Einführung
Die Situation der klassischen Musik in Deutschland

Gewandhausorchester, Gewandhaus zu Leipzig, 2014
Gewandhausorchester, Gewandhaus zu Leipzig, 2014 | © Gert Mothes

Dass Deutschland als „Musikland“ wahrgenommen wird, liegt an seinem kulturellen Erbe und der weltweit wohl einzigartigen Dichte an Orchestern, Chören, Opern- und Konzerthäusern, Festivals, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und zahlreichen weiteren Akteuren. Diese Vielfalt gilt es zu pflegen.

Deutschland gilt als das Land der Dichter und Denker, darin sind die Musiker eingeschlossen. Händel und Bach, Beethoven und Brahms, Schumann und Schütz, Wagner und Hindemith, Weill und Stockhausen – kaum eine Epoche, in der Deutschland nicht einen Klassiker von Weltrang hervorgebracht hat. Nur die Österreicher, Italiener und Franzosen können da mit Deutschland konkurrieren, wobei das mit den selbstbezüglichen Superlativen eine fragwürdige Sache ist. Kompetenz für Geistiges endet im Urteil forscher Patrioten leider meistens an der Landesgrenze.

Trotzdem hat Deutschland als Zentralstaat Mitteleuropas geistesgeografisch stets die besten Karten gehabt. Schon immer war das Land eng besiedelt, gab es große Städte, die automatisch Musiker anzogen, auf Dauer oder für die Zeit einer inspirierenden Durchreise; Königs- und Fürstenhäuser buchten Glanz und Gloria nach Noten. Auch die Kirchen versicherten sich musikalischer Hilfe bei der Verkündigung des Wortes Gottes. Und irgendwann war es auch der Bürger selbst, der fern der Erlaubnis durch höhere Instanzen Musik machen wollte. Die Geschichte eines Landes spiegelt sich in ihrer Musikgeschichte; Demokratie findet meistens (nicht immer) auch in Partituren statt.

Imposante Fülle, klamme Kassen

Seit je ist Kulturpflege in Deutschland flach vernetzt und nicht Aufgabe des Bundes. In der Musik ist das nicht anders. Die Zuständigkeiten sind auf die Städte, Gemeinden und Bundesländer verteilt. Wie auch sonst: Kein Staat könnte sich um die über 130 Orchester kümmern, die alle auf Unterstützung angewiesen sind. Diese Organisation hat Vor- und Nachteile. In Bundesländern mit wenigen Großstädten wie etwa Hessen oder Bayern sind die Ressourcen leichter zu organisieren als etwa in Nordrhein-Westfalen, wo es sozusagen an jeder vierten Autobahnausfahrt ein Opernhaus gibt, einen Konzertsaal, ein Orchester, zahllose Chöre und mindestens ein Festival. Stolz wird auswärtigen Besuchern von Politikern diese imposante Fülle des Angebots demonstriert.

Wenn es aber um die Verteilung schmaler finanzieller Möglichkeiten in den Zeiten klammer Kassen geht, wird sie leichthin zur Disposition gestellt. Was passiert, wenn die öffentliche Hand am Kulturauftrag nicht beteiligt ist, sieht man in den USA: Dort stirbt ein Orchester nach dem anderen. Wer den Kulturauftrag als Pflichtfach einer modernen Demokratie beschränken will, vergisst gern, dass Kultur ein ebenso harter wie weicher Standortfaktor für die Attraktivität einer Kommune ist. Man geht nicht nur in die Oper, sondern am selben Abend auch ins Restaurant, fährt mit der Bahn und kauft vorher einen neuen Anzug oder ein neues kleines Schwarzes. Und natürlich zieht eine junge Familie in eine Stadt mit Musikschule. Doch Achtung beim Umzug: Manche Schule hat den Musikunterricht klammheimlich abgeschafft.

Die breit gestaffelte Professionalität des Musikertums spornt zur Nachahmung an – und ihr wird auf ebenso breiter Basis nachgeholfen. Das Netz von Musikschulen und Musikhochschulen ist überaus dicht, und wer je eine dieser Institutionen besucht hat, wird sich über eine multinationale Familie zuerst gewundert haben. Dann aber erscheint die Vielfalt an Ethnien naheliegend: Wer aus China, Usbekistan, Peru oder Syrien nach Deutschland kommt, um hier zu lernen, will sicherlich die Aura der großen Meister spüren. Aber er will auch unterrichtet werden nach jenen Prinzipien, die von deutschem Handwerk weit in die Welt künden, nicht nur beim Fußball: Fleiß, Gründlichkeit, Disziplin, Tradition.

Lebendiger Musikbetrieb

Um diese Tempel der Kunst und des Kunsterwerbs hat sich ein stattliches Netz von Institutionen gelegt, das den Musikbetrieb nährt und seine Infrastruktur gewährt. Etliche Agenturen versorgen die Veranstalter mit leibhaftigen Künstlern, die in großen wie in kleinen Präsentationsformen auftreten – als Solisten, Kammermusiker, Dirigenten, Liedsänger –, etliche Verlage drucken die Noten, aus denen die Musiker dann spielen, etliche Firmen bauen die Instrumente, auf denen gespielt wird, Künstlersozialkasse und die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) sorgen für angemessene Honorare der Künstler. Damit aber Musik klingt, bedarf sie eines Saals mit Atmosphäre. In allen Großstädten wurden in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren neue Konzertsäle gebaut, die Berliner Philharmonie wirkt dagegen wie ein Amphitheater aus antiker Zeit. Sie ist erst knapp fünfzig Jahre alt. Dass ein Konzertsaal an den Turmbau von Babel erinnern und dabei eine ganze Stadt entzweien kann, obwohl doch alle alles von ihm erhoffen, zeigt das Beispiel der Hamburger Elbphilharmonie. Für dieses Prestigeobjekt werden die Steuerzahler nach jetzigem Stand mehrere hundert Millionen Euro aufbringen müssen.

Das alles ist dem deutschen Musikbetrieb über Jahrzehnte selbstverständlich vorgekommen. Nun aber spüren wir eine Schere zwischen Anspruch und Finanzierbarkeit und spüren die Schere, die uns das Liebgewonnene wegschneidet. Musikkritiken über klassische Konzerte in den Tageszeitungen werden rarer. Mancher wähnt gar eine Krise im Land der Dichter und Denker. Allerdings zählt es zum guten Ton in Deutschland, den Tod der Klassik zu beschwören. Die Patientin selbst wirkt bei genauer Untersuchung ganz lebendig.