18. November 2016
Kriege, Konflikte und Migration – Herausforderungen für die Kulturarbeit

Vortrag vom Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h. c. Klaus-Dieter Lehmann

Einleitung

Gegenwärtig sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: Es sind 60 Millionen Geflüchtete, viele davon in Afrika. Fluchtursachen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, Naturkatastrophen, gewaltsame Konflikte oder die immer größer werdende Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung sind vielfältig, die Grenzen zwischen Flucht, Vertreibung und Migration fließend. In manchen Ländern tötet Gewalt im Alltag, hervorgerufen durch anhaltendes Elend und Bildungsarmut oder durch politische Unterdrückung mehr Menschen als viele Kriege derzeit. Und die Zerstörung der Natur ist längst zu einer sich anbahnenden Katastrophe geworden, verursacht durch wirtschaftliche Gier, die den beheimateten Menschen ihre Lebensgrundlage raubt. Die starre Unterscheidung von Migration und Flucht wird den bereits heute komplexen Problemlagen nicht mehr gerecht – entsprechend problematisch ist es, Migranten und Migrantinnen in Kriegs-, Wirtschafts-, Armuts- oder Klimaflüchtlinge einzuteilen. Der Begriff „Flüchtlinge“ suggeriert zunächst eine homogene Gruppe, doch das Gegenteil ist der Fall. Jeder Geflüchtete hat seine ganz persönliche Biografie, eigene Erfahrungen und Fähigkeiten, die seine Erwartungen bestimmen.

Der brasilianische Schriftsteller Luiz Raffato schreibt: „Das Trauma des Kappens der Wurzeln ist unglaublich schmerzhaft. Der Flüchtling trägt zu jeder Zeit das Gefühl des Nicht-Dazugehörens in sich, weshalb er seine Geschichte permanent neu begründen muss. Zu gehen heißt nicht nur, eine Landschaft zurückzulassen, Sprache, Ernährungsgewohnheiten, Lebensart, all dies. Zu gehen heißt vor allem, die Verbindung zu seinen Vorfahren zu kappen, die Kontinuität der Geschichte zu brechen.“

Herausforderungen für die Kulturarbeit

Auf politische und gesellschaftliche Umbruchssituationen – und dazu gehören die weltweiten Fluchtbewegungen mit ihren vielen Einzelschicksalen – muss die Kulturarbeit aktiv reagieren. Das Goethe-Institut ist mit seinen 160 Instituten in fast hundert Ländern tätig. Durch die wachsende Zahl von Krisen- und Konfliktregionen haben sich die inhaltliche Arbeit und die regionalen Schwerpunkte deutlich verändert. Kultur ist eben nicht die Spielwiese für Intellektuelle und Künstler. Sie ist ein essentieller Teil unserer Gesellschaften.

Flucht und Migration stellen die Kulturarbeit also vor neue Herausforderungen. Denn Kultur ist zwar identitäts-, nicht aber per se friedensstiftend. Sie kann auch zerstörerisch wirken, wenn kulturelle Identität als Waffe gegen andere eingesetzt wird. Das erleben wir beispielsweise bei dem fanatischen Fundamentalismus des IS, der bewusst die kulturellen Zeugnisse Andersdenkender zerstört. Das zeigt aber letztlich, wie zentral die Bedeutung von Kultur für die Menschen angesehen und anerkannt wird. Diese Bedeutung gilt es für Respekt, Wertschätzung und Solidarität zu gewinnen und nicht für Hass und Abschottung.

Nur mit gutem Willen und künstlerischen Ansätzen allein lassen sich gesellschaftliche Verwerfungen und radikale Positionen aber nicht verändern. Dazu gehören geeignete politische Rahmenbedingungen wie Rechtsstaatlichkeit und gemeinsame Überzeugungen für Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Dann kann sich Kultur öffnen und mitteilen, das Verbindende und das Trennende reflektieren und die Kulturen vergleichend und nicht vermessend und bewertend nebeneinander stellen.
 
Situation in Kolumbien

Im Sommer 2016 wurde Kolumbien laut UNHCR als das Land mit den meisten Fluchtbewegungen weltweit eingestuft – noch vor Syrien. In Kolumbien befinden sich demnach ca. 6,9 Millionen Menschen auf der Flucht – diese Menschen machen also mehr als ein Zehntel aller Geflüchteten weltweit aus. In Kolumbien sind es vor allem Binnenwanderungen, ausgelöst durch den bewaffneten Konflikt von Guerilla, paramilitärischen Gruppen und „Bacrims“ (kriminellen Banden), teils auch forciert durch den Drogenhandel. Es ist im Wesentlichen eine Landflucht in den – oft vermeintlichen – Schutz der Städte wie Bogotá, Medellín und Cali, mit denen sich die Geflüchteten schwer identifizieren und in denen sie sich nur schwer integrieren können. In Folge dessen sind in den letzten 70 Jahren illegale Siedlungen und Slums entstanden, mit einem großen Gefälle zwischen Arm und Reich, schlechter Infrastruktur und mangelnden Bildungschancen. In Folge dessen entsteht erneut Kriminalität, ein Teufelskreis!
 
Es lassen sich grob drei Phasen der innerkolumbianischen Vertreibungen ("desplazamientos") unterscheiden: 

  • 1948 bis Anfang der 80iger Jahre: Zeit der "Violencia", ausgelöst durch den Parteienkonflikt zwischen Liberalen und Konservativen; in diese Zeit fällt auch die Gründung der Guerilla; hier waren v.a. Bauern und Minderheiten wie Indigene und Afrokolumbianer von Vertreibung betroffen;
  • Hinzu kommen bis Ende der 90er Jahre: Aufkommen und Höhepunkt des organisierten Drogenhandels, Aufkommen verschiedener Kartelle aber auch der Paramilitäre; in dieser Zeit sind verschiedenste Bevölkerungsschichten von Flucht und Vertreibung betroffen
  • Hinzu kommt bis heute: Vertreibung als Konsequenz von Globalisierung (legaler und illegaler Rohstoffabbau, Infrastrukturprojekte, Waffenhandel etc.); erneut sind v.a. Minderheiten und sozial schwache Gruppen betroffen.
Ein aktuell sehr brisantes Politikum in den Verhandlungen um einen möglichen Friedensvertrag zwischen kolumbianischer Regierung und Guerilla (FARC) ist die Frage nach den Entschädigungen für Vertriebene bzw. auch danach, wer sich überhaupt zu dieser Opfergruppe laut Einschätzung der regierungsnahen Experten zählen kann.
 
Neben den Binnenfluchtbewegungen sind im aktuellen geopolitischen Gefüge aber auch Migrationsbewegungen nach Kolumbien zu verzeichnen, aus anderen südamerikanischen Ländern wie Venezuela und Argentinien, aus Afrika und zuletzt auch speziell aus Kuba.

Der traditionelle Zuzug aus Ecuador und Peru hat in den letzten Jahren abgenommen angesichts der politisch und wirtschaftlich stabiler gewordenen Lage in diesen zwei Ländern. 

Kolumbien hat in den letzten Jahren, in denen sich zumindest in den touristischen und städtischen Zentren die Gewalt ansatzweise gelegt hat und dazu ein möglich gewordener Friedensprozess diskutiert wird, für Ausländer aus westlichen Ländern an Attraktivität gewonnen; heutzutage leben deutlich mehr Ausländer in Kolumbien als noch in den 90er Jahren.

Andererseits sind in diesen sieben Jahrzehnten auch Teile der intellektuellen Elite mit der Hoffnung auf bessere Zukunftschancen ins Ausland abgewandert. Insbesondere in den letzten fünf Jahren sind jedoch viele von ihnen - und dies macht Hoffnung -nach Kolumbien zurückgekehrt, um ihr Land mit aufzubauen und an einer möglichen Post-Konflikt-Ära mitzuwirken.
 
Initiativen des Goethe-Institut Kolumbien

Das Goethe-Institut Kolumbien hat sich in seinen Programmen immer wieder dem Themenfeld Flucht und Migration gewidmet. Ich möchte exemplarisch einige Aktivitäten nennen: Unter der Institutsleiterin Kristiane Zappel hat das Goethe-Institut wichtige Diskussionsforen zum Thema „Opferentschädigung“ und „Demokratie“ in Kolumbien initiiert und sich damit im Land großen Respekt verschafft. Seit 2013 hat Katja Kessing verschiedene Projekte zu den Themen “Memoria”, “Versöhnung” und “Frieden” in allen künstlerischen Sparten gestartet, die 2017 und 2018 in einem größeren, auf Südamerika ausgerichteten Projekt münden werden. Ein regionales Projekt zum Thema „Migration“ gemeinsam mit anderen südamerikanischen Goethe-Instituten ist für das nächste Jahr geplant. Gemeinsam mit EUNIC Bogotá (Zusammenschluss europäischer Kulturmittler), dessen Präsidentschaft das Goethe-Institut Kolumbien innehat, ist geplant, parallel zum europäischen Filmfestival „Eurocine“ im April 2017 ein Rahmenprogramm zum Thema „Inklusion/Exklusion“ zu erarbeiten, wo einer der Schwerpunkte sicherlich auch „Migration“ sein wird. Geplant sind Filmreihen, Diskussionsforen, eine Ausstellungsreihe am Institut und mehr.
 
Flüchtlinge in Deutschland

Wechseln wir die Perspektive und blicken nach Deutschland:

Am Anfang des neuen Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg standen Flucht und Vertreibung. Hunderttausende flohen im Winter 1944/1945 vor der Roten Armee nach Westen. Die deutschen Ostprovinzen wurden auf der Potsdamer Konferenz von den Alliierten endgültig Polen zugeschlagen. Bis zu 14 Millionen Menschen mussten ab 1945 ihre Heimat verlassen.

Ich habe diese Flucht aus Breslau im Januar 1945 als Vierjähriger mit meiner Mutter überstanden, unterwegs nur mit dem Notwendigsten in einem bitterkalten Winter, immer wieder beschossen von Tieffliegern, ausgezehrt von Hunger und Kälte. Meine neue Heimat habe ich In Bayern gefunden. Viele Kinder und alte Menschen starben auf der Flucht. 1950 lebten 8 Millionen Flüchtlinge in der Bundesrepublik und 4 Millionen in der DDR. Deutschland war bis zur Wiedervereinigung 1990 ein geteiltes Land, getrennt durch Stacheldraht und Mauer. Durch die Bevölkerungsverschiebungen verdoppelten einige Regionen in Deutschland ihre Einwohnerzahl, in der Nachkriegszeit flohen auch immer wieder Menschen aus der DDR nach Westdeutschland.

Die wirtschaftliche und soziale Integration vollzog sich in einem langen Prozess. Die Flüchtlinge stießen zunächst auf Ablehnung und Verachtung – Flüchtlingspack. Gezielte Integrationsmaßnahmen gab es kaum. Aber die Vertriebenen brachten einen großen Aufbauwillen mit. Gemeinsam mit den Einheimischen entwickelte sich durch den Wiederaufbau in Westdeutschland das sogenannte Wirtschaftswunder. Das war die beste Voraussetzung für eine gefestigte Integration. Die Durchmischung ist gelungen und Trennlinien existieren nicht mehr.

Die Wiedervereinigung 1990 hat aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Niveaus wiederum zu einer Binnen-Wanderbewegung von Ost nach West geführt. Nach Jahrzehnten hatten die Deutschen wieder in Freiheit und Einheit zusammen gefunden. Auch wenn die politischen und ökonomischen Aspekte die öffentliche Diskussion bestimmten, so war dieser Prozess mit seiner klaren Willensbildung nur denkbar auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses, das durch Sprache und Kultur gegeben war. 26 Jahre nach der Wiedervereinigung sind inzwischen die Entwicklungen positiv zu beurteilen und entsprechen einer natürlichen Mobilität.

Deutschlands demographische Veränderungen werden aber längst nicht mehr von Binnenfluchtbewegungen bestimmt. Deutschland ist bereits seit längerem ein Zuwanderungsland. 20 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln leben und arbeiten hier, darunter auch Künstler und Kulturakteure, die eine aktive Rolle in der Gestaltung unserer Gesellschaft übernehmen. Eine neue Dimension hat die Migration 2015/2016 erreicht, als innerhalb eines Jahres rund 800 000 Flüchtlinge in Deutschland Aufnahme suchten. Nicht nur die Größenordnung und die Geschwindigkeit sind außergewöhnlich, sondern auch die Umstände. Denn ein Großteil stammt aus Kriegs- und Krisengebieten mit erschütternden Einzelschicksalen,  und viele sind auf unvorstellbar auszehrenden Landwegen durch Afrika über das Mittelmeer nach Europa gelangt.

Eine beeindruckende Willkommenskultur als humanitäre Soforthilfe hat das Bild Deutschlands in der Welt nachhaltig geprägt. Allerdings hat man zu spät reagiert, um eine europäische Lösung abzustimmen. Ein gemeinsames europäisches Vorgehen bleibt aber unverzichtbar, weil nur so dem Strom von Flüchtlingen menschenwürdig begegnet werden kann und sich Solidarität, Humanität, Anerkennung und Respekt als europäische Werte vermitteln lassen.

Aus diesem Grund muss auf die vielbesagte Willkommenskultur  eine Kultur der Teilhabe folgen. Flüchtlinge wollen nicht nur als Opfer gesehen werden, sondern  Teil der für sie neuen Gesellschaft sein. Sicher werden die meisten Geflüchteten zunächst aufatmen, aus lebensbedrohenden Krisen- und Kriegsgebieten entkommen zu sein und sich in Sicherheit zu befinden. Aber spätestens nach einem halben Jahr werden die Fragen nach der Zukunft drängender, nicht nur für die eigene Person, sondern auch für ihre Familien.

Das Goethe-Institut hat mit einer Vielzahl von Projekten sowohl in Deutschland als auch in den Herkunftsländern der Geflüchteten auf die Herausforderungen reagiert und leistet einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Flüchtlingssituation.

Vor allem der Spracharbeit kommt dabei als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe eine besondere Rolle zu. In Deutschland sind die zwölf deutschen Goethe-Institute wichtige Vermittler. Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit (BA), dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Bayerischer Rundfunk haben wir zudem eine App für neu in Deutschland ankommende Geflüchtete entwickelt, die kostenlos für Android- und Apple-Geräte heruntergeladen werden kann. Der aktuelle Stand von mehr als  200.000 Downloads macht deutlich, welchen Bedarf es bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen zur Verständigung in Alltagssituationen gibt. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Stiftungen hat das Goethe-Institut ein umfassendes Sprachkursangebot speziell für hochqualifizierte Geflüchtete erarbeitet, um ihnen durch Intensivkurse den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Ergänzend bieten wir Einführungskurse für ehrenamtliche Lernbegleiter an, die noch keine oder wenig Erfahrung in der Spracharbeit mit Geflüchteten mitbringen, und stellen Informationen und Materialen zum Thema Deutsch als Fremdsprache zur Verfügung.

Gleichzeitig setzen wir auf Kultur: Beispielhaft war das Projekt „Goethe-Institut Damaskus im Exil“. Das Goethe-Institut Syrien musste 2012 aufgrund der Sicherheitslage schließen. Für zweieinhalb Wochen haben wir in Berlin einen Raum für den Kulturaustausch mit syrischen Künstlerinnen und Künstlern in einem Ladenlokal im Pop-Up-Format eröffnet. Die Themen Heimat, Flucht und Vertreibung bildeten den roten Faden für ein großartiges Programm mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und Debatten. Viele Menschen, die dem Goethe-Institut Damaskus verbunden waren, mussten das Land verlassen und leben nun im europäischen Exil, zumeist in der Hoffnung, eines Tages nach Syrien zurückkehren zu können.  Dieser Hoffnung gab das Projekt „Goethe-Institut Damaskus im Exil“ einen Raum.

Einen zivilgesellschaftlichen Ansatz verfolgt die Initiative „Islamische Gemeinden als kommunale Akteure“, die in Kooperation mit dem Goethe-Instituts und der Robert Bosch Stiftung das Ziel verfolgten, die Kompetenzen ehrenamtlich engagierter Männer und Frauen aus muslimischen Gemeinden in Deutschland, die vertrauensvolle und meinungsbildende Funktionen im Gemeindeleben erfüllen, zu stärken und sie besser mit kommunalen Institutionen zu vernetzen. Zudem gibt es das Projekt „Interkulturelle Qualifizierung von Imamen“, das vom Goethe-Institut in enger Kooperation mit den marokkanischen Gemeinden in Deutschland sowie der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland durchgeführt wird.

Mit dem „Cinemanya“-Filmkoffer für geflüchtete Kinder und Jugendliche stellt das Goethe-Institut Flüchtlingsunterkünften eine Auswahl an Filmen bereit. In den Koffern befinden sich 18 Langfilme mit arabischen und deutschen Untertiteln oder Sprachfassungen sowie 2 Animations- und Kurzfilmprogramme mit nonverbalen Filmen. Begleitend dazu gibt es ein pädagogisch aufbereitetes Filmhandbuch.

Unter dem Motto „Einfach Lesen!” hat das Goethe-Institut eine sechsteilige deutsch-arabische Kinderbuchreihe produziert, während das Projekt „Einfach Hören!” fünf Podcasts vorstellt, die in Zusammenarbeit mit der Plattform Qantara.de auf Arabisch eingespielt wurden. Mit beiden Projekten möchte das Goethe-Institut den Erstkontakt mit der neuen Sprache erleichtern und fördern, Kindern und Jugendlichen Einblicke in die Lebenswelt deutscher Kinder geben und für einen Moment Ablenkung bieten.
 
Aktivitäten des Goethe-Instituts in Krisenländern

Als international tätige Organisation hat das Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit Flüchtlingsorganisationen in den Lagern des Nahen Ostens und der Türkei seit 2013 damit begonnen, Kultur- und Bildungsprojekte zu realisieren, die besonders Kindern und jungen Erwachsenen sinnvolle Beschäftigungen vermitteln, das Erlebte verarbeiten helfen und kreative Alternativen entwickeln lassen. Unser Ziel ist zu verhindern, dass eine „verlorenen Generation“ entsteht: Während wir mit einem Kulturproduktionsfonds syrische Künstler als Akteure in Flüchtlingslagern motivieren wollen, zeigt ein Projekt, das im türkischen Flüchtlingslager Mardin nahe der syrischen Grenze mit Mitteln der Zirkuspädagogik traumatisierte Kinder und Jugendliche auf neue Gedanken bringt und ihnen hilft, neuen Mut zu fassen, dass auch unter schwierigen Bedingungen neue Perspektiven entstehen können.

Ermöglichung von kultureller Infrastruktur – auch zur Bekämpfung von Fluchtursachen

Max Frisch sagte einmal: „Heimat ist unerlässlich, aber sie ist nicht an Ländereien gebunden. Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen.“ Wie viel Heimat braucht der Mensch? Ich bin der Ansicht: Nicht alle Menschen sind Nomaden. Deshalb bildet neuerdings der Auf- und Ausbau von kultureller Infrastruktur und von digitalen Netzwerken und Plattformen einen besonderen Schwerpunkt – als vielfältigen Zugang zum Wissen, zum kulturellen Erbe und zur Qualifizierung von Kulturschaffenden. Durch die soziale Kraft der Kultur und die stabilisierende Wirkung von Bildung können auch Fluchtursachen bekämpft und eigenständige Gestaltungsräume in den jeweiligen Ländern geschaffen werden. In Afrika baut das Goethe-Institut besonders intensiv solche interregionalen Netzwerke auf.

Hierzu einige Beispiele:

Moving Africa führt künstlerische Talente über Ländergrenzen hinweg zusammen, organisiert Festivals in Städten und macht sie international sichtbar. So stärken sie ihre eigenen Länder. Music in Africa ist eine digitale Plattform, die das Goethe-Institut mit seinen 25 Instituten in Subsahara-Afrika gemeinsam mit der Siemensstiftung geschaffen hat, die die zeitgenössische afrikanische Musik zugänglich macht, die Biografien der Musiker vermittelt und Ausbildungsinhalte anbietet. Bis 2018 werden alle afrikanischen Länder beteiligt sein. Damit gibt es feste Arbeitsstrukturen und sowohl eine künstlerische als auch ökonomische Zukunft. Mokolo ist eine Internetplattform für den afrikanischen Film. Centers of Learning for Photography in Africa ist das neueste Projekt. Es soll jungen Menschen als Aus- und Fortbildungsstätte eine Qualifizierung in den Bildmedien geben, zugleich werden die Zentren über eine digitale Plattform vernetzt.

Die Beispiele zeigen, dass mit Kulturnetzwerken die Zivilgesellschaft gestärkt werden und durch die positiven Erfahrungen Eigenverantwortung gefestigt werden kann. Wichtig ist dabei die Kombination von realen Orten der Goethe-Institute als Frei- und Dialogräume mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten, um Reichweite und Austausch zu erzielen. Das Goethe-Institut ist Ermöglicher und gesuchter Partner und baut damit nachhaltige Bindungen auf.

Nachhaltige Stadtplanung

In diesem Zusammenhang sind auch die Projekte des Goethe-Instituts im Bereich Urbanismus und nachhaltiges Bauen zu sehen.

Der öffentliche Raum ist eine Plattform gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Grundpfeiler demokratischer Lebensform – weltweit. Auf dem öffentlichen Raum liegen große Hoffnungen: Er ist der Ort, an dem Zukunft verhandelt wird. Darüber wird im Ausland ebenso leidenschaftliche diskutiert wird in Deutschland. Ich habe eingangs gesagt, dass durch die Migration in städtische Ballungsräume überall auf der Welt Armenviertel entstehen.

Im Fokus der Kulturprogramme des GI stehen auch deshalb nicht die Investoren und Makler, sondern die Bürgerinnen und Bürger, die Künstlerinnen und Künstler und die lokalen Verantwortlichen zum Beispiel in Co-Working-Spaces oder nachbarschaftliche Kooperativen – auch in Problemvierteln. Sie alle wollen ihr Umfeld, ihre Stadt lebenswert gestalten.  Mit ihnen zusammen entstehen Workshops, Ausstellungen und Kunstprojekte, Installationen und Projekte im öffentlichen Raum. Es geht um das Recht auf öffentlichen Raum, um Partizipation, das Kuratieren von Stadt, die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner. Es geht um informelles, aber auch nachhaltiges, umweltgerechtes Bauen in einem mehrfachen Sinn – denn mit Umwelt meint das Goethe-Institut – neben den Reaktionen auf den Klimawandel – auch die menschliche und soziale Umwelt.

Die genannten aktuellen Migrationsbewegungen in Europa machen nur einen kleinen Teil der Migrations- und Flüchtlingsströme der ganzen Welt aus. Wir haben gesehen, dass auch Länder wie Kolumbien wesentlich betroffen sind. So auch Afrika.

Die Hälfte der Bevölkerung Afrikas ist 18 Jahre und jünger, bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung auf über 2 Milliarden verdoppeln. Die Stadtbevölkerung wächst mehr als doppelt so schnell wie die Landbevölkerung. Über die Hälfte der Bevölkerung in Afrika lebt mittlerweile in Städten. Während es in Europa 32 Millionenstädte gibt, sind es in Afrika fast 50: Es entstehen Megastädte durch einen rasanten Bauboom – daher ist es ist eine zentrale Aufgabe von Architekten und Stadtplanern, Lösungen für Wohn- und Lebensräume für die Gesamtheit der Bevölkerung zu entwickeln.

Das Goethe-Institut greift die Themen Architektur und Stadtentwicklung an vielen seiner 160 Standorte weltweit auf und stellt Verbindungslinien mit überregional angelegten Projekten her. So kann man Erfahrungen bei der Weiterentwicklung informeller Siedlungen in Johannesburg, Bogotá und Seoul vergleichen. In Brasilien geht es seit Jahren um mehr öffentliche Mitsprache bei Bauprojekten, eine Forderung, die von bürgerschaftlichen Initiativen von New York bis Berlin ebenfalls gestellt wird. Das Potenzial kultureller Akteure für die Reaktivierung von ungenutzten Stadträumen spielt in Südosteuropa eine wichtige Rolle, ebenso wie der Umgang mit Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Die dabei entstehenden Projekte vernetzen Akteure auch über Ländergrenzen hinweg und sind oft auf mehrere Jahre angelegt – Nachhaltigkeit steht im Mittelpunkt. Sie setzen sich mit urbanen Entwicklungen genauso auseinander wie mit deren Kehrseite, den zunehmenden Strukturproblemen im ländlichen Raum.

Migrationsprozesse in Europa

Ich möchte abschließend noch einen Blick nach Europa richten. Für das Goethe-Institut ist und bleibt Europa eine vorrangige Aufgabe – es ist seine kreative Basis. In einer Situation, in der das bevorzugt auf Ökonomie und marktwirtschaftliche Prinzipien basierende Verständnis Europas Gefahr läuft, eine Zerreißprobe zu erleben – nicht nur, aber auch wegen der „Flüchtlingskrise“, wird die Relevanz des „kulturellen Europas“ und seiner Dialogfähigkeit augenfällig. Die Goethe-Institute in Europa spielen dabei eine aktive Rolle. Sie fördern die Mehrsprachigkeit als kulturellen Wert. Die jungen Europäer haben gemerkt, dass das Versprechen Europas, die Pluralität, die Offenheit und die Freizügigkeit einer freien Berufswahl, des Wohnortes und der Niederlassungsmöglichkeiten, nicht nur eine reizvolle Lebensperspektive ist, sondern genutzt werden kann, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, auch in Notzeiten Optionen zu haben. So wie es beispielsweise die jungen Menschen in Südeuropa gemacht haben als die Jugendarbeitslosigkeit sie ihrer Perspektiven beraubte. Sie haben Sprachen gelernt, sind in Länder gegangen, in denen sie berufliche Chancen hatten und haben sich qualifiziert. Die Goethe-Institute haben diesen Weg unterstützt durch einen gezielten Spracherwerb im Ursprungsland und in Deutschland, häufig mit Unterstützung von Stiftungen und Unternehmen, in Kooperation mit der Arbeitsvermittlung, so dass am Ende eine berufliche Position stand. Kein Europäer soll sich in einem europäischen Land als Fremder fühlen!

Dies ist eine Außenpolitik der Zivilgesellschaften im Sinn eines Verständigungs- und Regelwerks für einen verantwortungsbewussten Dialog, bei dem Bildung und Kultur eine fundamentale Bedeutung haben. Ohne kulturelles Verständnis, ohne Dialogfähigkeit wird unsere Welt immer weniger lesbar. Es braucht Menschen, die sich dem Dialog aussetzen, mit der Fähigkeit des Umgangs mit kulturellen Unterschieden. Auch – und gerade in von Flucht und Migration geprägten Zeiten.

Es gilt das gesprochene Wort.

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