Das Merck Social Translating Projekt
Übersetzen kann auch so gehen!

Das Merck Social Translating Projekt
Foto: Yang Meng-Ru

Meine erste Reise nach Korea hatte nichts mit Tourismus zu tun, es ging vielmehr um ein besonderes Buch. Ich blickte in eine Runde asiatischer Gesichter und alle unterhielten sich auf Deutsch. Es schien, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht und ich fühlte mich wieder wie zu meiner Anfangszeit in Deutschland in der Deutschklasse für ausländische Studenten. Übersetzerinnen und Übersetzer zehn verschiedener Sprachen kamen im Goethe-Institut Seoul zusammen: Konkurrenten aus derselben Branche, die sich misstrauisch beäugten? Leute mit ähnlichen Interessen, die sich gegenseitig wertschätzten und unterstützten? Oder etwa Leidensgenossen?

Ein Geschenk aus heiterem Himmel
Ende September 2017 war ich gerade voll damit beschäftigt, der Übersetzung der „Märchen von Hermann Hesse“ den letzten Schliff zu geben, als ich eine Nachricht von Wang Hui-Mei erhielt, der Leiterin der Bibliothek des Goethe-Instituts Taipei: ich sollte im Rahmen des „Merck Social Translating Projekts“ für das durch eine Abstimmung ausgewählte Werk „Die Welt im Rücken“ die Übersetzung für die Version in traditionellen chinesischen Schriftzeichen übernehmen. Außerdem sollte ich im November nach Korea reisen, um im Goethe-Institut Seoul mit neun weiteren Übersetzerinnen und Übersetzern zusammenzukommen.

Ich übersetze schon seit zwanzig Jahren deutsche Bücher in meiner Freizeit. Meine einzigen Begleiter waren schon immer nur eine einzelne Lampe, ein paar Wörterbücher und das stumme Internet gewesen, so dass ich diesmal dermaßen überrascht von dieser völlig neuen Situation war, dass ich überhaupt nicht darauf reagieren konnte.

In der Weltliteratur gibt es zahlreiche äußerst populäre und weit verbreitete Werke und es ist nicht ungewöhnlich, dass sie in viele Sprachen übersetzt wurden. Doch welcher Autor kann von sich sagen, soviel Glück zu haben wie Thomas Melle mit „Die Welt im Rücken“, das gleichzeitig in zehn Sprachen übersetzt wird? Das ist schließlich ein noch nie da gewesenes Experiment. Das federführende Goethe-Institut Seoul hat nämlich eigens für die Übersetzer und den Autor eine Kommunikationsplattform eingerichtet, in der die Programmierung für das E-Book in der Weise umgeschrieben wurde, dass alle Beteiligten Fragen zum Text stellen und darüber diskutieren oder einfach ihren Assoziationen freien Lauf lassen können.

Ich las also „Die Welt im Rücken“ in aller Eile durch und als Anfang Oktober die Kommunikationsplattform fertig war, entspann sich sogleich eine Diskussion unter den Übersetzern zum „Elefanten“ in der „Einleitung“, wobei die Meinungen weit auseinandergingen. In meiner Eile hatte ich ihn doch tatsächlich übersehen und als ich nochmal genau nachlies, wurde mir bewusst, dass mir die Geistesgegenwart eines Cao Chong fehlte [der als Sohn des chinesischen Warlords Cao Cao zur Zeit der Drei Reiche im alten China spontan eine Methode ersonnen hatte, um einen Elefanten nach dem Prinzip des Auftriebs zu wiegen]. Ich kam einfach nicht darauf, welches Bild dieses riesige Tier transportieren sollte! Wenn ich daran dachte, dass ich demnächst auf dieser Plattform meine eigenen Unzulänglichkeiten bloßstellen würde, kam es mir unwillkürlich vor, dass die Reise nach Seoul anstrengend und voller Herausforderungen sein würde.

Übersetzen - wie eine Entdeckerreise
Als ich am frühen Abend des 12. November auf dem Flughafen Incheon landete, brachte mich ein Bus zum Hotel Hilton, wo wir untergebracht waren. Ich brachte mein Gepäck aufs Zimmer und ging anschließend nach unten, um die anderen neun Übersetzer, die Institutsleiterin und die Bibliotheksleiterin zu treffen, die Personen also, die dieses Übersetzungsprojekt initiiert hatten sowie einige weitere, sehr tüchtige Mitarbeiter.

Ein opulentes koreanisches Abendessen bildete den Auftakt zu diesem dreitägigen Workshop. Der Tisch war voll mit leckeren scharfen Speisen gedeckt und um den Tisch herum waren vor allem asiatische Gesichter zu sehen, die untereinander auf Deutsch kommunizierten. Das schmackhafte Essen erleichterte das erste Kennenlernen, das Bier und der Schnaps machte denen, die darauf ansprechen, warm ums Herz, so dass die anfängliche Zurückhaltung lebhafter Diskussion wich.

Ich trat aus dem Restaurant heraus in das Herbstwetter von Seoul, das viel kälter als in Taiwan war. Unter den Straßenlaternen standen die Verkäufer gerösteter Kastanien und gegrillter Tintenfische dicht an dicht und aus ihren Mündern pusteten sie weißen Dampf in die Luft. Es schien, als ob sie den Startschuss abgaben für unseren Workshop, der am folgenden Tag beginnen sollte, als ob sie uns damit vorwarnen wollten, dass wir uns auf den Ernst der Sache gefasst machen müssten und auf keinen Fall zu viel Gähnen sollten.

Der Autor Thomas Melle hatte ursprünglich ebenfalls seine Teilnahme zugesagt, aber nun hatte ihn eine schwere Grippe mit hohem Fieber erwischt, so dass er die Reise nicht antreten konnte. Die Organisatoren änderten daraufhin spontan das Programm und auch ich beeilte mich, vor Reisebeginn zwei Seiten zu übersetzen. Nachdem wir im Konferenzraum Platz genommen hatten, war der wichtigste Punkt, dass wir uns gegenseitig vorstellten. Dadurch konnten wir nicht nur kurz das Wichtigste zum beruflichen Hintergrund jedes Übersetzers erfahren, sondern auch die Art und die Besonderheiten jedes einzelnen Teilnehmers einschätzen.

Interessanterweise hat das Goethe-Institut vor Ort alle zehn Übersetzer kontaktiert, sie haben sich nicht aktiv beworben. Die chinesischsprachige Welt ist aufgeteilt in die beiden Versionen mit traditionellen und vereinfachten Schriftzeichen. Bei dem ähnlich großen Indien erfolgt die Aufteilung in Bengali und Marathi. Außerdem sind noch dabei Vietnam, Thailand, Korea, die Mongolei, Japan und Sri Lanka.

Was das eigentliche Thema angeht, nämlich das Buch, das wir nun übersetzen sollten, so fiel die Wahl auf dieses Buch durch eine Abstimmung, die die zehn Goethe-Institute in der Region Ostasien durchgeführt hatten. Hinzu kam die E-Book-Kommunikationsplattform, die Unruhe und Unsicherheit auslöste. Hinsichtlich des Elements der Unsicherheit führte die mongolische Übersetzerin das Beispiel „Sauna mit großer Entfernung“ an und wies auf die große Frage hin, die so alt ist wie das Übersetzen selbst und auf die es bis heute keine Standardantwort gibt: soll man dem Sinn nach oder wörtlich übersetzen? Die Unruhe kam vor allem dadurch auf, dass wir alle im folgenden Jahr an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen sollten und uns rechtzeitig darauf einstellen mussten, die Hotelzimmer waren schon gebucht!
 

Das Merck Social Translating Projekt Foto: Yang Meng-Ru
Konkurrenz oder Zusammenarbeit?
Bei den zwei Tagen intensiver Diskussion war der Autor zwar nicht anwesend, aber nicht zuletzt durch die aktive Beteiligung der aus dem fernen Köln angereisten Redakteurin der Internetplattform fand diese in einer engagierten Atmosphäre statt mit einer großen Bandbreite an Themen. Über eine Videoschaltung konnten wir mit dem in Berlin lebenden Autor sprechen. Der Reichweite für Fragen, Antworten und Rückmeldungen auf der Plattform sollte begrenzt werden, nur die Beteiligten wurden benachrichtigt und es sollten keine Posts verbreitet werden, damit die beim Übersetzen des Buches unabdingbare Konzentration nicht gestört wurde.

Der für dieses großzügig durch den Pharmahersteller Merck geförderte und so noch nie dagewesene Projekt zuständige Mitarbeiter stieß auch zu uns und mit mir fünf Übersetzer lasen in ihrer jeweiligen Muttersprache eine frei gewählte Textpassage laut vor. Um 8 Uhr morgens deutscher Zeit saßen wir vor dem Laptopbildschirm und sprachen mit dem Autor Melle, wohingegen der Herr aus Dänemark lächelnd und mit dem Kopf auf die Hand gestützt aufmerksam zuhörte. Hatte er dabei wohl auch dieses merkwürdige Gefühl, die falsche Zeitkapsel geschluckt zu haben?

Wenn die Übersetzer für zehn verschiedene Sprachen gleichzeitig dasselbe Buch übersetzen, lässt es sich kaum vermeiden, dass dabei auch Konkurrenz aufkommt. Unter fröhlichem Gelächter verabschiedeten wir uns voneinander und bildeten anschließend eine Facebook-Gruppe aus sieben der zehn Übersetzer. Wir verstanden uns gut miteinander, machten uns gegenseitig Mut, aber vermieden es, über die zwischen den Zeilen lauernden Fallstricke zu sprechen. Wir waren fest entschlossen, die Aufgabe alleine zu Ende zu bringen.

„Die Welt im Rücken“ ist eine Autobiographie mit starkem experimentellem Charakter, worin der Autor schildert, wie er zweimal an bipolarer Störung litt. Er verwendet darin in großem Umfang in bestimmten Kreisen gängige kurzlebige Modewörter, es geht um prominente Leute in Künstlerkreisen, Berliner Straßenszenen kommen darin vor, inzwischen geschlossene Bars und Geschäfte wechseln sich ab. Eine ganze Seite lang geht es endlos um westliche Popmusik und Popstars, seitenweise werden innere Konflikte und Bewusstseinsstörungen beschrieben, die beim kleinsten Anlass auftreten, wie immer wiederkehrende schwer zu bezwingende Berggipfel.
 
Jetzt geht es los! Bleiben Sie auf Ihren Plätzen!
Im Vergleich zum Übersetzer gleicht die Rolle des Autors Melle noch mehr der eines im Ring stehenden Kämpfers, der dauernd parieren muss. Wir kämpften uns durch die aus seiner Feder stammenden Dornen hindurch und wurden auf der Internetplattform unsere konfusen Fragen los. Wenn seine Antworten uns dann nicht überzeugen konnten, lag das beste Gegenmittel tatsächlich darin, dass jeder sich seine eigene Version zurechtlegte. Denn das Übersetzen ist tatsächlich eine Form des Neu-Erschaffens!

Das Übersetzen ist wie ein Hindernislauf, bei dem die Übersetzer ihre Virtuosität unter Beweis stellen können. „Die Welt im Rücken“ ist zweifellos eine ideale Vorlage dafür und es blieb mir keine andere Wahl, als sie mit Fußnoten zu versehen. So wie es in der alten Redewendung heißt „alle fünf Schritte ein Gebäude, alle zehn Schritte ein Pavillon“, stießen wir dauernd auf Hindernisse, aber wir haben uns bemüht, für die Leser Licht in die Sache zu bringen, wobei uns gleichzeitig die Sorge umtrieb, das wir den Lesern neue Hürden in den Weg stellten.

Endlich hatte ich das Manuskript fertig und die Version in traditionellen chinesischen Schriftzeichen soll im Februar kommenden Jahres auf den Markt kommen. Im Oktober bei der Frankfurter Buchmesse wird der Autor gemeinsam mit den zehn Übersetzern erscheinen. Dieses Übersetzungsexperiment hatte eher den Charakter eines Abenteuers als den eines Spiels mit Wörtern, aber wer weiß - vielleicht wird es Funken schlagen, die wiederum etwas anderes Originelles bewirken werden? Warten wir es ab.