Ethnofetischismus – oder die Banalität der Ideen
Dies sind einige der Fragen, die wir mit Tahir Herenda, Senior Research and Teaching Assistant an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Sarajevo, diskutiert haben. Für seine Doktorarbeit hat er sich intensiv mit den Verhandlungen rund um das Dayton-Friedensabkommen befasst, mit damaligen Beteiligten gesprochen und ist Autor des dokumentarischen Theaterstücks “ Don’t Dream Dreams”, das am 22. November 2025 in Sarajevo Premiere hat.
F: Was hat Sie beim Lesen all dieser Dokumente, Bücher und Sekundärliteratur über die Friedensverhandlungen am meisten beeindruckt?
Tahir Herenda: Oh, das ist eine schwierige Frage. Als ich mit dem Lesen begann, fiel mir vor allem auf, wie wenig Bedeutung die Verfassung in den Verhandlungen hatte, insbesondere in Dayton.
Es waren 21 Tage Verhandlungen. Das Thema Nummer eins war das Territorium, wo Sarajevo liegen würde, wo Goražde oder Brčko, wie man zu 51 zu 49 Prozent[1] kommt, das war das Hauptthema. Dann gab es verschiedene Fragen zur Umsetzung, die offenbar Vorrang vor den Verhandlungen über die Verfassung hatten, z. B. wer für den militärischen Aspekt zuständig sein würde, wer für den zivilen Aspekt, wie die polizeiliche Unterstützung aussehen würde – all diese kleinen, winzigen Details, die natürlich wichtig sind, aber Vorrang vor der Verfassung hatten.
Ich werde versuchen, Carl Bildt[2] zu zitieren oder zu paraphrasieren. Er sagte, wichtige Verfassungsdetails seien mit Nonchalance behandelt worden. Ich glaube, das ist ein genaues Zitat. Außerdem sagte er, dass sie an einer Stelle einen Fehler gemacht hätten, indem sie keine römischen Ziffern, sondern arabische Ziffern verwendet hätten, was in der Verfassung eine ganz andere Bedeutung hatte.
Man sieht also, dass dies in den letzten Tagen der Verhandlungen irgendwie durchgedrückt wurde. Und wenn man sich dann ansieht, wie kompliziert diese Verfassung ist, denkt man sich: OK, wenn man eine so komplizierte Struktur schaffen will, wird man wahrscheinlich nicht die beste Verfassung erhalten, wenn man darüber als eine Art drittranigiges Problem in einem Umfeld mit sehr hohen Einsätzen und hohem Druck verhandelt. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste, der größte Schock, den ich erlebt habe.
Der zweitgrößte Schock ist vielleicht, dass all dies tatsächlich geschah, weil Clinton innenpolitisch in einer Art Zwickmühle steckte. Die Republikaner verloren 1994 die Wahl, der Senat war gegen ihn, der Kongress war pro-bosnisch, sie setzten ihn unter Druck. Ich denke also, dass die Lösung des Bosnienkrieges das Einzige war, was er tun konnte, da die gesamte Innenpolitik vom Kongress blockiert worden wäre und das internationale Feld für ihn das einzige bedeutende Thema war.
Ich muss sagen, es ist deprimierend zu wissen, dass der Krieg gewissermaßen davon abhing, dass Clinton ein persönliches Interesse an der Wahl hatte.
Die Banalität der Ideen
Was allgemein bekannt ist, mich aber dennoch irgendwie beeindruckt, ist, dass sich Dayton nicht wirklich wesentlich von allen anderen Friedensplänen unterscheidet, von denen ich zuvor gehört habe. Die Grundprinzipien von Dayton sind die Grundprinzipien von Lissabon[3]. Nach Lissabon gibt es eine Pfadabhängigkeit, bei der sich alle internationalen Juristen innerhalb dieses von Cutileiro und seinem Team geschaffenen Terrain bewegen, in dem der Ethno-Föderalismus, die starre Machtteilung und all das während dieser Verhandlungen entstanden sind. Alle anderen folgten dann einfach diesem Weg. Die Banalität der dort vertretenen Ideen war für mich eine weitere wichtige Überraschung.Eine weitere Überraschung war, wie wenig Bedeutung die bosnischen Kroaten und bosnischen Serben während der Verhandlungen hatten. In den letzten Tagen behandelt Milosević[4] die bosnischen Serben wie ein Ärgernis. Er teilt keine Dokumente mit ihnen. Es gibt Berichte, dass Nikola Koljević in Dayton nichts anderes tat als zu trinken, weil er nichts anderes zu tun hatte. Er beschwerte sich bei Carl Bildt, dass Milosević ihm nicht erlaubte, das Telefon oder das Faxgerät zu benutzen. Ich meine, die Verfassung und das gesamte Abkommen wurden bis zu einem gewissen Grad allen aufgezwungen. Aber die bosnischen Serben und bosnischen Kroaten beteiligten sich viel weniger als die Bosniaken an diesen Verhandlungen. Auch die bosnischen Kroaten wurden an den Rand gedrängt. Tudjman war so etwas wie der große Boss der kroatischen Delegation. Irgendwann wollte sogar Krešimir Zubak[5] das Abkommen nicht unterzeichnen. Da sagte Tudjman[6]: OK, du musst es nicht unterzeichnen. Es stand also sehr stark unter der Kontrolle von Belgrad und Zagreb.
Ich komme aus einer muslimischen Familie, man hört immer diese Geschichten, es sind nur Belgrad und Zagreb, die haben alles kontrolliert. Man wird erwachsen und denkt, dass es nicht so einfach sein kann. Man will ihnen nicht glauben, weil es zu simpel und nationalistisch erscheint. Es muss viel komplexer sein. Aber dann stellt sich heraus, dass es wirklich so war. Das wären, spontan gesagt, Überraschungen oder wichtige Schlussfolgerungen, die ich aus meiner Forschung gezogen habe.
Der Fetischismus in Bezug auf Nationalstaaten war noch immer lebendig
F: In seinem Buch „The Unfinest Hour. Britain and the Destruction of Bosnia” bezeichnet der Historiker Brendan Simms das Dayton-Friedensabkommen als das Ende oder das Ergebnis einer zynischen westlichen Haltung gegenüber Bosnien und Herzegowina und wirft insbesondere Großbritannien und westlichen internationalen Akteuren im Allgemeinen, aber speziell Großbritannien, vor, sich zu sehr auf die Ethnopolitik konzentriert zu haben, um ihre eigene Beschwichtigungspolitik zu rechtfertigen.Tahir Herenda: Ja, ich bin ein großer Fan von Brendan Simms. Ich denke, dass es insbesondere in Großbritannien einen historischen Reflex gibt, solche Konflikte durch die ethnische Brille zu betrachten.
Wenn man liest, wie sowohl Briten als auch Franzosen über [den Krieg in Bosnien] gesprochen haben, würde ich sagen, dass der Balkankonflikt der 90er Jahre fast durch die Brille des Nationalismus des 19. Jahrhunderts betrachtet wurde, als eine Art unvollendetes Projekt des Staatsaufbaus mit einer klaren ethnischen Trennung zwischen diesen verschiedenen Gruppen. Die Imperien der Welt sind noch immer nicht vollständig zerfallen, daher muss es diese klaren Abgrenzungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen geben. Dieser Fetischismus in Bezug auf den Nationalstaat, der im 19. Jahrhundert entstand, war meiner Meinung nach in den 1990er Jahren noch sehr lebendig.
Es scheint, dass in den Jahren vor den 1990ern all diese Ideen der Nachkriegszeit zu Menschenrechten, individuellen Rechte und so weiter irgendwie beiseite geschoben wurden und dieser Pragmatismus des 19. Jahrhunderts die Oberhand gewann. Brendan Simms hat definitiv Recht, wenn er die Schuld diesem britischen Pragmatismus zuschreibt, der die Situation durch diese vereinfachende Brille betrachtet, die die ethnische Zugehörigkeit betont. Aber dasselbe gilt meiner Meinung nach in gewissem Maße auch für Mitterrand[7]. Ich glaube, Mitterrand sagte 1991 einmal, ich paraphrasiere ihn, es sei wieder wie 1914. Es sei wie im Ersten Weltkrieg. Auf der einen Seite stünden die Serben, die Engländer und die Franzosen, auf der anderen Seite die Deutschen und die Kroaten. Es gibt auch diese Allianzen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die ihre Sicht auf das Geschehen vernebelt und zu einer selektiven Blindheit beigetragen haben, insbesondere in Bosnien. Denn wenn man sich Bosnien im Jahr 1992 ansieht, dem wahrscheinlich schlimmsten Jahr des Krieges, dann ist das das Jahr des Krieges, in dem man immer noch diese erzwungene Gleichheit zwischen den Seiten hat, diese moralische Gleichwertigkeit der Seiten.
F: Als der Krieg begann, war Bosnien und Herzegowina von der Europäischen Gemeinschaft als unabhängiger Staat anerkannt worden und wurde wenige Wochen später, im Mai 1992, als Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. Gab es auch eine andere Sichtweise unter den internationalen Akteuren, in dem Sinne, dass es eigentlich nicht drei Seiten gibt, sondern vielleicht nur zwei, und dass wir den einen multiethnischen Staat Bosnien schützen müssen, der angegriffen wird?
Tahir Herenda: Ich habe nicht eingehend recherchiert, was 1992 von allen gesagt wurde, aber 1992 schienen die Europäer dieser ethno-nationalistischen Linie zu folgen, dass man den verschiedenen Menschen, die dort leben, entgegenkommen müsse. Bevor die Badinter-Kommission ihre Entscheidung traf, spielten Mitterrand und Douglas Heard, der britische Außenminister, mit dem Gedanken, dass man vielleicht die Grenzen neu ziehen sollte, dass diese Grenzen nicht heilig seien usw. Ich habe von den Europäern nichts gehört, was darauf hindeuten würde, dass bürgerstaatliche, säkulare Werte geschützt werden sollten. Die Beschützer dieser bürgerlichen, säkularen Werte waren die Amerikaner. Die amerikanische Position war im Allgemeinen gegen diesen Ethno-Territorialismus und diesen Fetischismus in Bezug auf die nationale Zugehörigkeit. Walter Zimmerman, der damalige US-Botschafter in Jugoslawien, riet Izetbegović[8], den Cutileiro-Plan nicht zu unterzeichnen, gerade weil die Amerikaner diesen Präzedenzfall des Ethno-Territorialismus, der im Grunde genommen die Zerstückelung dieses neuen Staates entlang ethnischer Grenzen bedeutete, nicht mochten. Sie waren der Meinung, dass dies einen schlechten Präzedenzfall schaffen würde. Die Amerikaner waren also vielleicht nicht offen pro-säkular und pro-bürgerstaatlich, aber sie waren definitiv gegen die vorherrschende ethnische Teilung Bosniens. Wenn man sich jedoch die Jahre 1994-1995 ansieht, akzeptieren sie dies als Spielregel.
Die „internationale Gemeinschaft” hat es vermasselt
F: Sie haben erwähnt, dass Cutileiro irgendwie als Erster mit ethno-territorialen Prinzipien aufwartete und dann alle anderen Friedenspläne diesen Linien folgten, es ist eine Art Pfadabhängigkeit. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn Cutileiro – oder jemand anderes – ein anderes Verständnis von Bosnien, von der Natur des Konflikts gehabt hätte.Tahir Herenda: Oh ja – was wäre dann passiert? Das ist eine Millionen-Dollar-Frage. Radovan Karadžić[9] sagte tatsächlich in einer der Sitzungen der sogenannten Nationalversammlung des serbischen Volkes in Bosnien, ich habe den vollständigen Namen auf Englisch vergessen, dass die internationale Gemeinschaft wirklich Mist gebaut hat. ‚Sie haben uns als Verhandlungspartner akzeptiert. Hätten sie einfach gesagt, dass es sich um Rebellen handelt, die gegen ihre eigene Regierung kämpfen, wären wir erledigt gewesen. Dies wird das erste Mal sein, dass die internationale Gemeinschaft die Auflösung eines anerkannten Staates akzeptiert.‘ Das ist meine Zusammenfassung einiger seiner verschiedenen Reden. Appeasement ist hier das Schlüsselwort. Die Europäer wollen sich nicht in dieses ganze Chaos einmischen.
Es gibt auch ein Zitat von Otto von Bismarck, der sagte, der Balkan sei nicht einmal die Knochen eines guten pommerschen Grenadiers wert, oder so ähnlich. Man will nicht dorthin gehen und das Leben seiner Leute riskieren, um einen undurchsichtigen Balkankonflikt zu lösen, der in zehn bis 15 Jahren einfach wieder aufflammen wird. Es gibt also diesen Rassismus, mir fällt kein besseres Wort ein, der meiner Meinung nach irgendwo in den Köpfen der Menschen steckt.
Und es ist auch wieder Pragmatismus, denn wenn man den Krieg beenden will, betrachtet man, welche Seiten was wollen. Was die Leute mit den Waffen wollen. Und man belastet sich nicht mit Überlegungen, ob und wie das funktionieren wird, , ob das mit unseren Prinzipien vereinbar ist. Man weiß, dass man nicht dorthin gehen will, man will keine Ausgaben tätigen, das Leben seiner Leute riskieren, man will nicht riskieren, in eine volatile Situation verwickelt zu werden- Also ist der einfachste Ausweg, herauszufinden, was diese Leute wollen, und zu versuchen, es ihnen zu geben. Und wenn das gegen einige ihrer Prinzipien verstößt, nun, Pech gehabt.
Ich bin auf niemanden gestoßen, der auf die Idee gekommen wäre, „lasst uns versuchen, die bürgerlichen und säkularen Werte dieser drei zusammenlebenden Volksgruppen bewahren“. Ich sehe jedenfalls nicht, dass dies in Europa geschieht. Die Amerikaner, damals die Bush-Regierung, waren der Meinung, sich aus diesem Konflikt heraushalten zu müssen.
Als jemand, der hier lebt, werde ich natürlich auf einer bestimmten Ebene emotional über diese Geschichte und sehr traurig darüber, wie jeder andere auch. Das Schlimmste an Dayton ist: Wenn es nach der Bombardierung von Dubrovnik und Vukovar eine aggressive Reaktion mit Tomahawk-Raketen oder ähnlichem gegeben hätte, hätte man sich damals zusammensetzen und eine Lösung finden können. Und vielleicht wäre die Lösung dann nicht so ethno-fetischistisch ausgefallen wie diese. Die Balkanregion als rückständig zu behandeln, ist auch so ein Problem. Es passiert etwas, und es ist eine Art zweitrangiges Problem: „Wir müssen uns nicht voll engagieren, versuchen wir, so wenig wie möglich zu tun, damit sie aufhören.“ Das sollte man auch im Hinterkopf behalten.
F: Sind Sie persönlich enttäuscht?
Tahir Herenda: Natürlich, ja. Ich meine, das versteht sich von selbst. Ich weiß nicht, inwieweit die Perspektive von uns Menschen, die wir während oder nach dem Krieg geboren wurden und keine andere Art von Bosnien kennen als diese, derzeit geschätzt wird. Wenn ich meinen Eltern oder anderen aus der Generation vor mir zuhöre, sagen sie immer: „Man wusste nicht, welche Nationalität oder Religion jemand hatte, wir haben alle alles zusammen gemacht“, bla bla bla, und dann wächst man in einem vom Krieg zerrütteten Land mit einer sehr, sehr komplizierten Verfassung auf und muss sich fragen: Mann, das hätte auch anders gemacht werden können, das ist nicht der einzige Weg. Natürlich, persönlich, ganz abgesehen von der Zahl der Todesopfer und der Zahl der traumatisierten Menschen, ist die Tatsache, dass wir diese drei ethnischen Realitäten leben, die sich auf so kleinem Raum mit so vielen gemeinsamen Problemen gegenseitig auszuschließen scheinen, und unsere Unfähigkeit, diese gemeinsamen Probleme zu sehen – es ist sehr schwer, nicht zynisch, sarkastisch und ironisch zu werden darüber, worüber wir hier sprechen, denn ich denke, Zynismus ist die einzige rationale Reaktion auf das, was geschieht. Wenn man nicht zynisch ist, ist man einfach nur geradewegs enttäuscht oder abgestumpft.
F: Haben Sie unter den internationalen Akteuren jemanden gefunden, der ebenfalls enttäuscht oder kritisch gegenüber dem ist, was sie tatsächlich getan haben, kritisch gegenüber dem ethnisch-territorialen Ansatz und der Appeasement-Politik?
Tahir Herenda: Die Mehrheit der internationalen Akteure, mit denen ich gesprochen habe, sagt, „das war das Beste, was wir unter den gegebenen Umständen tun konnten“. Aber wenn man Schwarz-Schilings[10] Buch „Der verspielte Frieden“ liest, findet man dort viel Kritik. Ich habe Paddy Ashtowns Buch gelesen, ich habe Carl Bildts Buch gelesen, ich habe mit Wolfgang Petritsch gesprochen, und es scheint, dass man sich, vielleicht nicht laut, aber doch insgeheim bewusst ist, dass manches hätte besser gemacht werden können, insbesondere seitens der internationalen Akteure. Es scheint große Uneinigkeit zwischen den USA und der EU darüber zu geben, wie es nun weitergehen soll.
Ich denke, es gibt Kritik, vielleicht keine offene Kritik, aber eine Art Akzeptanz dafür, dass in der Nachkriegszeit viele Fehler gemacht wurden, dass es in der Nachkriegszeit viele Chancen gab, die jetzt vielleicht für immer verloren sind. Die Rückkehr der Vertriebenen – 1996 und 1997 war die einzige Zeit, in der dies möglich war. Die Wiederherstellung dieser Multiethnizität Bosniens, mit mehreren multiethnischen Städten, war 1996 und 1997 möglich, aber 2002 ist das nicht mehr möglich, da die Menschen bereits ein neues Leben aufgebaut haben. Das wurde also eher zurückhaltend als verpasste Chance erwähnt. Es gibt einige sehr spezifische Kritikpunkte, aber eine übergreifende Kritik oder Selbstreflexion, in der man akzeptiert, dass „wir dies vielleicht durch diese ethnisch-nationalistische Brille vereinfacht haben, dass diese Gesellschaft mehr ist als diese drei simplen, sich gegenseitig ausschließenden Kategorien“, habe ich nicht gesehen. Professor Gro Nystuen, Rechtsberaterin von Carl Bildt in Dayton, sprach über die Wunderwaffe in Dayton, also die rechtliche Vorschrift in Dayton, die besagt, dass die EMRK, die Europäische Menschrechtskonvention, über anderen Gesetzen steht. Für sie war es meiner Meinung nach sehr wichtig, mir zu sagen, dass es sich um eine Notwendigkeit handelte, diese ethnischen Vetos und diese Ethnisierung der Verfassung akzeptiert zu haben, aber wir haben hier die Wunderwaffe eingesetzt, damit sich die Situation von selbst auflösen kann. 30 Jahre später sehen wir, dass die Kugel abgefeuert wurde, aber ihr Ziel nicht getroffen hat.
Es gibt keinen Westen – es gibt eine Kontinuität von Individuen.
Frage: Apropos Pragmatismus, Appeasement-Politik – sind das immer noch die Grundsätze für das Engagement in Bosnien und Herzegowina, oder haben die internationalen, westlichen Akteure ihre Herangehensweise geändert, etwas gelernt?Tahir Herenda: Es gibt keine westlichen oder internationalen Akteure. Es gibt eine Kontinuität verschiedener Personen, die hierherkommen und versuchen, eine Karriere aufzubauen, etwas zu tun, das sie ihrem Außenministerium oder wem auch immer als Erfolg präsentieren können. Was von 1992 bis 2025 gefehlt hat, ist ein strategischer Ansatz mit einem klar definierten Ziel und einem Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Das hat gefehlt. Der Westen hat meist nur reaktiv auf die Ereignisse in Bosnien reagiert. Es mangelte an einer langfristigen Vision und einem Konsens auf beiden Seiten des Atlantiks darüber, was zu tun ist und wie es zu tun ist, und ich glaube nicht, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird. Ich meine, Sie wissen ja alles über den aktuellen Ansatz der USA. Ich weiß nicht, was man dazu noch sagen soll. Aber auch die Europäer – die erbärmliche Stunde Europas ist noch nicht vorbei. Sie scheinen sich immer noch uneinig darüber zu sein, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Ich meine, die USA hatten zumindest Sanktionen gegen die größten Störenfriede des Dayton-Abkommens verhängt. Die Europäer sind nicht einmal dazu in der Lage. Der Westen hat also nichts gelernt. Es ist befreiend, das zu sagen, denn wir hier in Bosnien haben diesen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Westlern. Du gehst davon aus, dass sie unfehlbar sind, dass sie die Situation verstehen. Aber wenn man sich zum Beispiel ansieht, wie sie Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre mit Dodik umgegangen sind, wird klar, dass diese Leute keine Ahnung haben. Sie können die Entwicklungen nicht annähernd so gut vorhersagen, wie sie glauben.
Und vor allem unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von uns. Man hört ständig Kritik wie „diese Leute können sich auf nichts einigen“. Aber wenn man sich den April-Paket ansieht, dann können sie sich auch nicht auf alles einigen. Die Amerikaner, die Briten, die übrigen Europäer, die Hohe Repräsentant – sie alle scheinen eine Art seltsame Vereinbarung zur Machtteilung untereinander zu haben, und sie scheinen sich alle im Kreise zu drehen.
F: Sie haben den Mangel an Strategie von außen erwähnt – gibt es eine Vision für Bosnien und Herzegowina von innen?
Tahir Herenda: Von innen gibt es leider auch keine ... Wir haben drei verschiedene ethnische Echokammern, die jene Inhalte generieren, die von den Wählerschaften gewünscht werden. Ich denke, die Wahrheit ist, dass jede Veränderung für alle drei Parteien ein sehr teurer Kompromiss wäre. Und Kompromiss ist ein Schimpfwort. Man müsste seine Wählerschaft verraten und riskieren, die nächste Wahl zu verlieren, damit ein Kompromiss zustande kommt. Von innen gibt es also diese drei unterschiedlichen Narrative, die sich natürlich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig ausschließen. Es ist sehr schwer, optimistisch zu sein, dass sich von innen etwas tut. Ich denke, der Weg nach vorne besteht darin, sich verschiedene gespaltene Gesellschaften anzuschauen und aus ihren Fehlern oder ihren guten Erfahrungen zu lernen, wie man vorankommen kann. Leider ist dieser in Dayton erzielte Kompromiss so weit von den ursprünglichen Zielen aller Beteiligten entfernt, dass es schwierig ist, auf einer anderen Grundlage weiterzumachen, ohne dass dies als Verrat an einer der Seiten erscheint.
Der größte Verlust ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass wir diesen ethnisch gemischten öffentlichen Raum verloren haben. Wir haben diesen Marktplatz der Ideen verloren, der über ethnische Grenzen hinweg geschieht. Es gibt keinen ehrlichen und aufrichtigen Dialog mehr.
Das Interview führte Judith Brand, Journalistin und ehemalige Direktorin des Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo im Original auf Englisch.
[1] der Anteil der Territorien der beiden administrativen Einheiten Föderation und Republika Srpska
[2] Schwedischer Politiker, EU-Sondergesandter für das ehemalige Jugoslawien
[3] Der Friedensplan von Lissabon, der Anfang 1992 von Lord Carrington und Jose Cutileiro entworfen wurde und eine administrative Aufteilung der Gebiete innerhalb Bosnien-Herzegowinas nach ethnischen Gesichtspunkten vorsah
[4] Präsident der Republik Serbien
[5] Präsident der Föderation Bosnien und Herzegowinas, einer administrativen Einheit; bosnischer Kroate
[6] Präsident Kroatiens
[7] Französischer Staatspräsident
[8] Präsident Bosnien und Herzegowinas
[9] Präsident der Republika Srpska; vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als Kriegsverbrecher verurteilt
[10] Christian Schwarz-Schilling, Paddy Ashtown und Wolfgang Petritsch waren Hohe Repräsentanten, in im Dayton-Vertrag geschaffenes Amt zur Beaufsichtigung der Implementierung des Friedensabkommen
[2] Schwedischer Politiker, EU-Sondergesandter für das ehemalige Jugoslawien
[3] Der Friedensplan von Lissabon, der Anfang 1992 von Lord Carrington und Jose Cutileiro entworfen wurde und eine administrative Aufteilung der Gebiete innerhalb Bosnien-Herzegowinas nach ethnischen Gesichtspunkten vorsah
[4] Präsident der Republik Serbien
[5] Präsident der Föderation Bosnien und Herzegowinas, einer administrativen Einheit; bosnischer Kroate
[6] Präsident Kroatiens
[7] Französischer Staatspräsident
[8] Präsident Bosnien und Herzegowinas
[9] Präsident der Republika Srpska; vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als Kriegsverbrecher verurteilt
[10] Christian Schwarz-Schilling, Paddy Ashtown und Wolfgang Petritsch waren Hohe Repräsentanten, in im Dayton-Vertrag geschaffenes Amt zur Beaufsichtigung der Implementierung des Friedensabkommen