Beispiele für den wirtschaftlichen Alltag in Oberägypten

Markt in Kairo
Foto: Goethe-Institut/Bernhard Ludewig

Wie lässt sich eine Gesellschaft charakterisieren, in der der Alltag und die Wahlmöglichkeiten der Mitglieder von Faktoren wie etwa dem internationalen Zucker- und Weizenpreis, der fluktuierenden Politik des Staates, den strengen kulturellen Kodexen der Reziprozität und des Wohlergehens und den Verpflichtungen gegenüber Nachbarn, Verwandten und Freunden bestimmt sind? 

Austauschbeziehungen, einschließlich des Handels, sind ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, und deren Umsetzung ist in verschiedenen Aspekten der sozialen Organisation eingebettet. Austausch- und Handelsbeziehungen in diesem Sinne lassen den Berührungspunkt zwischen Kultur und Wirtschaft, Dorf und Stadt, aber auch Produktion und Konsum erkennen.  
Austausch ist ein klassisches anthropologisches Anliegen; die Bedeutung zeigt sich hier im Verhältnis von Austauschmustern und der Wirtschaft.
Die Art und Weise, in der die ausgeprägten kulturellen Merkmale, die traditionellen Strukturen und Institutionen mit den Kräften der Moderne, dem Marktkapitalismus und der Liberalisierungspolitik artikulieren, beeinflussen den Transformationsprozess und verleihen ihm seine besondere Form. Die Beispiele in diesem Artikel beziehen sich auf verschiedene Teile der Qena-Aswan-Region in Oberägypten.

„Dukkan“/ „Der Hausladen“

Der Dukkan (ein kleines Lebensmittelgeschäft) verkauft grundlegende Dinge, wie Tee, Zucker, Öl, Reis, Makkaroni, Konserven, Seifen und Reinigungsmittel oder auch Süßigkeiten. Der Dukkan und seine eher bescheidene Variante, „der kleine Hausladen“, sind wohl die offensichtlichsten und meist verbreiteten Formen der Handelstätigkeit im Dorf.

Der Dukkan und seine Umgebung sind Orte der Geselligkeit. Die zuständige Person für den Verkauf ist selten allein, vielmehr ist sie in der Regel in der Gesellschaft von mindestens einem Freund oder Verwandten, der ihr Gesellschaft leistet. Es ist ein halböffentlicher Ort, wo Menschen aus dem Dorf aufeinander zukommen und gelegentlich stehen bleiben, um einen kleinen Plausch mit dem Besitzer oder miteinander zu halten. 

Neben dem Dukkan betreibt eine auffallend große Anzahl von Haushalten ein Mikrounternehmen (den Hausladen), indem sie zu Hause das gleiche Warenangebot wie im Dukkan einlagern. Die Kunden sind immer Nachbarn, die meistens zugleich nahe Verwandte sind, in Anbetracht des auf Verwandtschaft basierenden Wohnmusters. Diese Unternehmen werden vor allem von Frauen betrieben, und ihre Kunden sind meistens Frauen und Kinder. Durch ihren Mikromaßstab und die flexible Arbeitsweise sind solche Unternehmen besonders erfolgreiche Überlebensstrategien für Familien mit niedrigem Einkommen.

Aziza

Aziza ist jemand, der höchstwahrscheinlich in allen offiziellen Statistiken als „Hausfrau“ kategorisiert wird. Diese Beschreibung ist nicht falsch, wenn auch sicherlich unvollständig. Aziza lebt mit ihrem unverheirateten Sohn, ihren zwei unverheirateten Töchtern und ihrer geschiedenen Tochter und deren kleinem Kind, und ihr Haus befindet sich in der Nähe vom Haus ihrer verheirateten Tochter und deren drei Kindern. Ihr kürzlich verstorbener Mann war ein kleiner Angestellter einer Regierungsbehörde in Luxor. Zu ihrem täglichen Leben gehört die regelmäßige Rolle der oberägyptischen Matriarchin, die Überwachung der Haushalte und der Umgang mit den Problemen ihrer Kinder und Enkelkinder. Darüber hinaus ist sie de facto Entscheidungsträgerin und Organisatorin von Familienveranstaltungen wie bspw. Ehe, Scheidung und von wichtigen Anschaffungen.

Gleichzeitig betreibt Aziza einen florierenden Handel von zu Hause. Sie handelt regelmäßig mit Waren wie Bodenmatten, Decken und leichten Elektrogeräten, vor allem Ventilatoren. Gelegentlich handelt sie auch mit wesentlichen Gegenständen wie u. a. Kühlschränken, Fernsehgeräten, Herden und Waschmaschinen. Folgendes ermöglichte Aziza das Geschäft:

  1. Ein weites Dorfnetzwerk von Verwandten, Nachbarn und Freunden sowie auch ihre attraktive und gesellige Persönlichkeit.
  2. Des Weiteren ist sie aktiv bei der Organisation und Durchführung sogenannter rotierender Sparverbände (gam’iyya), wodurch ihr Ruf als zuverlässige und finanziell leistungsfähige Person etabliert wurde. Ausgehend von ihren Kontakten im Dorf, konnte sie Bekanntschaften mit mehreren Händlern und Lieferanten in Luxor Stadt anknüpfen.
  3. Aufgrund der Arbeit ihres Ehemannes hatte sie Zugang zu mehreren Darlehensprogrammen für Staatsangestellte, neben ihrem geschickten Zugriff auf die verschiedenen Bankdarlehen sowie auf die von Entwicklungsagenturen gewährten Darlehen, vor allem die zinsverbilligten Darlehen für Frauen.
Aziza würde man am besten als Vermittlerin beschreiben. Für die Dorfbewohner ist sie attraktiv, weil ihre Kunden ihr in Raten zahlen. Für die Händler in Luxor ist sie attraktiv, weil sie diese mit ihnen unzugänglichen Kunden verbindet.

Ein Beispiel für eine Transaktion ist der Verkauf eines Ventilators. Sie „kauft“ den Ventilator, sagen wir mal, für 50 Pfund von den Händlern in Luxor ein und verkauft ihn den Bewohnern im Dorf für 90 Pfund. Sie nimmt 20 Pfund im Voraus und den Rest dann als Ratenzahlung in Höhe von 10 Pfund über sieben Monate.

Als ich sie fragte, wieso die Menschen diese Bedingungen akzeptieren, lautete die (offensichtliche) Antwort, dass niemand Geld genug habe, bar zu bezahlen.

Alle Geschäfte zwischen ihr und beiden, den Käufern und Händlern, basieren auf Vertrauen und der Angst, beschämt zu werden. Bei all diesen Transaktionen gibt es keine schriftlichen Unterlagen.

Der Fall von Aziza, neben anderen ähnlichen Fällen, ist Beispiel für die Verbindung zwischen dem expandierenden Marktkapitalismus einerseits und den traditionellen Strukturen und Institutionen andererseits.

Azizas Handel ist ein deutliches Beispiel für das Eindringen der marktkapitalistischen Institutionen und Werte ins ländliche Leben. Jedoch ist es ebenso wichtig, dass der Gewinn ihres Handels zunächst in dem traditionellen und zuverlässigsten Finanzinstitut (dem gam’iyya) geleitet wird, bevor dieser nützlich werden kann.

Außerdem sind Vertrauen und Scham entscheidende kulturelle Elemente für das Betreiben aller Transaktionen des Kreditverkaufssystems im Dorf. Gleicherweise garantieren tief verwurzelte kulturelle Werte und Praktiken die Ratenzahlung.

Als nach der Sache mit der Garantie gefragt wurde, erzählte mir ein Mann aus dem Dorf Folgendes:

Angenommen, ich stelle dem Verkäufer jemanden vor, der kaufen möchte. Dieser nimmt das Gerät, zahlt aber nicht pünktlich. Daraufhin würde der Verkäufer sich an mich wenden, woraufhin ich mein Kind dem Einkäufer schicken würde. Ein Kind zu schicken, um jemanden an seine Schulden zu erinnern, wäre so was von skandalös. Jeder würde erfahren, warum das Kind zu ihm gekommen ist. Das ist sehr beschämend, und die Leute würden versuchen, diese Situation um jeden Preis zu vermeiden.

Diskurs über den Wandel der Zeiten:

Die Menschen betrachten die Ausbreitung der Verschuldung als ein neues Phänomen, denn „es ist beschämend, verschuldet zu sein“ gehört eher der Vergangenheit an. Merkwürdig ist, dass obwohl irgendeine Verschuldung eine alltägliche Tatsache des Lebens für fast alle im Dorf ist, es immer noch unbehaglich ist, Schulden zu haben.

Die Angst davor, beschämt zu werden, sollte ein Kind geschickt werden, um jemanden daran zu erinnern, seine / ihre Schulden zu bezahlen sind, ergibt sich teilweise aus der Ankündigung, dass diese Person verschuldet ist, und daraus, dass diese Person mit der Zahlung in Verzug geraten ist.

Abgesehen von informellen Darlehen und anderen Finanzgeschäften auf der Dorfebene, sind die für die Kleinunternehmen gedachten staatlich geförderten Darlehensprogramme heutzutage weit verbreitet im ganzen ländlichen Ägypten. Im Allgemeinen zielen solche Projekte darauf ab, das Engagement für die produktive Tätigkeit zu fördern, die zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen führen würde. Aufgrund der Umstände der wirtschaftlichen Not ist dieses Ideal nicht immer realisiert, solange die Nutznießer weiterhin Wege für die Aufnahme von Darlehen finden, um die unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen, anstatt sie für die beabsichtigten Zwecke aufzunehmen.

Lassen Sie mich die Diskussion vorerst mit dieser Frage abschließen: Wenn die Kräfte des Marktkapitalismus die Existenzsicherung und die sozialen Beziehungen im Dorf in diesem Ausmaß prägen, wie weit reicht dann der Einfluss solcher Kräfte auf das Leben der Bürger in „der Großstadt“?
 

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