die Tür gesetzt worden sei, als sie ihr Gehör verlor. Man merkt, dass sie das Narrativ ihres Lebens ändert, um etwas daraus zu machen. So schafft sie es, jede Krise in eine Chance zu verwandeln. Veröffentlichung der thailändischen Übersetzung von Olga Foto: Graham Meyer © Goethe-Institut Und was halten Sie von der Beziehung zwischen Liebe und politischer Ideologie, und prägt das Olgas Charakter?
Eine Sache, die wir einräumen müssen ist, dass, wenn tiefe Überzeugungen im Konflikt stehen – sowohl damals als auch heute – Liebe nicht gedeihen kann. Herbert und Olga konnten gut miteinander auskommen, weil sie ähnliche politische Einstellungen haben. Darum hat es Eik schwer, weil seine Überzeugungen im Widerspruch zu Olgas stehen. Obwohl sie versucht, ihn zu dem Mann zu erziehen, den sie sich immer gewünscht hat.

In der literarischen Norm gibt es den Begriff „Pygmalionkomplex“. Er leitet sich ab von der griechischen Mythologie. Es geht darum, dass Männer Frauen idealisieren. Aber Olga ist eine Ausnahme. Sie erzieht jemanden zum idealen Mann. Sie ist ein wenig wie der Professor in „My Fair Lady“. Aber letztendlich wird Eik ausrangiert, weil er nicht so wird, wie sie es wollte.
 
Geschieht all das, weil Herbert verschwunden ist und sie deshalb jemand anderen erschaffen muss, der seinen Platz einnimmt?
Genau. Im Grunde wurde auch Herbert von ihr erschaffen, genauso wie Eik. Aber Herbert könnte sich durch den Druck verkrampft gefühlt haben, also flüchtete er. Und als er dann zurückkam, hielt er es nicht aus und ging erneut weg. Vielleicht war Olga eine kleine Wichtigtuerin, und er wurde von ihr unter den Pantoffel gestellt. Wenn sie nicht so gewesen wäre, wären sie und Herbert vielleicht richtig verheiratet gewesen.

Als ihr Mann dann verschwand, erschuf sie ein Ersatzkind, aber als dieses zu einem jungen Mann heranwuchs und sie begann, stolz auf ihn zu sein, rebellierte er und fing an, für sich selbst zu denken. Zu diesem Zeitpunkt wandte sie sich von ihm ab und versuchte jemand anderen aufzubauen. Das war Ferdinand, der die Art Mann war, die sie sich immer wünschte.

Teil Zwei befasst sich auch mit ihrer Lektüre und erwähnt unzählige Bücher. Das hat mir direkt Lust gemacht, das alles auch zu lesen.
Wir sollten es Olga gleich tun, nicht? Es werden viele Autoren erwähnt, die ich nicht kenne, und für manche gibt es auch keine Fußnoten, das hat mich ein bisschen gewundert. Und dann gibt es den Höhepunkt der Handlung, den ich nicht verraten darf. Als ich den Roman begann, dachte ich, das sei bloß eine Liebesgeschichte, eine unbefriedigende noch dazu. Ich dachte, naja, vielleicht ist das bei Autorinnen und Autoren der ernsten Literatur üblich, wenn auch sehr langweilig. Aber als ich zu Seite 60 kam… also, wenn Sie Mainstream-Belletristik mögen, halten Sie durch bis Seite 60 und lesen Sie dann weiter. Um genau zu sein, auf Seite 63 gibt es einen Wendepunkt in der Handlung, der mich gefesselt hat, und danach konnte ich das Buch bis Teil Zwei nicht mehr weglegen.
 
Man möchte wirklich wissen, wie es weitergeht.
Genau, deshalb liest man weiter. Zuerst fand ich, es ist ein bisschen wie etwas von Sandra Brown. Obwohl es doch im Bereich der ernsten Literatur angesiedelt ist, kam ein Hauch romantischer Spannung auf. Es wurden im Grunde viele verschiedene Stile angedeutet, keiner davon jedoch komplett zu Ende geführt, und das könnte die Schwäche des Romans sein. Vielleicht wollte der Autor auf Nummer sicher gehen, vielleicht hatte er Angst, dass er seinen Status als Autor der ernsten Literatur verlieren würde, hätte er die Handlung zu feurig gestaltet. Ich denke aber, dass das Buch, wenn er sich nicht zurückgehalten hätte, ein internationaler Hit geworden wäre. Es könnte leicht ein New York Times-Bestseller sein, weil die Haupthandlung das Zeug zur Populärliteratur hat, aber die Fans der ernsten Literatur es immer noch mögen würden. Aber es ist nun mal nicht wirklich komplett. Es braucht mehr… Ich dachte, es kann nicht einfach so enden. Es braucht noch etwas anderes.
 
Es hinterlässt Fragen. Vielleicht wird die Geschichte als Fan Fiction weitergesponnen, oder der Autor schreibt eine Fortsetzung, keine Ahnung. Aber wir werden das Ende nicht verraten, damit  wir anderen das Lesevergnügen nicht nehmen.
 
Dieses Interview ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch anlässlich der Veröffentlichung der thailändischen Übersetzung von Olga am 26. September 2020 im Fathom Bookspace in Bangkok.

Olga © Library House
Olga
Autor: Bernhard Schlink
Übersetzerin: Janejira Sereeyotin
Veröffentlicht von Library House, Bangkok
Die Übersetzung dieser Arbeit wurde durch eine Förderung des Goethe-Instituts unterstützt.