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Ruth-Maria Thomas
Die schönste Version

Ruth-Maria Thomas
© Urban Zintel

Es sind die heißesten Tage des Jahres. Jella und Yannik genießen ihren letzten Urlaubstag und beobachten den Sonnenuntergang, der alles rosa färbt, „wie das Bier mit Himbeerbrause in unseren Gläsern“. Noch mit der Musik der schlechten Coverband im Ohr, die das Abendessen begleitete, spazieren sie runter zum See, um sich abzukühlen.

Von Florina Evers

TW: Sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt

Der Wald hinter uns dunkel, über uns Mond, alles silberfarben, alles todesschön. Wenn du ein Moment wärst, Jella, dann wärst du dieser, flüstert Yannik, und ich muss lachen, sage: Ach, du spinnst! Kann aber nicht aufhören zu lächeln, weil es mir so gefällt.
Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version. Rowohlt, 2024.

Mit dieser zuckerwattesüßen Szene beginnt Die schönste Version, der Debütroman von Ruth-Maria Thomas. Beim Lesen der ersten Seiten könnte man schnell denken, es handle sich um einen kitschigen Liebesroman, passend zum pastellfarbenen Cover. Doch das Cover zeigt auch einen Riss, durch den das Gesicht einer traurigen Frau zu erahnen ist. Dies deutet auf eine zweite, weniger schöne Wahrheit hin.

Über den "Riss" in Jellas und Yanniks Geschichte erfährt man bereits im ersten Kapitel, das auf der Polizeiwache einsetzt. Dort sitzt Jella, um einen Vorfall von häuslicher Gewalt zu melden. Sie antwortet mechanisch auf die Fragen des Beamten, denn auf viele hat sie selbst noch keine Antworten.

Und dann? (…) Was ist dann passiert? Ich schaue ihn an. Er hat mir die Hände um den Hals gelegt und mich gewürgt. Warum fragt er nach einem 'dann'? Der Kolibri in meiner Brust, meine gestorbene Alleswürde. Das ist dann, dann ist jetzt.
Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version: Rowohlt, 2024.

In den Tagen nach dem Übergriff versucht Jella, Antworten darauf zu finden, wie ihre Beziehung zur schlimmsten Version werden konnte. Sie blickt auf ihre Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt zurück, ihre ersten Freundschaften, Partys und Beziehungen, sowie auf den Anfang mit Yannick, den sie mit 21 kennenlernte. Es ist eine weibliche Coming-of-Age-Geschichte, die neben schönen Erlebnissen und zarten Momenten des Glücks auch Erfahrungen von Gewalt enthält.

Die Schuld liegt nie beim Opfer, sie liegt immer beim Täter

Die schönste Version © Florina Evers Alles beginnt mit den Blicken der Jungs und Männer, die Jella und ihre neue beste Freundin Shelly auf sich spüren, als sie in die Pubertät kommen. Eine neue Aufmerksamkeit, ein Wahrgenommen werden als "Frau", dem die beiden schon früh nacheifern. Heute würde man es den internalisierten "Male Gaze" nennen, eine Bezeichnung aus der feministischen Filmtheorie, der für einen männlichen, sexualisierenden Blick steht, und der inzwischen auch in jüngeren Generationen fester Bestandteil des Vokabulars im Diskurs über Sexismus ist. Ein Beispiel für das ständige Abarbeiten am männlichen Blick ist Jellas und Shellys Tradition an Regentagen, an denen sie ihre Kopfkissen aufs Fensterbrett legten, sich die Nägel lackierten, Erdbeereis mit Vanillezucker aßen – und das Fensterbrett zu ihrer Bühne machten:

Hier spielten wir in unserem selbst ausgedachten Film die Hauptrollen. Gingen Männer an unserem Fenster vorbei, stellten wir uns vor, was sie wohl von uns denken würden. Sicher fänden sie uns schön, wie wir da so anmutig saßen, unsere schlanken, nackten Beine im Schneidersitz verschränkt oder aus dem Fenster herausbaumelnd. Dass sie uns sicher begehrten, mit uns Sex haben wollten, weil wir so jung und schön waren.
Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version. Rowohlt, 2024.

Es wirkt wie ein extremes und vielleicht auch eingebildetes Verhalten, doch verdenken kann man es Jella und Shelly nicht, wuchsen sie doch in einer Zeit auf, in der Mädchen und Frauen von allen Seiten auf subtile und weniger subtile Art und Weise suggeriert wurde, dass es immer darum geht, dem heterosexuellen Mann zu gefallen. Es war die Zeit von Britney Spears, von BravoGirl und Mädchen, die Artikel brachten wie 10 Tipps, wie du attraktiver für deinen Schwarm wirst!, Das mögen Jungs wirklich an Mädchen!, So schaffst du es, dass er dich will! Doch der ständige Kampf ums Gefallen, ums Begehrt- und Gesehenwerden, führt auch bald dazu, dass Jella sich in Situationen wiederfindet, in denen Männer Grenzen mit ihr überschreiten, die nie hätten überschritten werden dürfen. Was bleibt ist Hilflosigkeit und die Frage der Schuld: Hätte sie deutlicher „Nein“ sagen sollen? War ihr Wegschubsen zu zaghaft, zu spielerisch? Und hatte sie das übergriffige Verhalten nicht auch provoziert mit ihrem kurzen Rock?

Ähnliche Fragen stellte sich Jella nach Yanniks Übergriff: Hatte sie ihn provoziert? War sie eine schlechte Freundin gewesen? Der Roman lässt diese Fragen unbeantwortet, aber durch das detaillierte Nacherzählen ihrer Beziehung versteht man, warum es Jella schwerfällt, ihren Freund anzuzeigen. Ist doch der Mann, der ihr die Hände um den Hals legte, der gleiche, der sie lächelnd mit Gebäck in der Pause ihres Bibliotheksjobs überraschte, nur um 20 Minuten Zeit mit ihr zu verbringen.

2024 verkündete das Bundeskriminalamt, dass die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt nahezu kontinuierlich ansteigen, in den letzten fünf Jahren um ganze 19,5 Prozent. Vor dem Hintergrund dieser traurigen Statistik gewinnt dieser, trotz seiner harten Thematik so zart und leichtfüßig geschriebene Roman, umso mehr an Relevanz. Denn während sich die erdrückenden Zahlen schwer fassen lassen, hat Ruth-Maria Thomas mit Die schönste Version eine Geschichte geschrieben, die greifbar macht, was am Ende immer gelten wird: Die Schuld liegt nie beim Opfer. Sie liegt immer beim Täter.

Ruth-Maria Thomas, 1993 geboren und in Cottbus aufgewachsen, war als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe tätig. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist Mitgründerin des erotischen Literaturmagazins Hot Topic!. 2022 war sie Finalistin des Open Mike Wettbewerbs. In ihren Texten, die u.a. im Rundfunk und in Literaturmagazinen erscheinen, beschäftigt sie sich immer wieder mit den Fallstricken weiblicher Sozialisation. Zuletzt erschien ihre Kurzgeschichte Glitzer in DAS GRAMM und wie ich frau bin bei SuKuLTuR.

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