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Nachdenken über die Residenzzeit
Grüße aus Gáregasnjárga

Sunna und die Schneeburg, 1997.
Sunna und die Schneeburg, 1997. | Foto (Detail): privat

Residenzen sind wesentliche Bestandteile des Projekts The Right to Be Cold*. In diesem Beitrag berichtet Sunna Nousuniemi, die die Residenz-Teilnehmerin Marie-Andrée Gill beherbergt hat, wie diese Erfahrung sie dem Land ihrer Vorfahren noch nähergebracht hat.

Von Sunna Nousuniemi

Als ich anfing, diesen Text zu schreiben – im Original auf Nordsamisch –, kam ich ins Grübeln: Wie, um alles in der Welt, könnte ich „Residenz” auf Samisch umschreiben? Ich wüsste nicht, wie ich das Konzept, das aus der westlichen Kunstwelt stammt, übersetzen sollte. Anstatt also zu versuchen, das fremde Konzept in den samischen Kontext zu übersetzen, versuche ich mir vorzustellen, was unser praktischer und philosophischer samischer Ausgangspunkt für die Residenz in Gáregasnjárga sein könnte. Meinen Teil der Reise will ich hier mit Ihnen teilen.

Erste Ideen keimen

Juli 2018. Ich leiste meiner Freundin Gesellschaft, die am Fluss Nukkumajoki in Anár Blumen pflückt. Es ist der heißeste Sommer seit langem. Wir diskutieren über den Zustand der Welt und träumen gemeinsam davon, wie wir in unserer Gemeinschaft etwas Gutes bewirken können. Wenn es doch nur einen Ort gäbe, an dem die Menschen zusammenkommen und kreativ sein könnten, sehnen wir uns. Erstaunt unterhalten wir uns über die Pläne, ein weiteres Hotel in unserem Dorf zu bauen, obwohl wir bereits mehrere Hotels haben, während Wohnungen für die Einheimischen Mangelware sind. Meine Freundin erwähnt, dass sie das schon einmal erlebt hat: die Entstehung von Feriendörfern in den 90er-Jahren, die Rezession, leere und schließlich verlassene Feriendörfer. Meine Freundin sagt, dass es wieder passieren wird – beim nächsten Mal sind es die Luxushotels, die leer stehen.

Während wir weiter Blumen pflücken, erwähne ich, dass meine Familie ein altes Feriendorf auf dem Land unserer Vorfahren hat, aber ich habe nur noch wenig Kontakt zu diesem Ort. Meine Freundin schaut mich aufgeregt an und wartet darauf, dass ich es begreife. In diesem Moment wurde ein Traum lebendig, der auch den zentralen Punkt dieser Geschichte zeigt – die besten Erleuchtungen finden statt, wenn man gemeinsam auf dem Land ist.

Pflege unserer Beziehungen

November 2019. Das Goethe-Institut hat mich eingeladen, mit einer Gruppe von zirkumpolaren Kulturschaffenden, Aktivist*innen, Forscher*innen und Künstler*innen in Helsinki das Residenzprojekt „The Right to Be Cold*“ zu diskutieren. Ich nehme die Einladung an und rufe gleich einen örtlichen Rentierzüchter an, um geräucherte Rentierrippchen zu kaufen, die ich zu diesem Treffen mitbringen möchte.

Aka Niviâna, Sunna Nousuniemi, Asinnajaq und Dine Arnannguaq Fenger Lynge essen Rentierrippchen und bereiten sich auf den zweiten Tag des Treffens von „The Right to Be Cold*“ in Helsinki vor. Rentierrippchen zum Frühstück. Von links: Aka Niviâna, Sunna Nousuniemi, Asinnajaq und Dine Arnannguaq Fenger Lynge essen Rentierrippchen und bereiten sich auf den zweiten Tag des Treffens von „The Right to Be Cold*“ in Helsinki vor. | © privat November 2020. Dáiddadállu, das samische Kunstkollektiv aus Guovdageaidnu, organisiert den interdisziplinären Event „EadnámetMaid”, sowohl vor Ort in Áltá als auch digital, um die Gewalt gegen unsere Mutter – das Land – zu diskutieren.

„EadnámetMaid” war eine Fortsetzung des „SápmiToo 2019”-Events, der einen Dialog über Geschlechterrollen und #MeToo in Sápmi anstieß. Ich möchte betonen, dass Dáiddadállu ein großartiges Beispiel für Selbstverwaltung gegeben hat: wie man als Kollektiv die Führung übernehmen kann, um der samischen Gesellschaft durch Kunst und Diskussion neue Wege zu ebnen.

Aber zurück zum Thema. Im digitalen Format von „EadnámetMaid” hielt die sámische Künstlerin und Duojár Jenni Laiti eine grundlegende Rede über Eallit olmmožin (Als Mensch leben) und stellte praktische Werkzeuge vor – einer der Ansätze ist das sámische Konzept dikšut oktavuođaid – um inmitten all des Chaos einen Sinn zu finden:

„Zusammenarbeit und funktionierende soziale Netzwerke sind die Begriffe für Bewältigung und Durchhaltevermögen, in der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft. In letzter Zeit habe ich einen Sinn in der Pflege von Beziehungen gefunden, ich habe meine Beziehungen gepflegt. Es geht darum, Respekt zu zeigen, Beziehungen sind eine Verantwortung und sie sind lokal.“

Nachdem ich Jennis Rede gehört hatte, fühlte ich mich, als hätte man mir einen verlorenen Schlüsselbund zurückgegeben und mein Denken neu ausgerichtet, sodass ich mich frage, wann und wo ich gelernt habe, von Sicherheit zu träumen und mich in der Pflege von Beziehungen zu üben? Meine Gedanken führen mich zurück in meine Kindheit, als meine Freunde und ich uns beim Spielen im traumhaften Fluss verloren und alle Arten von Burgen, Nestern und Höhlen im Wald, zwischen Felsen, im Schnee, im Heu und im Wasser bauten. Ich weiß noch, wie besonders es war, wenn wir ein Nest fanden, das jemand anderes gebaut hatte – es fühlte sich an, als ob wir auf etwas Heiliges gestoßen wären. Einmal hatte ich die Gelegenheit, ein Nest zu besuchen, das mein großer Bruder und seine Freunde in ihrer Kindheit in unserem Wald gebaut hatten. Es war aufregend, sich vorzustellen, was sie mit diesem Nest vorhatten – was waren ihre Träume? Hat dieser Ort bei ihnen die Glücksgefühle entfacht, während der Rest der Welt verblasste?

Wessen Träume träumen wir jetzt?

Liebe zurückgewinnen

Wie Jenni betonte, ist der Aufbau, die Wiederherstellung und das Instandsetzen von Beziehungen ein wesentlicher Aspekt der samischen Wissenssysteme sowie der Dekolonialisierung. Ähnliche Themen werden in der Podcast-Episode „All My Loving Relations“ erörtert: Für Indigene Völker ist die Stärkung all unserer menschlichen, natürlichen und unsichtbaren Beziehungen seit jeher wichtig. Diese Lehr- und Lebensweisen wurde jedoch von der Kolonialisierung vereinnahmt, die „unsere Liebesbeziehungen zerstörte und unser kulturelles Gedächtnis zerstörte“, so Desi Small Rodriguez im Podcast, eine Soziologin, die der Northern Cheynne Nation und Chicana angehört.
 
Das obige Zitat hat mir geholfen, in Worte zu fassen, was eine Residenz im sámischen Kontext oder zumindest in meinem persönlichen Umfeld sein könnte. Es ist ein Raum, in dem man sich an die Liebe erinnert und sie zurückgewinnt, in dem man sich in Selbstverwaltung übt und Freundschaften schließt. Es ist eine generationenübergreifende, wechselseitige Anstrengung, die mit dem Land verbunden ist: Mein Onkel hält den Ort am Leben, indem er einfach in der Gegend lebt, im Fluss fischt und eine Reihe anderer wichtiger Arbeiten in der Gemeinschaft erledigt. Mein Vater schreibt Geschichten über unsere Verwandten und vergangene Ereignisse in Gáregasnjárga – er leitete auch die große Aufräumaktion der Residenz-Anlage, während die Familie meines Onkels und ich bei den Reinigungsarbeiten halfen. Meine kleine Cousine Laura hat unzählige Stunden damit verbracht, die Joiks unserer Verwandten wiederzubeleben. Sie und so viele andere haben diese Gemeinschaft „gewebt“.

Marie-Andrée am Fluss Anárjohka in Gáregasnjárga Marie-Andrée am Fluss Anárjohka in Gáregasnjárga. Am ersten Tag machten wir einen ruhigen Spaziergang über das Land, um die Geschichten der jeweils anderen kennenzulernen. | © privat Als Marie-Andrée im November 2021 zwei Wochen mit mir in der TRTBC-Residenz verbrachte, fühlte ich mich nicht wie eine Gastgeberin, sondern eher wie eine Vermittlerin des Ortes, die so viel Wissen und Bräuche in sich trägt, die viel älter sind als ich selbst. Während unserer gemeinsamen Zeit haben Marie-Andrée und ich uns gegenseitig Filme aus unseren Gemeinschaften gezeigt und meiner kleinen Cousine zugehört, wie sie meinen Stammbaum im Joik vortrug. Wir hörten uns diese Lieder und Familiengeschichten an, während wir Perlenstickereien herstellten und Orte auf dem Land besuchten – es fühlte sich an, als würden die Erinnerungen meiner Vorfahren noch präsenter werden. Ich kochte Gerichte, die meine verstorbene Großmutter, áhkorohkki, zuzubereiten pflegte – im Gegenzug machte Marie-Andrée für uns die Delikatesse Poutine aus Quebec. Es fühlte sich an, als würden während dieses Residenz-Aufenthalts längst verlorene Verwandte wieder zum Leben erweckt. Es wurde zu einem Raum, in dem alles Lebendige, Menschliche, Natürliche und Unsichtbare zusammenkam, um zu feiern. 

Schlusswort

Seit meiner Kindheit habe ich zusammen mit meinen Freund*innen von eigenen Welten und Wirklichkeiten geträumt, sie mir vorgestellt und sie auf der Grundlage unserer Vorstellungskraft gebaut. Selbst wenn es nur ein vorübergehend konstruierter spielerischer Raum war, wie die Schneehöhle, die mit dem Frühling wegschmolz, boten diese Momente Raum für alternative Realitäten. Ich spüre noch immer die Wärme der Schneehöhle, in der ich auf einem Rentierfell lag und in der frostigen Nacht mit einem lieben Freund neben mir die Sterne beobachtete. Diese relativ kurzen Momente werden immer von besonderer Bedeutung sein.

Tshinashkumitin – giitos eatnat – danke, Marie-Andrée, dass ich mit Dir meine Verbindung zum Land meiner Vorfahren stärken konnte.




Dieser Text wurde durch die Arbeit und Diskussionen der folgenden Personen und Kollektive inspiriert:

Piia Kangas
Dáiddadállu Artist Collective – EadnámetMaid 2020
Jenni Laiti – Eallit olmmožin, 2020
All My Relations podcast – All My Loving Relations von Desi Small Rodriguez, Matika Wilbur und Adrienne Keene
Marie-Andrée Gill
Niillasaččat

 

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