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Digitale Mündigkeit

Digitale Mündigkeit
©Abier Megahed

Von Prof. Dr. Ludger Syré

Bibliotheken sind Bildungseinrichtungen, die der Versorgung mit Informationen aller Art dienen. Sie unterstützen Bildung und Wissenschaft und stellen ein breites Spektrum an Informationsdienstleistungen zur Förderung der sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung bereit. Sie ermöglichen damit allen Bürgern die Teilhabe an der Gesellschaft. Aus dieser Funktion leitet sich zugleich die besondere gesellschaftliche Verantwortung der Bibliotheken und der im Bibliothekswesen tätigen Menschen ab. Diese Verantwortung ergibt sich aus dem Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, wie es beispielsweise in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert ist; das Recht schließt, wie es in der Erklärung heißt, die Freiheit ein, „über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“
 
Das Grundrecht auf Informationsfreiheit kann allerdings nur derjenige tatsächlich in Anspruch nehmen, der über die hierzu erforderliche Kompetenz verfügt, und das ist insbesondere die Informationskompetenz mit allen ihr verwandten Kenntnissen und Fertigkeiten. Zum Recht auf Bildung, das Artikel 26 der UN-Menschenrechtserklärung jedem Menschen zuspricht, gehört durchaus auch die Informationskompetenz, der man daher den Rang eines Menschenrechts zuerkennen darf. Es reicht allerdings nicht aus, dass ein Staat seinen Bürgern diese Rechte nur formal, auf dem Papier zugesteht; er muss vielmehr auch die praktischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass seine Bürger eine realistische Chance haben, das Recht auf die Aneignung grundlegender Kulturtechniken wie Informations- oder Medienkompetenz umfassend wahrzunehmen. Die Menschen müssen vertraut gemacht werden mit den Eigenheiten digitaler Medien und elektronischer Kommunikationswege und sie müssen in die Lage versetzt werden, sich in dem scheinbar grenzenlosen Überangebot an digitalen Informationsquellen zurechtzufinden. Das schließt die Fähigkeiten ein, relevante, verlässliche und seriöse Internetquellen von fragwürdigen Netzangeboten zu unterscheiden, Prioritäten zu setzen und manipulative Absichten zu erkennen, die beispielsweise darauf zielen, den Kauf bestimmter Waren anzuregen oder politische Einstellungen zu beeinflussen.
 
Wer in diesem Sinne Medienangebote und Informationsquellen selbstgesteuert, kritisch und souverän nutzen kann, verfügt über eine wesentliche Voraussetzung zur digitalen Mündigkeit. Diese versetzt das Individuum in die Lage, an der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts auf politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Ebene teilzuhaben und mitzuwirken. Sie ermöglicht insbesondere, politische und ökonomische Entscheidungsprozesse zu verstehen und zu kontrollieren sowie an der politischen Willensbildung zu partizipieren. Digitale Mündigkeit ist freilich nicht allein Anspruch und Wunsch des einzelnen Menschen; auch der Staat braucht den digital mündigen Bürger, damit sich die Gesellschaft in ökonomischer und kultureller Hinsicht fortschrittlich entwickelt. Insbesondere gilt es die digitale Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden, die dann eintritt, wenn größere Schichten der Gesellschaft von der informationellen Autonomie und damit von der digitalen Mündigkeit ausgeschlossen bleiben.
 
Digitale Mündigkeit (engl. digital citizenship, auch digital sovereignty) beschreibt die Fähigkeiten, die man braucht, um sich konstruktiv, souverän und verantwortungsvoll im digitalen Raum zu bewegen. Digitale Räume sind virtuelle Stätten der Begegnung und des Austausches und umfassen neben dem Medium des World Wide Web ganz besonders auch alle Kanäle der sozialen Netzwerke, also des Web 2.0. Ganz allgemein betrachtet, bezeichnet der Begriff der Mündigkeit das Vermögen des einzelnen Menschen zur Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Urteilsfähigkeit, wodurch er einen Zustand der Unabhängigkeit erreicht. Mündig ist derjenige, der ohne fremde Hilfe, ohne äußere Einflüsse, selbst denkt, der, wie es der deutsche Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant formuliert hat, den Mut besitzt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Moderne Staaten setzen auf den politisch mündigen Bürger; das ist jener, der Verantwortung übernimmt: für sich selbst, für sein eigenes Leben und Handeln, aber auch für das Gemeinwohl, für Staat und Gesellschaft. Mündigkeit ist nämlich, ganz im Sinne Kants, nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziales Phänomen.
 
Der digital mündige Bürger verbindet die erworbenen Fertigkeiten und Techniken der Informations- und Medienkompetenz mit dem kritischen und selbstkritischen Umgang mit allen ihm zur Verfügung stehenden Medienarten und Technikgeräten. Wer in virtuellen Räumen unterwegs ist, lässt sich unvermeidlich auf Risiken und Nebenwirkungen ein; das darf allerdings keinesfalls ausschließen, sich dieser Risiken bewusst zu sein und sie einschätzen zu können. Digitales Handeln sollte stets reflektiert werden; das bedeutet etwa, persönliche Daten nicht gedankenlos herauszugeben oder auf intransparenten Speichern abzulegen. Auch die Wahrung des geistigen Eigentums anderer gemäß den Bestimmungen des Urheberrechts (Vermeidung von Plagiaten) gehört in diesen Zusammenhang.
 
Zur digitalen Mündigkeit gehört zwingend auch eine ethische Komponente. Wer sich in sozialen Netzwerken bewegt, hat die Folgen seiner digitalen Handlungen zu bedenken, darf niemandem Schaden oder Nachteile zufügen, hat den Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre, also beispielsweise das Recht Dritter am eigenen Bild, zu respektieren. Digitale Mündigkeit oder Souveränität bedeutet zudem, sich nicht den Regeln und Vorgaben von Diensten hilflos auszusetzen, sondern selbst die Kontrolle zu behalten, was freilich voraussetzt, digitale Technologien zu verstehen und zu beherrschen und informierte Entscheidungen zu treffen. Wer gedankenlos seine digitale Souveränität an globale Anbieter wie Google, Facebook und Co. abgibt, verliert seine digitale Mündigkeit.
 
Den Menschen digital mündig zu machen, ist eine Aufgabe aller Bildungsinstitutionen, von der Schule bis zur Erwachsenenbildung und insoweit auch der Bibliotheken. Die Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz, die die Bibliotheken seit vielen Jahren engagiert anbieten, darf sich aus den genannten Gründen nicht in Recherchestrategien und Suchtechniken erschöpfen; sie muss auch die digitale Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit und Urteilsfähigkeit als Lernziele in ihre Schulungsangebote einschließen. Sozialkompetenzen wie diese müssen vermittelt werden, denn sie werden gerade auch im digitalen Raum dringend benötigt. Speziell im Zeitalter des Smartphones ist Netzaufklärung zu einer Herausforderung geworden, der sich die Bibliotheken nicht verschließen können. Der informationstechnologischen Entwicklung muss mit digitaler Mündigkeit begegnet werden. Sie ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass der Mensch befähigt bleibt, die Kontrolle über alle ihn betreffenden Daten zu behalten. Dabei geht die Gefahr des Kontrollverlusts freilich weniger von den Maschinen aus als von staatlichen Instanzen und globalen Playern, etwa den großen Internetkonzernen.

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