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Olivia Wenzel
1000 Serpentinen Angst

Die deutsche Autorin Olivia Wenzel.
© Juliane Werner

Ich merke auf einmal, dass ich Sehnsucht nach anderen Bildern habe. Olivia Wenzels preisgekrönter Roman 1000 Serpentinen Angst erzählt von langen Nächten in Berlin, rastlosen Reisen in die USA und nach Vietnam, von einem Herzen wie einem Automaten, Vergangenheitsbewältigung und dem Traum davon, sich in seiner Umwelt zu spiegeln.   
 

Von Ditte Hermansen

Tiefe Trauer, ein fataler Wahlabend in Manhattan, eine rastlose Reise nach Vietnam, Schlaflose Nächte in Berlin, eine Theatervorstellung über den Mauerfall, bei der man (wieder) die einzige Nicht-Weiße im Publikum ist. Seit ich denken kann, haben mich weiße Leute immer wieder gefragt, ob ich zu viel Kakao getrunken hätte – mal bösartig, mal ironisch, einmal flirtend.
So liest sich Olivia Wenzels (geb. 1985) Debütroman: konkret, gnadenlos – und dann wieder poppig und witzig in all dem Ernst.

Es ist ein Roman über Trauer, über den konkreten Verlust des Bruders der Protagonistin und den allmählichen Verlust des Vaters in Angola und der Mutter auf der nicht endenden Flucht vor den Traumata der DDR-Vergangenheit. DER SPIEGEL lobt Wenzel dafür, dass sie eine ganz neue Sprache für ihre Ich-Erzählerin gefunden habe, und dem kann ich mich nur anschließen. Wenzels Methode, ihre Protagonistin quasi aufzuspalten, macht die ganz besondere Energie des Romans aus. Mehr als die Hälfte von 1000 Serpentinen Angst besteht aus einem Dialog zwischen der Ich-Erzählerin und einer aufmüpfigen, provozierenden und widerspenstigen Stimme. Es gelingt nie ganz, den Dialogpartner der Erzählerin zu identifizieren. Ist sie der Chor der Gesellschaft? Eine Stimme in ihrem Kopf? Oder eine Antizipation der Gedanken der Leser*innen und somit eine Möglichkeit, immer einen Schritt voraus zu sein?  

Das Buch 1000 Serpentinen Angst liegt auf einem Bett, am linken unteren Bildrand ist eine Tasse Kaffee zu sehen. © Ditte Hermansen Ein solcher Einwurf der Stimme ist z. B. ein BITTE NICHT NOCH EINE GESCHICHTE MIT RASSISTISCHER POINTE mitten in eine emotionale Erinnerung der Ich-Erzählerin. Ein anderes Mal unterbricht sie sie mit einem Jaja, die Geschichte hast du schonmal erzählt. Sie foppen einander, die Ich-Erzählerin und die Stimme, und sie foppen die Leser*in. Wie eine Art erweiterter Konjunktiv, demzufolge alles hätte sein können, je nachdem, wen man fragt. Wie in diesem Dialog, nachdem die Erzählerin gerade von einem USA-Aufenthalt nach Berlin zurückgekommen ist:
WAS MACHST DU JETZT? Ich sortiere mich. Ich verliebe mich. Ich melde mein Onlinedatingprofil ab, mache Sport, trinke weniger Alkohol und schlafe besser. WIRKLICH? Nein.
 

Olivia Wenzel im Unterricht


Der Roman kehrt immer wieder zurück zum „Snackautomaten“ als Bild für Popkultur, Konsum und nicht zuletzt für die Selbstwahrnehmung der Ich-Erzählerin. Das Bild wird relativ konkret gezeichnet, etwa in Sätzen wie diesem: Trotzdem fange ich an, in meiner Tasche nach Kleingeld zu suchen. Und während ich noch überlege, ob Kokos oder Schwein – mein Zeigefinger reckt sich schon zu den Tasten –, geht es los.
Darüber hinaus lassen sich auch die langen Dialoge des Romans gut verwerten, die zum Großteil aus Alltagssprache bestehen und eine relativ niedrigen Lesbarkeitsindex haben.
Es bietet sich außerdem an, näher auf den Dialog zwischen der Ich-Erzählerin und der „Stimme“ einzugehen, sowie auf die gefühlsbetonten Passagen, in denen die Erzählerin mit ihrem toten Bruder spricht: Erinnerst du dich an meine Stimme? Nein. Reden Leute immer noch über mich? Nein.
 
Wenzel berührt in ihrem Roman viele aktuelle Themen, die sich gut in den Unterricht zu Großstadt, DDR, Reisen, Rassismus, Diversität und Integration einfügen. Sie ist außerdem Teil des Elektro-Duos OTiS FOULiE und verschiedener Performancegruppen und Theaterkollektive, sodass sich der Text auch mit Onlinevideos u. ä. kombinieren lässt.



 

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